Ein Beitrag zur Klärung einer Streitfrage

Gehört der Islam zu Deutschland?

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BERLIN. (hpd) Selten hat die Äußerung eines Politikers zu einer solch anhaltenden und teilweise aufgeregten Diskussion geführt wie die Bemerkung von Christian Wulff bei seiner Rede am 3. Oktober 2010: "Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland."

Schleswig-Holstein gehört zu Deutschland, keine Frage. Aber diese anscheinend rein deskriptive Aussage ist keineswegs so harmlos wie etwa die Aussage, dass die Zugspitze der höchste Berg Deutschlands ist. Denn dass Schleswig-Holstein zu Deutschland gehört, besagt eben auch, dass es Deutschland an etwas fehlen würde, wenn Schleswig-Holstein nicht mehr dazugehören sollte und dass daher ein Versuch, diesen Zustand zu ändern, den Widerstand Deutschlands provozieren würde. Die Behauptung, ein bestimmtes Gebiet gehöre zu Deutschland, beschreibt also nicht nur einen faktischen Zustand, sondern bringt auch eine Verpflichtung Deutschlands zum Ausdruck, den Status quo in dieser Hinsicht zu erhalten und zu verteidigen.

Was ist nun, wenn in die Satzform "… gehört zu Deutschland" nicht der Name eines Bundeslandes, sondern der einer Religion eingesetzt wird? Was ist mit "Das Christentum gehört zu Deutschland", ja sogar "zweifelsfrei", wie Wulff in derselben Rede gesagt hat? Auch damit wird jedenfalls behauptet, dass Deutschland etwas fehlen würde, wenn das Christentum, wenn diese Religion nicht mehr zu Deutschland gehören sollte. Es macht, das steckt in dieser These, u. a. die Identität Deutschlands aus, dass es hier das Christentum gibt. Dann ist der Schritt zu der Überzeugung, dass Deutschland ein christlicher Staat sei und wir eine christliche Leitkultur haben, nicht mehr weit. Und wenn diese Religion zu Deutschland gehört, wenn sie die Identität Deutschlands mit ausmacht, dann ist der Staat Deutschland wohl auch verpflichtet, dafür zu sorgen, dass das so bleibt, dann muss er die Zugehörigkeit des Christentums zu Deutschland schützen.

Aber dazu ist ein Staat, der sich wie Deutschland als säkularer Staat versteht, keineswegs verpflichtet, ganz im Gegenteil. Der säkulare Staat ist verpflichtet, das Recht von Anhängern einer Religion zu verteidigen, ihre Religion, soweit sie dies im Rahmen des bestehenden Rechtes tun, auszuüben und das ggfs. auch in der Öffentlichkeit. Aber dass er die Freiheit seiner Bürger, sich zu einer Religion zu bekennen und diese auszuüben, verteidigen muss, macht ihn nun keineswegs zu einem Verteidiger der Religion selber. Und eben dieser wichtige Unterschied wird durch die Rede davon, dass das Christentum oder der Islam zu Deutschland gehöre, verwischt. Daher ist diese Rede nicht nur falsch, sondern auch gefährlich. Denn sie untergräbt das säkulare Selbstverständnis unseres Gemeinwesens. Und wir sollten nicht vergessen, dass nur der säkulare Staat ein Garant des Friedens zwischen den Religionen ist.

Die kritisierte Rede von der Zugehörigkeit des Christentums zu Deutschland und von einer christlichen Leitkultur, wie sie von den Vertretern der christlichen Religion, aber mehr noch von Vertretern der sog. christlichen Parteien verteidigt wird, lässt sich nun aber auch nicht durch zwei Argumente stützen, die dafür häufig ins Feld geführt werden: die christlichen Werte, die den Werten unserer staatlichen Ordnung zugrunde liegen sollen, und die christliche Kultur, die unser Land präge. Was den ersten Punkt angeht, so wird dazu gern auf die Zehn Gebote der Bibel, auf den Dekalog verwiesen. Aber ein Blick in diesen Text zeigt bald, dass diese Sammlung rechtlich-moralischer Vorschriften als Grundlage der Werte eines säkularen Staates ganz ungeeignet ist. Zwar enthält der Dekalog auch die für jede Gesellschaft unentbehrlichen Verbote von Diebstahl und Mord, wenn auch an recht nachgeordneter Position. Aber an erster Stelle steht das Gebot, "Du sollst keine fremden Götter neben mir haben", also eine Aufforderung zu religiöser Intoleranz. Und wesentliche Menschenrechte, etwa das Verbot der Folter, lassen sich mit den Vorschriften des Dekalogs ohnehin nicht begründen.

Die Werte unserer Rechtsordnung beruhen auf jenen Werten, welche die europäische Aufklärung vertreten und durchgesetzt hat, fast immer gegen den erheblichen Widerstand der Kirchen. Es sind die Werte, wie sie in der Menschenrechtserklärung der UNO aus dem Jahre 1948, und vorher in der Erklärung der Menschenrechte durch die Französische Nationalversammlung im Jahre 1789 festgehalten worden sind.

Das Christentum gehört aber auch nicht deshalb zu Deutschland, weil wir in unserem Land eine christlich, eine vom Christentum geprägte Kultur haben, worauf die Freunde der Religion ebenfalls und mit etwas größerem Recht gerne verweisen. Das ist zwar für Teile unserer Kultur zutreffend, für viele Erzeugnisse der bildenden Kunst und der Architektur, soweit sie vor 1800 entstanden sind, und für Werke der Musik, aber schon für die deutsche Literatur lässt sich das kaum behaupten. Goethe war bekanntlich ein Gegner des Christentums, und, von einigen Ausnahmen in der deutschen Romantik abgesehen, gibt es in den letzten drei Jahrhunderten so gut wie keine bedeutenden deutschen Schriftsteller und Dichter, die ihre Werke als Ausdruck einer christlichen Weltanschauung verstanden wissen wollen.

Doch selbst die christliche Prägung eines Teils der kulturellen Leistungen Deutschlands ist nicht geeignet, das diese Kultur teilweise prägende Christentum als zur Identität Deutschlands gehörend auszuweisen. Denn Kultur und Religion sind zwei Paar Stiefel. Zwar muss, wer sich in einer christlich geprägten Kultur bewegen, und erst recht, wer zu ihr beitragen will, über Kenntnisse dieser Religion verfügen, er muss ihre Erzählungen, Riten und Symbole kennen, aber er muss keineswegs auch an die Lehren dieser Religion glauben. Eine Kultur verlangt Kenntnisse, oft auch Kenntnisse über eine Religion, aber keineswegs einen religiösen Glauben. J. S. Bach musste nicht zur katholischen Konfession konvertieren, bevor er die h-moll-Messe komponieren konnte. Darum kann sich jemand durchaus in unterschiedlichen Kulturen bewegen und auskennen, aber unterschiedlichen Religionen kann er nicht gleichzeitig anhängen.

Aber ist nicht auch die Rede davon, dass der Islam nicht zu Deutschland gehört, wie ihn nun eine Partei in ihr Programm aufgenommen hat, ebenfalls falsch und gefährlich? Auch dafür scheint doch einiges zu sprechen. Wird damit nicht ein Teil der Bevölkerung, die Muslime, ausgegrenzt und diskriminiert? Und sind unsere muslimischen Mitbürger daher nicht zu Recht über diese These empört?

Nun kann aber eine Behauptung kaum zugleich mit ihrer Verneinung wahr sein. Der Grund für diesen scheinbaren Widerspruch liegt in der Mehrdeutigkeit der Rede von "… gehört zu Deutschland". In einem schwachen und damit harmlosen Sinn kann damit gemeint sein, dass etwas, das in Deutschland existiert, wie das Zweite Deutsche Fernsehen, zu Deutschland gehört, ohne dass dessen Existenz die Identität Deutschlands mit ausmachen würde. Und die Bestreitung einer schwachen Behauptung führt immer zu einer starken Verneinung. Dann werden nämlich mit der starken Verneinung "Der Islam gehört nicht zu Deutschland", weil damit eine Religion gegenüber anderen Religionen diskriminiert wird, die Anhänger dieser Religion von Rechten ausgeschlossen, die ihnen ebenso zukommen wie Anhängern anderer Religionen.

Nun war aber die Aussage des damaligen Bundespräsidenten Wulff "Auch der Islam gehört inzwischen zu Deutschland" nicht in einem schwachen und harmlosen Sinn gemeint. Durch das "auch" soll der Islam ja mit dem Christentum auf eine Stufe gestellt werden, und das "inzwischen" macht klar, dass es eine Zeit gab, wo der Islam in Deutschland noch nicht den Status hatte, der ihm nach Meinung Wulffs nunmehr zukommen soll, wo es den Islam aber offenbar auch in Deutschland schon gab. Nein, was mit dieser Aussage zum Ausdruck gebracht werden sollte, war die These, dass der Islam ebenso wie das Christentum die Identität Deutschlands mit ausmachen. Diese Aussage verstand das "… gehört zu Deutschland" in einem starken Sinn, und in eben diesem Sinn ist sie aus den oben angeführten Gründen mit dem Verständnis Deutschlands als eines säkularen Staates nicht zu vereinbaren.

Schleswig-Holstein, wie gesagt, gehört zu Deutschland, und zum Wertefundament unseres Staates gehören die Werte der Aufklärung, die Menschenrechte und die Demokratie. Sie machen die Identität Deutschlands mit aus und gehören daher zu unserem Staat. Religionen, der Islam oder das Christentum, gehören in dem erläuterten Sinn nicht dazu. Und das ist auch gut so.