Was ist die "Aufklärung" des Islams?

Anhand der kritischen Vernunft wird nicht nur der Kontext des Islam von seiner hagiographischen Dogmatisierung befreit. Nicht nur der Korantext und die Tradition des Propheten, sondern auch die klassische Wissenstradition können der kritischen Vernunft unterworfen werden. Und somit kann der islamische Glaube innerhalb der Grenzen des individuellen Räsonierens durchdacht werden. Der Islam, besonders im westlichen Kontext, darf nicht vor der kritischen Infragestellung bewahrt werden. Die Islamkritik als beweglicher Aufklärungsprozess lehnt bewusst ab, dass der Korantext, die Tradition des Propheten und ihre historische Rezeption in verschiedenen Diskursfeldern zum religiösen und sozialen Konsum degradiert werden. Denn diese drei Religionsinstanzen lassen sich gemäß der jetzigen Situation erforschen und überdenken. Ohne eine Islamkritik wird der islamische Glaube zu einer gefährlichen Religion, besonders wenn die religiöse Wahrheit als absolut, unantastbar und unveränderlich dargestellt wird. Deshalb muss jegliche Rede von Wahrheitsbesitz innerhalb aller Religionen relativiert werden. Keine muslimische Konfession bzw. keine Religion ist im Besitz der exklusiven Wahrheit.

Epilog

Niemals war die Aufklärung des Islams so sehr notwendig wie in der heutigen Zeit, der Zeit des globalislamistischen Terrors. Nicht nur viele Muslime, sondern auch Nichtmuslime empfinden die Dringlichkeit eines differenzierten Programms einer Islam- und Selbstkritik aus innerislamischer Sichtweise. Umso wichtiger ist eine Aufklärung, die betont, dass der Islam in erster Linie ein Glaube voller Spiritualität ist. Er ist keine militante Gemeinschaft, die die Herrschaft über die ganze Welt erstrebt.
Der Islam ist keine staatliche Ordnung, die einen Totalitäts- und Universalanspruch auf die ganze Menschheit erhebt; er ist eine geistliche Bewegung, eine Religion, welche die Bindung des Individuums an Gott, den treuen Glauben und Gehorsam festigen will. Der Islam besteht aus dem religiösen Angebot spiritueller Werte, die ein tiefes religiöses Leben ermöglichen und fördern.

Ohne Zweifel bieten etliche Koranpassagen aus der medinensischen Offenbarungsepoche Anknüpfungspunkte für die heutige Gewalt im Islam. Diese radikalen Koraninhalte dürfen nicht mehr verharmlost und ignoriert werden, sonst wäre der so genannte interreligiöse Dialog zum Scheitern verurteilt, solange die Muslime sich nicht deutlich dagegen positionieren. Die zwischen 622 und 632 in Medina verkündeten Koranpassagen müssen in ihrem historischen Kontext verstanden werden. Sie haben als historisch-politische Äußerungen nur eine temporäre Gültigkeit für das siebte Jahrhundert und entsprechen nicht mehr der heutigen Weltsicht und den dazugehörenden humanistischen Werten.
Daher kann gesagt werden, dass der nicht aufgeklärte Islam samt der im Laufe der Jahrhunderte entstandenen archaischen Rezeptionen keine Religion des Frieden ist. Das gehört zur Redlichkeit einer islamischen Theologie und Religionspädagogik in einem westlichen Kontext, deren Aufgabe es ist den Finger in die Wunde des historischen Verdrängens bei den Muslimen zu legen.

Es kann nur entweder die Islam- und Selbstkritik auf der Grundlage einer rationalen Aufklärung geben oder die stillschweigende Kollaboration mit dem archaischen und konservativen Islam. Ein dritter Weg im Westen ist nicht vorhanden. Deshalb will sich die Islamkritik deutlich gegenüber vier Sachverhalten positionieren:

Erstens: gegenüber dem medinensischen Korantext mit seiner Legitimation für die Gewalt gegen Nichtmuslime oder die Unterdrückung der Frauen. Diese koranischen Verordnungen der zweiten Epoche besäßen als historisch-politisches Modell nur eine begrenzte, temporäre Gültigkeit für das siebte Jahrhundert. Solche Koranvorschriften entsprechen dem Geist der damaligen Situation, in der Muḥammad als Staatsmann einer irdischen Gemeinde in Medina (622-632) situationsbedingte Koranstellen verkündete, die nur in ihrem historischen Wirkungskontext zu begreifen sind.

Zweitens: gegenüber dem hagiographisch dogmatisierten Prophetenbild, dessen Kritik von vielen Muslimen als Beleidigung aufgefasst wird. Betont werden muss, dass der Prophet nur ein fehlbarer Mensch war. Der historische Prophet als Staatsmann ist im Westen dringender denn je kritisch zu betrachten und revisionsbedürftig.

Drittens: gegenüber der Tradition des Propheten als ein menschliches Konstrukt, das zwei Jahrhunderte nach dem Tod des Propheten aus verschiedenen ideologischen Gründen entstanden ist und dem zeitlosen mekkanischen Korantext mit seinen universellen sinnstiftenden Lehren im ethischen Sinne in großen Teilen widerspricht.

Viertens: gegenüber der herkömmlich-klassischen Wissenstradition, die in anderen Zeiten gedacht wurde und die Menschen in ihrer Mündigkeit einschränkt. Denn den islamistischen Radikalen bietet sie zum Teil eine gewalttätige, theologisch gut fundierte Ideologie, deren Ziel die Vernichtung der Andersdenkenden ist.

Wir Muslime sollten keine Angst vor Kritik haben. Die Kritik des Islam ist eine Liebeserklärung für die Muslime. Ein Islam ohne eine mutige Islamkritik ist zum Scheitern verurteilt, vor allem im Westen. Wir benötigen dringend ehrliche Kritikerinnen und Kritiker, die sich dafür einsetzen bei der Etablierung der ewigen Freiheit und des ewigen Friedens mit sich selbst in der eigenen Religion und mit den Anderen außerhalb der eigenen Religion.
Nur durch die Aufklärung können die Muslime ihre schöpferischen Anlagen in Freiheit entfalten. Die normale, herzliche, gesunde, uneingeschüchterte, unverbogene, realitätsbezogene Spiritualität der Muslime kann neu zum Leuchten kommen durch den Gebrauch der freien Vernunft. So können die Einzelnen die humanistische Auffassung ihrer religiösen Identität ausleben.

Dies ist nicht nur das eigentliche Fundament "der ewigen Freiheit", sondern auch "des ewigen Friedens" mit sich selbst und mit den Anderen. Und tatsächlich kann der Westen als vorbildhafter Ort dienen für die Etablierung eines aufgeklärten Islams und eines humanistischen Diskurses durch die kontinuierliche Begegnung der Muslime mit den Anderen. Denn die Aufklärung ist ein unaufhaltsamer historischer Prozess, der nicht nur die Kritiksprache im Rahmen eines aufklärerischen Islamprogramms zu garantieren vermag, sondern auch die unantastbaren Menschenrechte und die Menschenwürde.

Solch einen Gedanken könnte man als Eurozentrismus auffassen. Denn er lässt den Eindruck entstehen, dass nur der Westen den Freiheitsgrundsatz bzw. die Freiheitssprache versteht. Darüber hinaus würde es dazu führen, dass die muslimischen Kritiker in der islamischen Welt ihrer Religionskritik enteignet werden. Jedoch kann betont werden, dass die Aufklärung die Menschen miteinander verbindet. Sie zeigt den Menschen, erstens wer sie in ihrem Wesen sind und zweitens wie die kritische Vernunft das wahrliche Fundament ihres Lebens und ihrer Existenz gestalten könnte. Dabei spielt die geographische Lage keine zentrale Rolle. Die aufklärerische Islamkritik kann dadurch einen universalen Aspekt unter den Muslimen haben, abgesehen von ihrer Nationalität und Ethnien. Und es ist eine wechselseitige und wirkungsvolle Beziehung zwischen Aufklärung und Islamkritik und sie bilden beide damit das grundlegende Herzstück eines humanistischen Islams.

Inspiriert von der energischen Kraft der Vernunft der Aufklärung können die Muslime sich als autonome Individuen in ihrer Gegenwart begreifen und die Ideale der Freiheit in ihrem Alltag einführen. Auch die Islamkritik als Aufklärungsprogramm ist kein Finalzustand. Sie manifestiert sich immer wieder neu, wenn der Islam zu ideologischen Zwecken instrumentalisiert wird. Genauer gesagt: Die aufklärerische Islam- und Selbstkritik ist kein abgeschlossener Prozess, sondern sie unterliegt einer ständigen Entwicklung und intensiven Entfaltung. Denn das Ziel ist das Hervorrufen einer unbegrenzten Möglichkeit des Islamdiskurses in seinem pluralistischen Sinn, welche auch unterschiedliche Verstehensräume für das Entstehen immer weiterer interpretatorischer Aufklärungstexte eröffnet. Und im Zentrum der Aufklärung steht die Idee des Individuums, das frei handelt, frei über unbegrenztes Wissen verfügt. Dabei wird die Entscheidungskraft des Menschen im Rahmen seiner Willensfreiheit betont.


  1. Reinhard Schulze: Das islamische Achtzehnte Jahrhundert, Versuch einer historiographischen Kritik, Welt des Islam XXX (1990), S. 140-159, hier S. 144f. ↩︎
  2. Abdelwahab Meddeb: La maladie de l᾿Islam, Paris 2002, S. 13ff. ↩︎
  3. Samuel Klar: Moral und Politik bei Kant, Würzburg 2007, S. 19. ↩︎
  4. Vgl. Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Hamburg 2003, S. 21ff. ↩︎
  5. Damir-Geilsdorf, Sabine: Herrschaft und Gesellschaft: der islamistische Wegbereiter Sayyid Quṭb und seineRezeption, Würzburg 2003, S. 88ff.; Olivier Carré: Mystique et politique : Lecture révolutionnaire du Coran par Sayyid Qutb, Frère musulman radical, Paris 1984, S. 45ff. ↩︎
  6. Zitiert nach Martin Engelbrecht: Diskursräume öffnen Potentiale und Probleme der Einrichtung islamischen Religionsunterrichts am Beispiel des „Erlangener Modells“, S. 25, http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/ DE/Publikationen/Expertisen/engelbrecht-erlanger-modell.pdfblob=publicationFile (Zugriff am: 18.02.2016). ↩︎
  7. Bundesministerium des Inneren (Hrsg.): Islamismus, Verfassungsschutzbericht, Berlin 2006, S. 215ff. ↩︎
  8. Wensinck, A. J. u. a.: Concordance et indices de la tradition musulmane, 8 Bde., hier Bd. I, Leiden 1936-1988, Registerband 1988, S. 324; Bd. I, S. 324; ʻAbd al-Mutl Ṣaʻīdī: al-Muğaddidūn fī l-islām, Kairo 1956, S. 8ff. ↩︎
  9. Rudolph Peters: Erneuerungsbewegungen im Islam vom 18. bis zum 20. Jahrhundert und die Rolle des Islams in der neueren Geschichte: Antikolonialismus und Nationalismus, in: Werner Ende / Udo Steinbach: Der Islam in der Gegenwart, München 4 1996, S. 90-128, hier S. 144ff. ↩︎
  10. Geert Hendrich: Islam und Aufklärung. Der Modernediskurs in der arabischen Philosophie, Darmstadt 2004, S. 9. ↩︎
  11. Abdel-Hakim Ourghi: Die Reformbewegung in der neuzeitlichen Ibya. Leben, Werk und Wirken von Muammad b. Ysuf Afaiya 1236-1332 h. q. (1821-1914), Würzburg: Ergon 2008, S. 197f. ↩︎
  12. Rachid Benzine: Islam und Moderne. Die neuen Denker, übers. v. Hadiya Gurtmann, Berlin 2012, S. 17ff. ↩︎
  13. Vgl. Joseph L. Blau: Artikel „Reform“, in: The Encyclopedia of Religion, Bd. 12, S. 238ff. ↩︎
  14. Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? in: Berlinische Monatsschrift, Dezember 1784, 481-494; siehe auch Immanuel Kant, Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleiner Schriften, hrsg. von Horst D. Brandt. Hamburg 1999, S. 20ff. ↩︎
  15. Michel Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83, Frankfurt a. M. 2012, S. 20f. ↩︎
  16. Yadh Ben Achour: Aux fondements de l’orthodoxie sunnite, Paris 2008, S. 18ff. ↩︎
  17. Birgit Recki: Artikel „Kritik“ in: Hans Dieter Betz/Don S. Browning/Bernd Janowski/Eberhard Jüngel (Hrsg.): Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 4, Tübingen 2004, S. 1782. ↩︎
  18. Michel Foucault: Was ist Kritik?, Berlin 1992, S. 9f. ↩︎
  19. Klaus Blees & Roland Röder: Es gibt keine rechte Islamkritik, in: https://www.antifainfoblatt.de/artikel/%E2%80%9Ees-gibt-keine-rechte-isl... (27.12.2015) ↩︎
  20. Mohamed Arkoun: Lectures du Coran, Tunis 21991, S. 45f. ↩︎
  21. Tilman Nagel: Mohammed. Leben und Legende, München 2008, S. ↩︎
  22. Vgl. Mohammed Arkoun: La construction humaine de l’islam, entretiens avec Rachid Benzine et Jean-Louis Schlegel, Paris 2012, S. 81 ↩︎
  23. Tilman Nagel: Mohammed. Zwanzig Kapitel über den Propheten der Muslime, München 2010, S. 11ff. ↩︎
  24. Nagel: Mohammed. Zwanzig Kapitel über den Propheten der Muslime, S. 11f. ↩︎
  25. Abdel-Hakim Ourghi: Der Islamische Religionsunterricht im interreligiösen Kontext. Das Ich im Anderen, in: IRP-IMPULSE Herbst (2012), S. 24-27, hier S. 24. ↩︎