Urteil des Verfassungsgerichtshofs

Lockdown-Ausnahme für Kirchen in Österreich gleichheitswidrig

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Der bislang letzte Covid-19-bedingte Lockdown in Österreich trat am 22. November 2021 in Kraft und dauerte bis zum 11. Dezember. Es war der Höhepunkt der Delta-Welle, die die Krankenhäuser bereits an oder über den Rand des Zusammenbruchs brachte. Frühere Maßnahmen wie die Durchimpfung von etwa zwei Dritteln der Bevölkerung und Einschränkungen für Ungeimpfte brachten nicht das erhoffte Ergebnis, die Krankenhaus-Auslastung stieg, das Gesundheitsministerium sah es als notwendig an, den Lockdown zu verkünden. Doch für die Kirchen galt er nicht – im Gegensatz zu anderen Kulturveranstaltungen. Dass dies gleichheitswidrig war, urteilte jetzt der Verfassungsgerichtshof.

Die öffentliche Diskussion kreiste damals um Ausnahmen vom Lockdown, wie Skilifte, die in Betrieb blieben, während man andere Sportstätten im Freien nur mit Familie und engen Bezugspersonen nutzen konnte und dafür auch keine Winterjacke in einem Geschäft kaufen durfte. Dass für Zusammenkünfte zur Religionsausübung eine pauschale Ausnahme bestand, war zu diesem Zeitpunkt nichts Neues mehr: Dies war in den vorangegangenen Verordnungen, die die früheren Lockdowns regelten, genauso, und die daran geäußerte Kritik  beeindruckte das federführende Gesundheitsministerium nicht.

Nun erkannte der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) in der Entscheidung V 312/2021-15, dass es zwischen Grundrechten keine Hierarchie zugunsten der Religionsausübung gibt und die ausnahmslose Einstellung des Kulturbetriebs bei gleichzeitig komplett freigegebener Religionsausübung eine unzulässige Ungleichbehandlung darstellt. Diese Erkenntnis läutet eine neue Bewertung der Beziehungen zwischen Kirche und Staat ein.

Grundrechte sind in Österreich in zwei wichtigen Quellen festgelegt, die Erkenntnis verweist auf beide: Einerseits im Staatsgrundgesetz, andererseits in der Europäischen Menschenrechtskonvention, die in Österreich seit 1964 ebenfalls in Verfassungsrang ist (BGBL 59/1964). Beide zählen Grundrechte auf, ohne sie in eine erkennbare Hierarchie zu stellen, und führen auch an, welche Grundrechte (normalerweise im Konfliktfall mit anderen Grundrechten) wo und wie eingeschränkt werden dürfen.

Da die Verordnung längst nicht mehr in Kraft ist, hat die Erkenntnis des VfGH nur sehr eingeschränkte unmittelbare Folgen. Da die BeschwerdeführerInnen (verschiedene Kulturschaffende) im Wesentlichen obsiegt haben, muss das unterlegene Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz die Entscheidung kundmachen und die Gerichtskosten sowie auch die Anwaltskosten der BeschwerdeführerInnen tragen. 

Sollte es noch einmal zu einem Lockdown kommen, wird die Verordnung auf alle Grundrechte gleichermaßen Rücksicht nehmen müssen. Die VerfassungsrichterInnen bestätigten, dass ein Lockdown, also die Einschränkung der Grundrechte, eine verhältnismäßige und wirksame Maßnahme sein kann – dann aber für alle Bereiche. Bei religiösen Zusammenkünften gab es auch Ansteckungen, trotz der Vorgaben der Österreichischen Bischofskonferenz, die mehr oder weniger ähnlich von vielen Religionsgemeinschaften beachtet und befolgt wurden.

Religionsfreiheit ist kein Supergrundrecht

Längerfristige Folgen der Erkenntnis dürften schwer wiegen. Die Feststellung, dass jene Grundrechte wie Meinungs- und Kunstfreiheit, die im Staatsgrundgesetz aufgeführt sind, eine gleich starke Wirkung wie die Religionsfreiheit haben, wird noch einige öffentliche Diskussionen beeinflussen. Vielfach wurde bisher die Religionsfreiheit als Supergrundrecht betrachtet, das alles andere trumpft. Dies ist nicht mehr aufrechtzuerhalten.

In säkularen Gesellschaften, in denen die Bevölkerungsmehrheit ehemaliger Staatskirchen langsam zu Ende geht, gibt es verschiedene umstrittene Themen, für die bisher die Annahme galt, dass die Religionsfreiheit unantastbar wäre und nicht gegen andere Rechte abgewogen werden müsse.

Nach der Präsentation des Missbrauchsberichts im Herbst 2021 gab es in Frankreich eine Diskussion um das Beichtgeheimnis. Dort wurde der zuständige Bischof nach trotzigen Äußerungen ins Innenministerium zitiert, wonach klar wurde, dass die Gesetze der Republik bezüglich Anzeigepflicht von Verbrechen wie Kindervergewaltigung für alle gelten. Einschränkungen des Beichtgeheimnisses in Österreich zugunsten einer Meldepflicht für schwere Verbrechen? Ab sofort keine abwegige Vorstellung.

Recht auf körperliche Unversehrtheit, speziell das Verbot von Genitalverstümmelung? Für Frauen und Mädchen bereits umgesetzt, egal, welche religiösen, kulturellen oder traditionellen Aspekte dem entgegenstehen. Es ist jetzt klar, dass die Religionsfreiheit (der Eltern) nicht höher steht als andere Grundrechte. Dass die Religionsausübung mit normalen Gesetzen geregelt werden kann, steht einerseits in beiden Rechtsquellen, andererseits ist es auch klar. Niemand könnte die Maya-Religion mit regelmäßigen Menschenopfern wieder in Österreich einführen. Vielleicht wird diese Selbstverständlichkeit auch einmal für eine Baby-Vorhaut gelten.

In Deutschland und in der Schweiz gab es bereits Prozesse um Hassrede von christlichen Geistlichen, die mit der Bibel die Unterdrückung homosexueller Menschen rechtfertigen wollten. Knackpunkt war immer, ob die Religionsfreiheit höher zu bewerten sei als etwa das Recht, nicht diskriminiert zu werden. Diese Entscheidung wird in Österreich in Zukunft den Gerichten leichter gemacht: Sonderrechte für die Religionsausübung wurden ja soeben verneint. Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit sind gleich wichtig; Hassrede gegen Homosexuelle ist Hassrede, auch wenn sie eine biblische Basis hat.

Andere strittige Punkte wie die Benachteiligung von Frauen in bestimmten Religionsgemeinschaften (eigentlich ein Eingriff in ihre Religionsfreiheit, wenn sie bestimmte Ämter nicht ausüben dürfen), inhumane Methoden der Tierschlachtung, Privilegien von Religionsgemeinschaften gegenüber anderen Vereinen und andere Ausnahmen könnten in Zukunft zur Diskussion stehen.

Verschnupfte Kirchenvertreter

Die evangelische Kirche reagierte auf die Entscheidung etwas verschnupft. Synodenpräsident Peter Krömer betonte, dass laut Artikel 15 des Staatsgrundgesetzes die Religionsgemeinschaften ihre inneren Angelegenheiten selbst regeln. Diese Rechtsfiktion, beliebige Aspekte zur inneren Angelegenheit zu erklären, kennen wir auch aus Deutschland, und auch der katholische Rechtsreferent der Bischofskonferenz, Markus Brandner, äußerte sie.

Peter Krömer verwies auf die strengen Auflagen, die einige Religionsgemeinschaften sich selbst auferlegten (und dann nicht konsequent einhielten), als ob das in diesem Fall irgendwie relevant wäre – der Verfassungsgerichtshof hat ja nicht das Fehlen von Auflagen kritisiert, sondern die Tatsache, dass die Verordnung zwei vergleichbare, grundrechtlich geschützte Bereiche völlig unterschiedlich regelte. Der Kulturbereich bekam nicht einmal die Gelegenheit, sich Auflagen zu geben, während die Religionsausübung komplett von der Verordnung ausgenommen wurde. Der Wunsch nach dem Supergrundrecht Religion ist in einigen kirchlichen Bereichen noch recht stark, die Konfrontation mit der Realität umso härter.

Die Argumentation, dass freiwillige Beschränkungen eine Gruppe dem allgemeinen Gesetz entziehen, ist genau jene, der in der Entscheidung der VerfassungsrichterInnen eine Absage erteilt wurde. Gesetze und Verordnungen gelten für alle, und die Religionsausübung steht nicht über anderen Grundrechten.

Die Kultusministerin Susanne Raab (ÖVP) hielt in einer ersten Reaktion nur fest, was alle wissen: Dass die Religionsfreiheit ein hohes Gut ist. Sie hob hervor, dass die Regelungen mit den Religionsgemeinschaften partnerschaftlich getroffen wurden – eine Bevorzugung, die dem Kulturbereich nicht zuteil wurde. Somit geht ihre Äußerung am Kern der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs vorbei und ist höchstens als Signal an die Kirchen verständlich. Eigentlich würden die BürgerInnen von der Politik erwarten, dass sie das Urteil zur Kenntnis nimmt und in Zukunft auf verfassungswidrige Bevorzugung der Kirchen verzichtet.

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