Ab Mittwoch tritt ein harter Lockdown in Kraft. Das öffentliche Leben wird durch verschärfte Corona-Maßnahmen auf das Wesentliche heruntergefahren. Ausgenommen davon sind ausdrücklich Gottesdienste. Was ist davon zu halten?
Wegen der hohen Corona-Infektionszahlen haben sich Bund und Länder auf einen harten Lockdown geeinigt, durch den zwischenmenschliche Kontakte auf ein Minimum reduziert werden sollen. Der Beschluss folgt damit in weiten Teilen der Empfehlung der Nationalen Akademie der Wissenschaften "Leopoldina". Diese hatte in einer Ad-hoc-Stellungnahme zu einem schnellen Handeln gedrängt, da Krankenhäuser und insbesondere das medizinische Personal bereits jetzt an der Grenze des Leistbaren stehen.
Die neuen Maßnahmen sehen unter anderem vor, dass Schulen und Kitas bis zum 10. Januar geschlossen werden sollen. Darüber hinaus soll auch der Einzelhandel weitgehend eingeschränkt werden, sofern er nicht dem täglichen Bedarf zuzuordnen ist. Betroffen sind weiterhin auch Gastronomiebetriebe, Kultur- und Freizeiteinrichtungen. Für Silvester und Neujahr wird zudem bundesweit ein An- und Versammlungsverbot umgesetzt. Grundsätzlich werden damit alle Bürgerinnen und Bürger dazu angehalten, physische Kontakte mit anderen Personen möglichst zu vermeiden.
Der Beschluss sieht allerdings eine Ausnahme besonders für religiöse Gottesdienste vor.
In dem Papier heißt es dazu: "Gottesdienste in Kirchen, Synagogen und Moscheen sowie die Zusammenkünfte anderer Glaubensgemeinschaften sind nur unter folgenden Voraussetzungen zulässig: Der Mindestabstand von 1,5 Metern wird gewahrt, es gilt Maskenpflicht auch am Platz, der Gemeindegesang ist untersagt. Bei Zusammenkünften, in der Besucherzahlen erwartet werden, die zu einer Auslastung der Kapazitäten führen könnten, ist ein Anmeldungserfordernis einzuführen."
Sorge besteht selbst unter Gläubigen
Bedenklich ist diese Ausnahmeregelung in erster Linie aus epidemiologischer Perspektive. In den vergangenen Monaten waren Gottesdienste und andere religiöse Zusammenkünfte nämlich häufig Superspreader-Events. Jüngst kam es etwa in einer Freikirche im nordrhein-westfälischen Kreis Lippe zu einer Masseninfektion. Von 165 Gottesdienstbesuchern wurde später mehr als ein Drittel positiv auf das Corona-Virus getestet.
Da in Gottesdiensten überdurchschnittlich viele ältere Menschen anzutreffen sind, besteht ein erhöhtes Risiko für schwere Krankheitsverläufe. Selbst bei weitgehender Einhaltung der vorgeschriebenen Hygienevorschriften steigt durch größere Menschenansammlungen die Infektionsgefahr und die Belastung des Gesundheitssystems insgesamt. Das Virus macht schließlich keinen Unterschied, ob es am "Fest der Liebe" oder an einem anderen Tag übertragen wird. Die Pandemie ist profan.
Dies wird inzwischen auch innerhalb der Kirche mit Sorge betrachtet: "Es ist lebensnotwendig für uns alle, auf Präsenzgottesdienste zu verzichten! Und zwar konsequent", appeliert etwa die württembergische Pfarrerin Gerlinde Feine an die Kirchenleitungen aller Landeskirchen und Diözesen. Ansonsten müsse man "mit der Schuld leben, Menschen überhaupt dazu eingeladen zu haben, ihre Wohnung zu verlassen und mehr Kontakte zu haben, als es im Moment ratsam ist".
Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA Consulere deutet darauf hin, dass die Mehrheit der Kirchenmitglieder die Position von Gerlinde Feine teilen. 60 Prozent der befragten Katholiken und 62 Prozent der Protestanten sind gegen Ausnahmeregelungen für Gottesdienste während eines Lockdowns und nur 25 Prozent der Katholiken und 21 Prozent der Protestanten dafür. Unter den Anhängern von Freikirchen waren 43 Prozent gegen Ausnahmeregelungen, 40 Prozent hingegen dafür.
Missachtung der weltanschaulichen Neutralität
Ein gewichtiger Punkt, der in der Debatte über Ausnahmeregelungen für Gottesdienste bislang kaum Beachtung fand, liegt in der weltanschalichen Neutralität des Staates begründet. Denn der Staat darf keine bestimmte Weltanschauung priviligieren – erst recht nicht, wenn dadurch die Gesundheit des Einzelnen und das Gemeinwohl gefährdert werden. Durch den aktuellen Beschluss geschieht aber genau das: Es wird impliziert, dass die religiöse Glaubenspraxis einen höheren Stellenwert habe als andere Formen kultureller beziehungsweise weltanschaulicher Praxis. Dies ist inakzeptabel.
Für so manchen Atheisten mag beispielsweise der Besuch einer Theaterinszenierung von Albert Camus' "Die Pest" den gleichen Stellenwert besitzen wie der Weihnachsgottesdienst für den gläubigen Katholiken. Beides kann gleichermaßen sinn- und identitätsstiftend sein. Der Staat darf hier kein weltanschauliches Werturteil fällen. Er darf den Glauben an einen Gott nicht als Kriterium heranziehen, um den Geltungsbereich der Freiheit auszuloten. Zugespitzt formuliert: Mit Gottesdiensten sollte genauso verfahren werden wie mit jeder anderen Theaterveranstaltung auch.
Jedenfalls ist es nicht einsichtig, vernünftige Maßnahmen des Infektionsschutzes zugunsten religiöser Befindlichkeiten außer Kraft zu setzen. Hier wie da werden elementare Grundrechte tangiert – unter anderem die Religionsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und die Kunstfreiheit. Ihre Einschränkung bedarf einer sorgfältigen, umsichtigen und unparteiischen Begründung, die nur unter säkularen Vorzeichen gefällt werden kann.
17 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
"... der Staat darf keine bestimmte Weltanschauung priviligieren" - hört, hört.
Und was ist von dem Staat zu halten, wenn er es trotzdem macht?
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Stell dir vor, es ist Christmett und keiner geht hin!
Religiöse Messen sind auch nur Theaterveranstaltungen mit mäßiger Originalität. Die sind auch an Weihnachten nicht bedeutsamer. Wichtig an Weihnachten ist bestenfalls der Charakter als Familienfest, der aber bequem ohne gottesdienstliche Besuche auskommt.
Warum wurde nicht längst ein neuer Termin für diese Form der Familienfeier angesetzt? Vielleicht im April, wenn wir uns als Bürger mal wirklich am Riemen gerissen haben und darauf achteten, niemandem zu nahe und schon gar nicht ohne Mund-Nasen-Schutz und anschließendem Händewaschen zu kommen. Und wenn wir uns alle impfen ließen und nicht irgendwas von "Bill Gates" rumnölten.
Dann könnte man bundesweit zwei Feiertage ansetzen, zu denen sich die Familien von überallher treffen können. Es muss doch nicht der 24., 25. und 26. Dezember sein. Da wurde das Christkind (falls das überhaupt noch eine Relevanz für unsere Konsumgesellschaft hat) garantiert nicht geboren...
David Z am Permanenter Link
"Es wird impliziert, dass die religiöse Glaubenspraxis einen höheren Stellenwert habe, als andere Formen kultureller beziehungsweise weltanschaulicher Praxis. Dies ist inakzeptabel."
Exakt. Inakzeptabel.
Werner Helbling am Permanenter Link
Mit diesen «privilegierten Massnahmen», schaden sich diese Religionsgemeinschaften im Grunde selber am meisten.
Konrad Schiemert am Permanenter Link
Helge Braun hat die Gottesdienste mit dem Totschlag-Argument begründet: Religionsfreiheit. Das ist die Universalwaffe gegen logischen Denken.
Bernd Kockrick am Permanenter Link
Gottesdienste sind doch wichtiger als andere Theaterveranstaltungen. Schließlich müssen wir Menschen (welchem?) Gott danken, dass er uns im Falle des Überlebens die Chance zu innerer Umkehr und Reinigung gibt.
Oder haben die Kirchen nur Angst um die ausbleibende Weihnachtskollekte?
Alex am Permanenter Link
Kein Wunder das in den Heiligen Katholikenhallen mit Coronaviren zu tun bekommen. Und warum? Nun, wer sind die Besucher dieser heiligen Gebäude?
Rainer Praetorius am Permanenter Link
Religiöses Theater wird erlaubt. Kino und künstlerisches Theater ist verboten. Diese Ungleichbehandlung wird von allen im Bundestag vertretenen Parteien abgenickt.
sitha Berg am Permanenter Link
Weiß jemand was die Verfassungsrichter gegen die Ungleichbehandlung z.B. gegenüber kulturellen säkularen Weltanschauungsveranstaltungen mit gleichen Bedingungen (AHA-Regeln einhalten)sagen?
sitha Berg am Permanenter Link
Halloween und St. Martins-Singen der Kinder wurde schon vor Wochen abgesagt. Aber die Sternsinger dürfen Geld einsammeln gehen. Auch dafür gibt es eine Ausnahme für die Kirchen.
Martin am Permanenter Link
Bei uns sind die Sternsinger abgesagt, es werden lediglich Spendentütchen in die Briefkästen geworfen.
sitha Berg am Permanenter Link
Diese Entscheidungen liegen im Ermessen der jeweiligen Gemeinden. Aber generell sind sie nicht verboten durch den Lockdown.
Blasius am Permanenter Link
Wir haben, als wir in Österreich diese Diskussion führen mußten, eine FAQ dazu geschrieben, die ganz gut angenommen wurde:
https://avoesterreich.at/religion/faq-zur-einschraenkung-von-gottesdiensten/
Martin Franck am Permanenter Link
Bei der ersten Welle im Frühjahr gaben sich beide Kirchen recht staatstragend. Die Sonntagspflicht wurde aufgehoben. Dann sah man sich um, und stellte fest, daß Baumärkte systemrelevant waren, und Kirchen nicht.
Theologisch ist zwar Ostern das höhere Fest, aber für Weihnachtschristen ist der Gottesdienst am Heiligen Abend der bedeutendere Termin.
Cafeteria Kulturchristen werden gerne gesehen: Sie machen kaum Arbeit, meckern nicht rum, aber zahlen fleißig ihren Kirchensteuerbeitrag. Jetzt bei der zweiten Welle wurde man nicht überrumpelt, sondern man hatte Zeit, sich zu positionieren.
Was sind die Argumente? Die zweite Welle ist viel stärker als die erste Welle. Man weiß jetzt auch um die große Bedeutung der Aerosole.
Bieten große Kathedralen genügend Schutz? Den Abstand kann man wahren. Bekommt man aber so einen großen Raum aber auch wieder gelüftet? Denn es wurde ja vorgeschlagen mehrere Gottesdienste hintereinander abzuhalten. Auch müsste man die Höchstdauer beschränken. Das Problem ist aber nicht nur die Zeit im Gottesdienst, sondern die Zeit davor und danach.
Den Vergleich mit Kultureinrichtungen wie Theater (siehe: https://www.welt.de/politik/deutschland/plus222086596/Verfassungsrechtler-Ausgangssperre-Sie-finden-immer-einen-Grund-der-triftig-im-Sinne-der-Verordnung-ist.html (Paywall) https://www.katholisch.de/artikel/27899-verfassungsrechtler-kein-unterschied-zwischen-liturgie-und-theater (Zusammenfassung)) hält der Gottesdienst juristisch nicht stand.
Auch findet nicht jeder Gottesdienst in großen Kathedralen statt. Die Ausnahme wird jedoch nicht gegeben nach Kubikmeter Raumluft pro Besucher, sondern allgemein.
Hinzu kommt noch ein Nebeneffekt. Man fragte sich ja, wieso man erst so spät den Lockdown verfügte? Die ganzen Esoteriker, Querdenker, Reichsbürger etc. schufen eine Stimmung, die erst kippte, als die Intensivstationen schon ans Limit kamen.
Versucht man wieder einen Kuschellockdown mit nicht gerechtfertigten Ausnahmen, dann kann das Bild entstehen, daß es vielleicht doch nicht nicht ganz so schlimm ist, und noch etwas Puffer vorhanden ist mit etwas Spielraum. Es ist also auch psychologisch das falsche Zeichen.
Martin Franck am Permanenter Link
In https://www.katholisch.de/artikel/27946-gottesdienste-an-weihnachten-religionsfreiheit-ist-nicht-grenzenlos sagt https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Michael_Heinig „Die Religionsfreiheit ist nicht grenzenlos gewährt
Die Pro-Argumente https://www.katholisch.de/artikel/27945-pro-und-contra-in-der-corona-pandemie-weihnachtsgottesdienste-feiern greifen nicht. Daß bisher Gottesdienste der RKK und EKD (im Gegensatz zu Freikirchen) nicht als Superspreader nachgewiesen werden konnten besagt nichts. Erstens ist die bisherige Anzahl der Besucher nicht mit dem Andrang an Heiligabend zu vergleichen. Man vergleicht also Äpfel mit Birnen. Und zweitens konnten immer weniger Infektionswege nachgewiesen werden. Das etwas existiert, selbst wenn es nicht sichtbar ist, sollten auch Kirchen einmal akzeptieren.
Der Kommentar in https://www.tagesspiegel.de/politik/sollen-im-lockdown-gottesdienste-gefeiert-werden-die-kirchen-muessen-nein-sagen-auch-an-heiligabend/26716898.html schreibt, daß ja die Kirchen immer Demut, Opferbereitschaft und Solidarität predigen.
Der Autor zitiert https://www.bibleserver.com/EU/Matth%C3%A4us5%2C37 Mt 5,37. Ich aber finde https://www.bibleserver.com/EU/Matth%C3%A4us5%2C40 Mt 5,40 passend. „Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel!“ Und wenn Dir ein Gericht nur ein Hygienekonzept auferlegt, dann sage auch den Gottesdienst ab.
Als der Autor des Matthäus-Evangeliums in seiner fiktiven Geschichte die Magier aus dem Osten den Neugeborenen huldigen lassen wollten, führte das nur zu https://de.wikipedia.org/wiki/Kindermord_in_Bethlehem und zur https://de.wikipedia.org/wiki/Flucht_nach_%C3%84gypten .
sitha Berg am Permanenter Link
Danke für die vielen Hinweise!
Regina am Permanenter Link
Zitat Dr. Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts:
"Es gibt mittlerweile sehr gute Gottesdienstkonzepte. Wir haben in den vergangenen Monaten weniger Ausbrüche in Kirchen gesehen. Werden die Hygienekonzepte eingehalten, kann man meines Erachtens relativ sorglos zum Gottesdienst kommen. Dagegen sind Gedränge und Gesang oder Blasinstrumente leider ein optimaler Verbreitungsweg für das Virus."
Zitat Prof. Christoph Markschies, Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina:
"Die beiden großen Kirchen gehören zu den besonders regelkonformen Institutionen mit Blick auf die Einhaltung der coronabedingten Abstands- und Hygieneauflagen."
Die Wissenschaft hat also keine Bedenken. Daran sollte man sich doch orientieren, ganz frei von Ideologie.