Was ist die "Aufklärung" des Islams?

BERLIN. (hpd) Warum sind die Muslime technisch und kulturell gegenüber Europa zurückgeblieben? Diese herausfordernde Frage stellt sich heute mehr denn je. Sie hat nichts von ihrer Aktualität verloren, denn auch heute erleben der Islam und die Muslime eine Sinnkrise. Das begründet der Islamwissenschaftler und Koran-Experte Abdel-Hakim Ourghi in einem längeren Text.

Seit der napoleonischen Invasion Ägyptens (1798-1801), die als Wendepunkt im kollektiven Bewusstsein der Muslime haften blieb, spürten einige Gelehrte die Notwendigkeit, den Islam zu erneuern. Die koloniale Invasion war ihnen ein Zeichen dafür, dass sich nicht nur die islamische Welt und ihre Gesellschaften, sondern auch der Islam in Stagnation befanden, während gleichzeitig Europas Stärke und Macht durch technische und industrielle Entwicklungen weiter zunahmen. Diese historische Begegnung der islamischen Kultur mit der westlichen Zivilisation intensivierte die Ideenkrise und das Unbehagen hinsichtlich der kulturellen Identität. Ganze Jahrhunderte arabischer und islamischer Geschichte schienen auf einmal "funktionslos und inhaltsleer". 1
Im Jahr 1930, mehr als ein Jahrhundert später schrieb der syrisch-libanesische Autor Schakib Arslan (1896-1946) ein Buch mit dem Titel "Warum sind die Muslime zurückgeblieben, und warum kamen andere voran?" Diese herausfordernde Frage stellt sich heute mehr denn je. Sie hat nichts von ihrer Aktualität verloren, denn auch heute – wiederum oder vielleicht immer noch – erleben der Islam und die Muslime eine Sinnkrise. Tatsächlich ist es um den Islam und die Muslime in der islamischen Welt wie auch der Diaspora im Vergleich zur westlichen Kultur schlecht bestellt.

Im Jahre 2002 diagnostizierte Abdelwahab Meddeb (1946-2014) dem Islam einen pathologischen Zustand, "La maladie de l’Islam" (Die Krankheit des Islam)2, die in seinem Körper wüte. Diese hausgemachte Krankheit bedarf mehr denn je eines innerislamischen Therapieprozesses auf der Basis eines Aufklärungsprogramms. Ich wage es, in diesem Zusammenhang auch einen Satz von Immanuel Kant (1724 - 1804) zu zitieren: "Aus so krummem Holz, als woraus der Mensch gemacht ist, kann kein ganz Gerades gezimmert werden."3
Die oft beschworene frühislamische Glanzzeit, aus der die Muslime ein Überlegenheitsgefühl anderen gegenüber schöpfen, ist eine inhaltslose Nostalgie, welche der heutigen Realität des Islams und seiner Anhänger nicht entspricht. Das Weltbild der Muslime ist durch Herrschsucht, Zerstörungslust, Radikalität und Gewalt gekennzeichnet. Man kann sogar vom "radikalen Bösen"4 sprechen, wenn man die Chronologie der Gewalt betrachtet, welche sich als Phänomen durch die ganze Frühgeschichte des Islams ab 624 n. Chr. bis zum heutigen Tag zieht.
Das Gegenteil zu behaupten, kann nur als Resultat einer Dynamik des bewussten Verdrängens betrachtet werden, welche nicht nur die Entstehung des Islams und seines historischen Entwicklungsprozesses verklärt und idealisiert, sondern auch kein Interesse an einer historisch-kritischen Aufklärung der kollektiven Identität des Islams hat.

Horrormeldungen über den islamistischen Terror sind heute weltweit ein Bestandteil des Alltags der Menschen. Auch wenn die Wahrheit unangenehm klingen mag, vergeht kaum ein Tag im Bewusstsein der Menschen, an dem nicht exzessive Gewalttaten von muslimischen Tätern im Namen ihres Glaubens begangen werden.
Die Massivität des islamistischen Terrors und der Herrschaftsanspruch scheinen sich seit dem 11. September zu verselbständigen. Die Opfer sind zwar in der Mehrheit Muslime, aber auch Angehöriger anderer Glaubensgemeinschaften. Schauplatz des islamistischen Terrors sind nicht nur Länder in der islamischen Welt, sondern längst auch westliche Metropolen, wohin zumeist dort aufgewachsene Muslime den Tod als islamistische Killer tragen.
Die Botschaft der radikalen Islamisten lautet: "Ihr seid unsere Feinde, solange ihr so seid, wie ihr seid." Der Islamismus hat den Westen als seinen Feind bestimmt, und zwar vor allem die Lebensweise der Menschen im Westen. Damit beginnt eine neue Gewaltära im Westen, ein Protest gegen die westliche Rationalität, die als Entfremdung empfunden wird. Alles, was sich der Herrschaft Gottes im Namen des Islams nicht unterordnet, gilt den Islamisten als verdorben, amoralisch und sogar als eine "Zeit der Unwissenheit" (ğāhiliyya) (Koran 5:50)5. Dieser Terminus wiederholt sich viermal im Korantext (Koran 3:154; 5:50; 33:33 und 48:26) und bezeichnet die Zeit vor der Verkündung des Islams im siebten Jahrhundert, die allgemein als ein "dunkles Zeitalter" dargestellt wird und damit als eine Negativfolie, von der sich der Islam mit seiner mission civilisatrice strahlend abhob.

Auch viele Muslime betrachten die Etablierung eines aufgeklärten Islam in einem westlichen Kontext als notwendig, der sie von der Last der nicht reflektierenden Kulturidentität aus der Innenperspektive befreien könnte. Und hierbei könnte die Aufklärung des Islams in seinem historischen Entwicklungsprozess eine essentielle Rolle spielen, die durch den Vernunftgebrauch eine mutige und ehrliche Innendebatte über die eigene Religion führen könnte.

Mit meinem historisch-kritischen Aufklärungsansatz habe ich bewusst nicht vor, den Islam bzw. seine religiösen Glaubensgrundsätze dekonstruktiv anzugreifen, sondern ich bin um einen konstruktiven Verstehensansatz und die reflektierende Analyse eines möglichen Aufklärungsprogramms des Islam bemüht. Mir geht es in erster Linie darum, die erkenntnistheoretischen Denkstrukturen des Islamdiskurses zu untersuchen, welche sich im Laufe der Jahrhunderte durch die Rezeption der kanonischen Quellen – Korantext und die Tradition des Propheten – gebildet haben.
Die Kritik einiger Inhalte der kanonischen Quellen in ihren ersten Entstehungsphasen und ihrer historischen Rezeption sind heutzutage eine dringende Notwendigkeit, welche sich nicht mehr auf die Zukunft vertagen lassen, auch wenn sie – letztlich unbegründete – Ängste um den Verlust der muslimischen Identität auslöst.
Der Diskurs der Dekonstruktion dient selbstverständlich nicht zur Abwertung oder der Auflösung der kollektiven Identität des Islams. Versucht wird eher die Etablierung einer aufklärerischen Islamkritik zu einem festen Bestandteil des Bewusstseins der Muslime, der dazu beiträgt, dass sie sich ihres eigenen Verstandes bedienen, um Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, anstatt veraltete Ideensysteme konservativer Gelehrter aus Angst vor der Freiheit unhinterfragt zu adoptieren.
Besonders in einem europäischen Kontext scheinen mir die kritische und diskursive Aufrichtigkeit gegenüber der eigenen islamischen Geschichte und die religiöse sinnstiftende Identität seit dem Tode des Propheten unverzichtbar. Das erwünschte Ziel ist die reflektierende Aufklärung der eigenen Geschichte bzw. der islamischen Tradition.