Österreich gilt traditionell als katholisches Land, aber wie in allen entwickelten Demokratien und dem Rest Europas trennen sich Jahr für Jahr viele Menschen von der organisierten Religion. Offizielle Zahlen über die Zugehörigkeit zu Religionsgemeinschaften sind schwer zu bekommen, und sie werden dort, wo man sie erwarten würde, konfus kommuniziert. Dabei gehören spätestens seit 2023 mindestens 30 Prozent der Bevölkerung nicht mehr einer Religionsgemeinschaft an, sind also konfessionsfrei. Staatliche Stellen kommunizieren diese Tatsache jedoch verwirrend bis falsch.
Wie wird man in Österreich Mitglied einer Religionsgesellschaft?
Zwei Gesetze aus dem 19. Jahrhundert (der Zeit der Österreich-Ungarischen Monarchie unter Kaiser Franz Joseph) regeln die Zugehörigkeit zu Religionsgemeinschaften. Das Gesetz "betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften" erklärt in Paragraph 3: "Die Erfordernisse der Zugehörigkeit und die Art des Beitrittes zu einer anerkannten Religionsgesellschaft werden durch deren Verfassung bestimmt." Es ist also nicht etwa die Person, die sich zu einer Religionsgemeinschaft "bekennt", sondern die Gemeinschaft erklärt sie nach ihren eigenen Regeln zum Mitglied. Das kommt natürlich jenen Kirchen sehr gelegen, die die Taufe von Säuglingen als für immer gültigen Beitritt zu ihrer Gemeinschaft betrachten und die konkrete Meinung der "Mitglieder" hierfür nicht als relevant ansehen.
Das Gesetz, das die "interconfessionellen Verhältnisse" regelt, erklärt noch, dass die Religion der Kinder jener der Eltern folgt, bei gemischter Ehe bekommen die Töchter die Religionsangehörigkeit der Mutter und die Söhne die des Vaters. Die eigene Meinung zählt auch hier erst einmal nicht.
Natürlich schließt diese Konstellation von Gesetzen nicht aus, dass zwei Religionsgesellschaften gleichzeitig der Meinung sind, eine Person sei ihr Mitglied: Wird etwa der Sohn eines orthodoxen Vaters römisch-katholisch getauft, können beide betroffenen Religionsgesellschaften mit Recht der Meinung sein, das Kind sei ihr Mitglied. Eigenerklärungen von Religionsgesellschaften über den Stand ihrer Mitglieder sind mit diesem Hintergrundwissen zu betrachten.
Es ist ab Erreichung des "religionsmündigen" Alters – also ab 14 Jahren – möglich, aus einer Religionsgesellschaft selbst auszutreten (Eltern können den Austritt ihrer jüngeren Kinder erklären). Dieser Austritt ist für die meisten Menschen jedoch nur dann relevant, wenn man damit der Zahlung von Kirchenbeiträgen entgeht. Es gibt also fast nur Austritte aus Religionsgemeinschaften, die einen solchen Beitrag einheben. Jemand, der von Geburt an etwa als christlich-orthodox geführt wird, sieht nicht unbedingt eine Notwendigkeit darin, auszutreten. Damit wissen wir nur bei einigen Religionsgemeinschaften überhaupt, dass Leute sie verlassen – obwohl das laufend passiert oder die "Mitgliedschaft" sich nie in Handlungen oder einem aktiven Bekenntnis ausgedrückt hat.
Datenquellen
In Österreich ist das Kultusamt im Bundeskanzleramt für Belange der Religion wie die Anerkennung der Religionsgesellschaften zuständig. Es publiziert auch von Zeit zu Zeit die Broschüre "Religionen in Österreich". In der neuesten Ausgabe mit der Angabe "Wien, 2023" vom Anfang des laufenden Jahres finden wir auf Seite 64 eine Tabelle "Anzahl der Mitglieder der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften in Österreich".
Dort erklärt die erste Fußnote, dass die Zahlen auf offiziellen Meldungen bzw. Eigenangaben der Religionsgesellschaften basieren sowie auf Erhebungen der Statistik Austria im Zeitraum 2021/2022. Die Angabe mit dem "Anteil der Bevölkerung, der sich zu einer Glaubensgemeinschaft bekennt", hat es in sich: Macht man sich die Mühe und zählt die Zahlen der Religionsgesellschaften zusammen und dividiert diese Summe durch die Gesamtbevölkerung, kommen nämlich nur 70 Prozent aus. Aus dieser Broschüre erfährt man nicht, woher die recht große Differenz zwischen mehr als 77 Prozent und 70 Prozent stammt.
Die zitierte Aussage findet man bei der Statistik Austria, die eine freiwillige Erhebung 2021 an einem zufällig ausgewählten kleinen Teil der Wohnbevölkerung durchgeführt hat. Dabei konnte eine erwachsene Person im Haushalt die Religionszugehörigkeit für andere bekanntgeben, wenn die nicht verfügbar waren. ("Natürlich ist unsere Tochter, die in Wien Politikwissenschaft studiert, katholisch!")
Die Ergebnisse sind verfügbar, sie erwecken nur kein besonderes Vertrauen. Schaut man sich nämlich die genaueren Details an, findet man, dass mehr als 5 Prozent der Antwortenden unter "Andere Religion, Konfession oder Glaubensgemeinschaft" eingeordnet sind. Dies ist das Sechsfache des zum Vergleich angeführten letzten Volkszählungsergebnisses und beinhaltet auch "Ich weiß nicht" sowie "Keine Angabe". Ein Bekenntnis, das man nicht weiß oder bei dem man nicht bereit ist, sich dazu zu bekennen, sollte zumindest als solches ausgewiesen werden.
"Andere" beinhaltet sonst jene Religionsgesellschaften, die nicht römisch-katholisch, evangelisch, orthodox, islamisch-alevitisch oder israelitisch sind – insgesamt kaum 1 Prozent der Bevölkerung, aber hier fünffach aufgewertet.
Dort, wo offizielle Zahlen der Religionsgesellschaften bekannt sind, sind die Angaben aus der Erhebung im Vergleich teilweise stark überhöht. Für die evangelischen Religionsgemeinschaften weist die Erhebung 3,8 Prozent Bevölkerungsanteil aus – im Jahr 2021 waren aber 3,0 Prozent der Bevölkerung Mitglied der evangelischen Kirchen. Für Wien gibt die Erhebung 40 Prozent als römisch-katholischen Bevölkerungsanteil an, in den offiziellen Zahlen dieser Kirche sind es aber nur 30 Prozent. Wo immer man hinschaut, sind extern überprüfbare Zahlen überschätzt.
Zur Erinnerung: Die Gesetze regeln, wie die Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft entsteht und zu Ende geht. Eine Befragung kann also nur einen ungefähren Anhaltspunkt liefern und überschätzt die bekannt richtigen Zahlen.
Dies weiß auch das Kultusamt und führt in der Tabelle die offiziellen Zahlen jener Religionsgesellschaften an, die diese erheben und publizieren. Diese Daten haben auch den Vorteil, dass sie jährlich veröffentlicht werden, während die Erhebung deutlich seltener stattfindet. Nur zwei Zahlen in der ganzen Tabelle stammen überhaupt aus der Statistik-Austria-Erhebung. Die schon in sich problematische Statistik-Austria-Aussage unter die Tabelle zu schreiben, statt die Zahlen zusammenzurechnen und mit der Bevölkerungszahl in Relation zu setzen, ist ein sehr fragwürdiges Vorgehen.
Leider wird in den Medien die mindestens verwirrende, aber eher falsche Angabe mit "77,6 Prozent bekennen sich" ohne weitere Recherchen verbreitet, selbst dann, wenn sie im Jahr 2023 darüber berichten, wie viele Menschen seit der Erhebung etwa die römisch-katholische Kirche verlassen haben. In der Broschüre des Kultusamtes aus dem Jahr 2020 stand übrigens, dass etwa 75 Prozent zu einer Religionsgemeinschaft gehören – wären die 77,6 Prozent wahr, wäre Österreich wohl das einzige Land in West- und Mitteleuropa gewesen, in dem zwischen 2020 und 2023 der Anteil der Religiösen gestiegen wäre.
Es ist dringend notwendig, eine Ressource zu haben, die jährlich aktualisiert wird und jeweils die aktuellsten und bestmöglichen Zahlen mit Quellenangaben sammelt und fortführt. Verantwortungsbewusste Medien sollten nicht ungeprüft die inkonsistente Angabe des Kultusamtes oder die veraltete und intransparent entstandene Zahl der Statistik Austria übernehmen, sondern auf Daten mit Quellenangabe und der Möglichkeit, selbst nachzuprüfen, zurückgreifen können.
Berechnung der Zahl der Konfessionsfreien
Was wäre also ein möglichst zuverlässiger Ansatz, die Anzahl und den Anteil der Konfessionsfreien in Österreich zu ermitteln?
Die Atheisten Österreich führen eine regelmäßig aktualisierte Seite, die eben das leistet. Natürlich könnte man hier Eigenmotivation unterstellen, deswegen ist maximale Transparenz bei den Quellen und den Methoden erforderlich. Das Ziel des Vorgehens ist, keinesfalls einen zu hohen Anteil der Konfessionsfreien auszuweisen. Für jede Religionsgemeinschaft wird die größte belegte oder offiziell angegebene Zahl verwendet – auch wenn sie tendenziell zu hoch sein kann. Es steht anderen frei, andere Zahlen und Schlussfolgerungen zu publizieren – mit Nennung der Quelle und der Methodik und ohne die Verschleierung, die weiter oben beschrieben ist.
Die Zahlen entstehen also genau so, wie das Kultusamt sie sammelt – nur dass sie dann auch korrekt addiert und mit der Bevölkerungszahl verglichen werden.
Aktuell (Mitte 2023) sind die römisch-katholischen Menschen mit etwas unter 4,7 Millionen Mitgliedern und 51,3 Prozent Bevölkerungsanteil die größte Gruppe. (Dies beinhaltet eine Hochrechnung des Rückgangs in einem halben Jahr, basierend auf den letzten Jahren.) Da diese Kirche derzeit ihren eigenen Zahlen zufolge jedes Jahr mehr als 2 Prozent ihrer Mitglieder verliert, verschiebt sich allein aus dieser Gruppe jährlich etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung zu den Konfessionsfreien. Voraussichtlich Ende 2024 oder Anfang 2025 verliert diese Kirche ihre bisherige Bevölkerungsmehrheit.
Andere Religionsgemeinschaften kommen zusammengerechnet – dort, wo keine offiziellen Zahlen zur Verfügung stehen, jeweils etwas aufgerundet – auf weitere 18,2 Prozent der Bevölkerung. Die Details sind auf der erwähnten Seite angeführt.
Mindestens 30 Prozent konfessionsfrei
Das ergibt – mit der erwähnten etwas unsicheren Datenlage – einen konfessionsfreien Bevölkerungsanteil von 30,5 Prozent. Selbst mit allen Ungenauigkeiten kann man davon ausgehen, dass der Anteil der Konfessionsfreien im Jahr 2023 auf mindestens 30 Prozent gestiegen ist.
Dies sollte für die Medien, Behörden und Parteien ein Signal sein. Bald ein Drittel der Bevölkerung ist konfessionsfrei und interessiert sich nicht für religiöse Lehren. Die Konfessionsfreien möchten nicht, dass mit ihren Steuergeldern Religionsgesellschaften gefördert werden. Sie möchten nicht, dass Privilegien, die nur eine Religionsgemeinschaft hat, in einer Angleichung auf alle ausgeweitet werden, während genau die Gruppe der Konfessionsfreien beständig wächst. Sie möchten das Gerede vom katholischen Österreich nicht mehr hören, wenn das Ende der römisch-katholischen Bevölkerungsmehrheit so nah ist.
Wenn die aktuellen Trends so weitergehen, ist in 10 bis 12 Jahren die Gruppe der Konfessionsfreien die größte Gruppe in Österreich, und in etwa 20 Jahren hat sie die absolute Bevölkerungsmehrheit. Ähnliche Prognosen gibt es für andere Länder, wieder andere haben diesen Zustand sogar schon erreicht. England ist nicht mehr mehrheitlich christlich, in Deutschland sind die Christen nur mit Orthodoxen und Freikirchen noch knapp die Mehrheit, in Ungarn werden ähnliche Ergebnisse der Volkszählung 2022 erwartet. In der Schweiz werden die Konfessionsfreien in ein bis zwei Jahren die größte Gruppe. Das ist also die neue Situation, auf die man sich gesellschaftlich einstellen muss.
Dies kommt in den Medien jedoch nicht vor. Im Januar gibt es nach der Veröffentlichung der römisch-katholischen Austrittszahlen ein kurzes, auf diese Religionsgemeinschaft fokussiertes Medieninteresse; dass aber weltweit, im europäischen Umfeld und auch in Österreich die Zugehörigkeit zu Religionsgemeinschaften stark zurückgeht, wird nicht thematisiert.
Beim öffentlich-rechtlichen Österreichischen Rundfunk hat man diese Entwicklung auch noch nicht mitbekommen oder mitbekommen wollen. Für einen Schwerpunkt "Was glaubt Österreich" fahren RedakteurInnen quer durchs Land und befragen Menschen, was ihnen zu Begriffen, die die Religionsredaktion als glaubensrelevant betrachtet, einfällt. Die Ergebnisse müssen für die Redaktion ernüchternd sein: Die befragten Leute nennen zu Begriffen wie Freiheit, Liebe, Glück und Gerechtigkeit fast ausschließlich säkulare Ansichten, die mit Glauben oder organisierter Religion nichts zu tun haben. Dass es eine schnell wachsende Gruppe gibt, die bei jungen Menschen wohl schon die größte ist, kommt im Bezugsrahmen der Religionspropaganda einfach nicht vor. Stattdessen versucht sie, eine Vielfalt zu zeigen, indem sie Gruppen vorstellt, die sogar für die staatliche Anerkennung deutlich zu klein sind – nicht einmal ein Hundertstel der Konfessionsfreien. Generalintendant Weißmann hat am Anfang der Aktion darauf hingewiesen, "Allen Bürgern und Bürgerinnen verpflichtet" zu sein. Vielleicht kommt das ja noch.
Die Politik und alle, die sich für gesellschaftliche Entwicklungen ernsthaft interessieren, sollten sich nicht mehr blenden lassen. 30 Prozent der Bevölkerung, tendenziell jünger und gebildeter, sind genug, um Mehrheiten bei Wahlen zu verschieben, und dieser Anteil wird in absehbarer Zeit nur steigen. Sich diesem Wissen zu verschließen heißt, sich der Zukunft zu verschließen.
1 Kommentar
Kommentare
Dr. Andreas Gradert am Permanenter Link
Ein ausgezeichneter Artikel, Balázs, vielen Dank, sehr umfangreich.