Bizets "Carmen" mit Opera Incognita und Zuflucht Kultur

Alter Mythos neu gedacht

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George Bizets "Carmen" ist eine der meistgespielten Opern weltweit. Diesem Werk neue Töne und Facetten abzulocken ist eine Herausforderung, der sich die Opera Incognita gemeinsam mit dem Verein Zuflucht Kultur e.V.  in einer Münchner Neuproduktion unter dem Titel "Carmen – Chronik eines angekündigten Todes" erfolgreich stellt. Im Mixed Munich Arts, einem ehemaligen Heizkraftwerk im Hof der Katharina-von-Bora-Straße 8a, feiert ein hervorragend aufgestelltes junges Ensemble einen uralten Mythos ab.

Der Theaterraum ist ein breiter Schlauch. Das Publikum sieht auf eine kahle kalte Wand und zwei vergitterte Galerien weit weit oben. Die Bespielung des nur einige Meter tiefen, dafür aber umso breiteren Bühnenraums gelingt durch choreografisch ausladende Auftritte von Chor und Ensemble. Bühne und Zuschauerbereich verschmelzen zu einer Fabrikhalle, in der sich die Tragödie entwickelt. Mittendrin statt nur dabei erzeugt diese Art von Nähe eine Brutalität äußerster Wucht und macht eines klar: Bizets Meisterwerk ist mehr als eine schmissig komponierte Oper, die Spaß macht. Es ist eine Geschichte, die wehtut, wenn man richtig zuhört und vor allem nicht wegsehen kann.

Regisseur Andreas Wiedermann erzählt das Werk, ganz im Sinne eines zeitgenössischen Kriminalfilms, von hinten nach vorne. Am Anfang des Abends steht die Konfrontation zwischen Carmen und José vor der Stierkampfarena. Kurz vor dem Mord gibt es den ersten Zeitsprung zurück in die Kartenszene, in der Carmen ihren eigenen Tod voraussieht. Weiter geht es rückwärts bis an den Anfang der Chronik zur ersten Begegnung zwischen Mörder und Opfer. Dieses Verfahren unterstreicht einleuchtend den der Oper innewohnenden Handlungskern, indem ein Ehrenmord als logische Konsequenz aus allem was bisher geschah resultiert. Konsequent bleibt sich dieses Konzept auch bis zum Schluss treu, indem die Ouvertüre tatsächlich noch angespielt wird, bevor das Licht ausgeht.

Das Mini-Orchester unter der Leitung von Ernst Bachmann, musiziert zur rechten Seite der Zuschauer. Die Fabrikhallen-Akustik arbeitet an lauten Stellen für, an leisen eher gegen diese Konstellation. Das gut einstudierte Ensemble überbrückt die weiten räumlichen Distanzen zwischen Sängern und Orchester dabei scheinbar mühelos.

Musikalisch gibt es einen großen Teil der Original-Partitur zu hören, der an verschiedenen Stellen gespickt ist mit fernöstlichem Liedgut. Dieser Stil-Mix bringt Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Welten die in Don José und Carmen aufeinanderprallen zum Ausdruck. Mit unterschiedlichen Klängen und in verschiedenen Sprachen steht fest, dass es auf ewig und überall ein gebrochenes Herz und ein enttäuschtes Gefühl sein wird, das einen Menschen zu den unmenschlichsten Taten anzutreiben vermag. In den Arrangements von Ernst Bachmann findet dieser Stil-Mix zu einer dynamischen Einheit zusammen.

Das mit der Fusion zweier Truppen, bestehend aus Profis und Laien, eher klein angelegte Format übertrifft mit sängerisch hohem Niveau so manche Erwartung. Anne Elizabeth Sorbara (Frasquita) und Judith Beifuß (Mercedes) füllen an der Seite von Cornelia Lanz als Carmen im Damen-Trio stimmgewaltig und mit unerschütterlicher Verve den Raum und sorgen schauspielerisch für die nötige Portion erotischen Knisterns. Torsten Petsch ist – mit Goldkettchen und Vespa – ein Prolet wie er im Buche steht und beherrscht mit der bekannten "Toreador"-Nummer die Szenerie. Anton Klotzners Don José ist wahrhaft hin- und hergerissen zwischen Carmen und Micaela. Trotz leichter Probleme in der Höhe rührt er mit der Blumenarie das Publikum sogar zum Szenenapplaus. Julia Bachmann ist eine Micaela, die weder verträumt noch realitätsfern durchs Leben geht. Mit glockenreiner und technisch versierter Stimme zeigt sie eine Frauenfigur, die einer auch noch so faszinierenden Carmen an Anziehungskraft und Stärke in nichts nachsteht.

Von der nicht werk-immanenten Musik beeindruckt besonders das von Wisam Kanaieh vorgetragene arabische Liebeslied. Ihr Gesang verschmilzt auf homogene Weise auch dramaturgisch mit der Party in Lillas Pastias Kneipe. Anders verhält es sich da mit dem Gebet des jüdischen Kantor Yoéd Sorek. Unmittelbar bevor José Carmen mit mehreren Messerstichen abschlachtet, wird der Raum dunkel und Sorek singt. Sein Auftritt ist höchster Kunstgenuss und geht – zumal in einem ehemaligen Nazi-Gebäude – tief unter die Haut. Er zieht jedoch das Ende unverhältnismäßig in die Länge und will thematisch nicht recht ins Bild passen.

Die insgesamt drei Chöre (Chor Opera Incognita, Flüchtlingschor Zuflucht, Flüchtlingschor "Viel Harmonie") singen, rennen und springen den ganzen Abend was das Zeug hält und sind nicht nur musikalisch sondern auch darstellerisch voll bei der Sache. Die große Zahl engagierter Menschen aus ganz unterschiedlichen Teilen der Welt schafft in der kargen Halle die perfekte Hintergrundfolie eines kulturellen Schmelztiegels, der sogar in der Pause charmant eine Brücke zwischen Publikum und Künstlern schlägt, indem man sich bei Lillas Pastia persönlich eine Falafel bestellen darf. 

Das Licht-Design von Jan Robert-Sutter coloriert das Bühnengeschehen professionell, unaufdringlich und musikalisch sauber gedacht. Die Kostüme (Bianca Hedwig-Schmid) zeichnen die Figuren durch leicht angedeutete Klischees scharf, aber nicht aufdringlich. Carmens rote Schuhe zwinkern einem verschmitzt zu, als wollten sie sagen: Wir wissen ja alle, was hier gespielt wird. Aber wir tun es heute Abend mal anders... Gut so – und gerne mehr davon!

Weitere Informationen: www.opera-incognita.de/aktuell/