Was ist die "Aufklärung" des Islams?

Gewiss benötigt die Aufklärung des Islams mutige, aufrichtige Aufklärer, die den Finger in die Wunden des historischen Verdrängens legen. Diese Menschen sind humanistische Muslime, die klären und aufklären. Sie sind mehr denn je wichtig, denn sie haben den Mut, unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Als Gesprächspartner des konservativen Islam verbergen sie nichts und erlauben anderen, vollständig an ihrem Aufklärungsprogramm teilzunehmen. Das bedeutet, alles ohne Furcht vor der Reaktion des Anderen, jedoch an der Wahrheit ausgerichtet zu sagen. Muslimische Aufklärer können durch das Aussprechen der Wahrheit den Zorn und die Wut der Vertreter des konservativen Islams hervorrufen. Sie gehen dabei ein hohes Risiko ein und setzen ihr eigenes Leben aufs Spiel. Ihre Kunst liegt darin, ohne Verheimlichung, stilvolle Klauseln oder rhetorische Ausschmückungen, die verschlüsseln oder maskieren könnten, die Wahrheit zu artikulieren.

Besonders wenn die Muslime nicht in der Lage sind, dem Zustand ihrer Unmündigkeit ein Ende zu setzen, sind sie auf aufklärerische Personen angewiesen, die sie auf den Weg der Aufklärung bringen könnten. Diese Aufklärer können die Menschen von der Macht des konservativen Islam befreien, allerdings könnte die Gefahr bestehen, dass sie eine neue Unmündigkeit begründen. Ihre Aufgabe liegt daher darin, erstens auf die Defizite in der kollektiven Identität im konservativen Islam hinzuweisen und zweitens die Autonomie der Menschen in ihrem Denken und Handeln durch die Anwendung der kritischen Vernunft zu betonen.

Alle Muslime, besonders diejenigen, die im westlichen Kontext in ständiger Berührung mit dem Anderen stehen, können aus sich selbst heraus ihre Religion in ihrer jetzigen Lebenswelt neu entdecken, indem sie sich ihrer Vernunft bedienen und ihre vererbte Religionsidentität in Frage stellen, anstatt sie unkritisch zu reproduzieren. Selbstverständlich besteht der Islam nicht nur aus seinen kanonischen Quellen, sondern auch aus den verschiedenen historischen Rezeptionen der Menschen in den verschiedenen Zeitaltern vom siebten Jahrhundert bis dato, die als eine kontinuierliche Bearbeitung des Glaubens zu betrachten sind.

Dr. Abdel-Hakim Ourghi
Dr. Abdel-Hakim Ourghi

Ohne Reformation und aufklärerische Auseinandersetzung mit dem Islam und seinen kanonischen Schriften – und zwar auch von innen her, religionsskeptisch, religionskritisch – kann es keine Renaissance gegeben. Meiner Meinung nach muss sich nicht nur der Islam reformieren, sondern die Muslime müssen anfangen ihre Religion zu erlernen. Aus erkenntnistheoretischer Sicht sind der Islam bzw. die Lehren des Korans unhaltbar und lassen sich – ohne Uminterpretation – heute nicht mehr anwenden oder als "realitätsnah" klassifizieren. Aufklärerisch heißt es, zunächst einmal mit dem Dogma zu brechen, dass Nichtmuslime "Ungläubige" sind. Man könnte anerkennen, dass andere Religionen auf Augenhöhe und prinzipiell als gleichwertig anzusehen sind. Vielleicht sollte man irgendwann einmal dafür ein Bewusstsein schaffen oder zumindest dieses anstreben, dass alle Menschen gleich frei sind und gleiche Rechte besitzen.

Der Aufruf zur Renaissance des religiösen Diskurses ist nichts anderes als eine pointierte Akzentuierung der Freiheit des Individuums. Deshalb dürfen die Muslime sich nicht vor der Freiheit fürchten und vor ihr flüchten. Man kann auch betonen, dass der "ewige Frieden" des Islams mit der Versöhnung mit der Freiheit als essentielle Basis für die Aufklärung beginnt. Gewiss wird die männliche Herrschaft unter dem Deckmantel des Schutzes des Islams sich weiter widersetzen, weil sie die Obergewalt hinsichtlich der Deutungshoheit nicht verlieren will. Sie wird die Kritiker des Islams als Apostaten stigmatisieren und sie zu Feinden der Muslime erklären.

3. Die Islamkritik als notwendige Aufklärung

Die Kritik der Religion ist die Infragestellung ihrer Grundlagen und ihres Wirkens im Laufe ihres historischen Prozesses17 von ihrer Entstehung an. Deshalb existiert sie "nur im Verhältnis zu etwas anderem als zu sich selbst."18 Die Kritik der Religionen, besonders im Falle des Islams darf nicht als Angriff gegen die Religionssymbole aufgefasst werden, denn ihre Motivation ist nicht die plakative Ablehnung des Glaubens und des religiösen Handelns seiner Anhänger. Sie nimmt eher die Religion in ihrer Charakteristik als anthropologische Dimension des Menschen in seinem Dasein wahr. Anhand der Kritik kann zweifelsohne der muslimische Diskurs differenziert freigelegt und dadurch auch von historischer Verfremdung befreit werden. Genauer formuliert: Die Islamkritik ist die differenzierte Ausübung der Vernunft, denn ihre essentielle Aufgabe ist die reflektierende Befassung mit den Hauptquellen des Islams und der Aufklärungsversuch der Rezeption durch die islamische Wissenstradition. Und somit ist die Kritik des Islams das reflektierende Befragen des Überkommenen in dem historischen Schichtdenken der Tradition. Es mag sein, dass solch eine Konzeption zu einem Verlust von Gewissheiten führen könnte, allerdings mit dem Lohn einer Sinnentfaltung eines differenzierten und freien Denkens.

Die Islamkritik als Aufklärungsprozess bildet gewiss eine unverzichtbare Basis für den Aufklärungsprozess der Geschichtsideen und der Wissenstradition der Menschheit. Sie will bewusst die Wahrheit des konservativen Islams in seinen Machteffekten, Handlungsmechanismen und Intentionen befragen. Bewusst will sie auch die Manipulation der religiösen Texte zu ideologischen Zwecken offenlegen, welche die Muslime von ihrer jeweiligen Situation entfremdet. Die Islamkritik will die Lebenswelt der Muslime im Westen akzentuieren. Die hier geborenen und sozialisierten Muslime definieren sich zum Beispiel zumeist nicht als Sunniten oder Schiiten, sondern schlicht als Muslime. Sie könnten zeigen, dass kein Muslim sich sklavisch den Regeln einer Konfession unterwerfen muss – und so den Weg zum Frieden ebnen. Die Menschen können sich von ihrer blinden Knechtschaft befreien, dadurch, dass sie die Angelegenheiten ihrer Religion souverän in eigener Regie übernehmen. Aufklärung will den Muslim im seinem Verhältnis zu der nicht durchdachten Unmündigkeit analysieren. Deshalb nenne ich das, was Kant als "Aufklärung" bezeichnet hat, im islamischen Kontext eine Islamkritik. Beide Termini bedeuten eine Manifestation des individuellen Räsonierens. Exakter formuliert: Die Islamkritik ist ein integraler Bestand der Aufklärung, die den historischen Durchbruch der Vernunft als sinnstiftende Verstehensautorität ermöglichen könnte.

Im hocharabischen Sprachgebrauch des arabisch-islamischen Diskurses sprachen in den letzten vierzig Jahren die liberalen Autoren nicht von "Islamkritik", sondern von "Selbstkritik" (an-naqd aḏ-ḏātī). Bewusst wurde der Begriff "Islamkritik" vermieden. Denn der Islam, seine kanonische Quellen und der Prophet sind nicht zu kritisieren. Der offizielle Islam scheint die Kritik zu fürchten. Denn durch die Islamkritik würde die Geschichte des muslimischen Diskurses und seiner Grundlagen grenzenlos erschüttert. Die geistigen Trümmer wären gewaltig und auch religiöse Überzeugungen könnten aufgrund dessen in Frage gestellt werden. Deshalb bleiben die Religion des Islams und ihre Symbole ein unantastbares Tabu. Kritiker der herrschenden Überzeugungen des offiziellen Islam werden zum Feind erklärt und immer wieder durch Gewaltmaßnahmen zum Schweigen gebracht. Gewiss kann die Islamkritik als eine ständige Form der Selbstprüfung eine fundamentale Bedeutung haben. Der lebhaften Religionspluralismus mit innerislamischen Differenzen und die Begegnung des Islams mit anderen Religionen im westlichen Kontext bieten eine solide Basis für eine aufklärerische Islamkritik.

Die Islamkritik ist auf der Grundlage der aufklärerischen Vernunft darum bemüht, die konservativen Kräften als Vertreter des Islams genau unter die Lupe zu nehmen. Genauer gesagt: Durch die Aufklärung wird nicht nur die Religion in die Grenzen der Vernunft verwiesen, sondern auch die konservativen Muslimen, denen es in erster Linie um die Deutungshoheit geht. Wer behauptet, dass die Islamkritik die Aufgabe oder das Ziel hat, die Religion verschwinden zu lassen, täuscht sich und andere. Die Islamkritik ist eine Kritik der kanonischen Quellen und ihrer historischen Rezeption und sie "ist Herrschaftskritik, ist als materialistische Kritik kein plakatives Ablehnen von Religion, sondern Kritik der Zustände, welche religiöse Ideologien zu ihrer Rechtfertigung hervorbringen."19

Freilich ist es kein Wunder, dass die muslimische Tradition als ahistorisch aufgefasst wird. Denn man hat es mit einer Mythologisierung der islamischen Theologie zu tun, die zu einer transzendentalen "Zeitlosigkeit" geführt hat. Hierbei wird unter anderem die klassische islamische Theologie als Inhaberin der absolut vollkommenen Wahrheit betrachtet, welche nicht diskutiert bzw. kritisiert werden darf. Die Muslime könnten sich heutzutage jedoch der Tatsache bewusst sein, dass sie mit dem Korantext nicht mehr dort stehen, wo der Prophet Muḥammad im siebten Jahrhundert n. Chr. stand.
Nicht nur der Korantext und die Tradition des Propheten, sondern auch das historisch akkumulierte Wissen des muslimischen Diskurses sind Bestandteil des nicht abgeschlossenen Verstehensakts des Lesers, der sich immer den jeweiligen Realitäten und den heutigen Lebenswelten der Muslime reflektierend anpassen muss. Dabei können sogar einige Inhalte abgelehnt werden. Deshalb kann gesagt werden, dass die kanonischen Quellen des Islams – Korantext und die Tradition des Propheten – und die sie rezipierenden Texte der kontinuierlichen Selbstauslegung unterliegen. Es muss dennoch deutlich darauf hingewiesen werden, dass diese drei Erkenntnisgegenstände, welche durch menschliche Verstehensprozesse in anderen historischen Kontexten verortet werden können, auch ihrer jeweiligen historisch bedingten Entstehungssituation unterliegen.

Im Akte der neuen Interpretationen können auch die kanonischen Texte der islamischen Religion von ihrer Leblosigkeit nicht nur befreit werden, sondern sie werden durch neue interpretierende Sinngehalte bereichert. Genauer gesagt: Eine hermeneutische Distanz zu ihrer herkömmlichen Autorität, die eine Verstehensatmosphäre der Differenz im Vergleich zum Original begründet, ist bei der Rezeption des Textes durch den Leser gemäß seiner jetzigen Zeit nicht vermeidbar. Die Autonomie des Textes setzt die Freiheit des Lesers voraus und begründet das reflektierende und das kritische Verstehen, denn beide liegen in einer Relation der Wechselwirkung bzw. einer interaktiven Beziehung zwischen der Textwelt und der Welt des Lesers.20

Die Freiheit des Lesers ist in meinen Augen ein wesentliches Element, besonders wenn es um die Etablierung eines diskursiven Islams in einem westlichen Kontext geht. Diese Lesart beinhaltet doch den Aspekt der grenzlosen Freiheit. Der Anspruch auf das Monopol einer einzigen und richtigen Lesart der islamischen kanonischen Quellen und der Wissenstradition kann von keinem Gelehrten bzw. von keiner bestimmten Glaubensgemeinschaft oder Gruppierung, wie etwa hierzulande den so genannten Dachverbänden, beansprucht werden, denn dies führt zur Unmündigkeit des Textes und des Lesers.

Der historische Muḥammad als situativbedingter Verkünder einer Offenbarung und als Staatsmann wurde im Laufe der Jahrhunderte im Namen einer theologischen Orthodoxie zu einer Heilsfigur umgeformt und verfremdet. Der Prophet, wie ihn die Sunna zwei Jahrhunderte nach seinem Tod aus ideologischem Interesse darstellt, "steht für eine Religion und eine Gesellschaft, die nicht diejenige des Korans und somit auch nicht diejenige des historischen Mohammed" sind21. Und tatsächlich verschwindet das Bild des menschlichen Muḥammad durch seine Mythologisierung als unfehlbarer Mensch. Dem Korantext ist zu entnehmen, dass er nur ein Mensch sei (Koran18:110), der immer wieder von Gott kritisiert wird (Koran 80:1-10; 2:272 und 5:67).

Das menschliche Wesen des Propheten während seines Verkündigungsprozesses in einer bestimmten historischen Situation ist in der muslimischen Wissenstradition schlicht ignoriert worden und verlorengegangen.22 Man kann von einer Dogmatisierung des Lebens und Werkes des Propheten bis hin zu einer Mythologisierung in Form eines idealen und transzendentalen Rezeptionsverstehens sprechen. Also wird hierbei der Akzent pointiert auf die Darstellung von Muḥammad als gewöhnlicher Mensch gesetzt, der nicht unbedingt "frei von jeglicher menschlicher Tragik"23 war, denn inzwischen sind nicht mehr alle Muslime mit einer einseitig dogmatischen Behandlung der Biographie des Propheten einverstanden.24
Der muslimische Diskurs der Gelehrten leistete im Laufe der Jahrhunderte einen erheblichen Beitrag zur Konstituierung eines hagiographischen Bildes des Propheten, das im Bewusstsein der Muslime zur Imagination eines charismatischen Wundercharakters geführt hat. Das Ziel der Islamkritik liegt darin, seine Person von nachträglichen, historischen Verfremdungen und Rückprojektionen zu befreien, damit sich seine essentielle Rolle als unvollkommener Verkünder einer Religion herauskristallisiert.

Abschließend kann gesagt werden, wenn die historische Autorität der islamischen Klerus, die in anderen Zeiten entstanden ist, bis heute als die Wahrheit des Islams angesehen wird, dann besteht die Gefahr einer Abwehretablierung im kollektiven Bewusstsein gegen jeglichen Versuch, die islamische Religion gemäß der jetzigen Situation zu verstehen. Hierbei konstituiert sich die systematische Ablehnung der Selbstkritik bzw. der Islamkritik. Der herkömmliche historische Diskurs wird hierbei hagiographisch dogmatisiert. Er konkurriert heutzutage nicht nur mit den kanonischen Quellen (Korantext und Tradition des Propheten), sondern versperrt jegliche neuen Wege für eine humanistische Islamkritik. Die Existenz der Menschen mit ihrer jeweiligen und weltlichen Situation scheint dadurch funktionslos und inhaltsleer zu sein. Und somit wird ständig alles daran gesetzt, dass eine Berührung mit der Moderne und der Kultur des Westens vehement abgelehnt wird. Die Angst vor dem Verlust der eigenen kulturellen und religiösen Identität führt dazu, dass man abgeschirmt von fremden Einflüssen unter sich bleiben will. Ein Beispiel sind die so genannten "Parallelgesellschaft", die mit dem Rechtsstaat konkurrieren.25