Der österreichische Rechtsphilosoph und Staatsrechtler Hans Kelsen veröffentlichte 1929 die erweiterte Ausgabe von "Vom Wesen und Wert der Demokratie" im Sinne eines realistischen Verständnisses. In der heutigen Demokratiedebatte verdient sie wieder Interesse – und ist für unter fünf Euro in einem Neudruck zu haben.
In einer Ära der Demokratiegefährdung bedarf es einer Demokratievergewisserung. Anlass bieten kann ein Klassikers der Demokratietheorie: Hans Kelsens "Vom Wesen und Wert der Demokratie", einem in erweiterter Fassung 1929 erstmals erschienenem Werk. Der Autor ist vor allem als Rechtsphilosoph bekannt geworden, gehörte er doch mit seiner "Reinen Rechtslehre" zu den bedeutenden Rechtspositivisten des 20. Jahrhunderts. Er legte aber auch demokratie- und staatstheoretische Grundlagenwerke vor. Dazu gehörte das gemeinte Buch, das auf eine Kurzfassung von 1920 zurückging und von Kelsen eben später zu einem systematischen und umfangreichen Werk weiterentwickelt wurde. Eine Neuausgabe erschien jetzt im Reclam-Verlag, versehen mit einem ausführlicheren Nachwort von Klaus Zeleny. Dieser informiert darin über die Biographie, Kernpositionen, Schriften und Wirkung des Verfassers. Insofern könnte man dies auch als Einleitung lesen, sofern die Grundpositionen von Kelsen als Rechtsphilosoph und Staatsrechtler nicht bekannt sind.
Sein "Demokratie"-Buch gliedert sich in zehn Kapitel, worin die unterschiedlichsten Aspekte zur Deutung des gemeinten Ordnungsmodells thematisiert werden. Ausgangspunkt ist dabei die Freiheit des Individuums. Es bedürfe aber für das Miteinander der Menschen einer Regelung durch eine Ordnung: "Müssen wir aber beherrscht werden, dann wollen wir nur von uns selbst beherrscht sein." (S. 10) Dies ist für Kelsen nur dann möglich, wenn eine Mehrheit diese mitträgt: "Nur der Gedanke, dass – wenn schon nicht alle – so doch möglichst viel Menschen frei sein, d. h. möglichst wenig Menschen mit ihrem Willen in Widerspruch zu dem allgemeinen Willen der sozialen Ordnung geraten sollen, führt auf einem vernünftigen Weg zum Majoritätsprinzip." (S. 17) Kelsen ging mit Rousseau von einer Identität von Regierenden und Regierten aus, ohne aber dessen antipluralistischen Konsequenzen zu übernehmen. Für seine Demokratietheorie unterschied er einen Ideal- und einen Realbegriff des Volkes, denn von dessen Einheit und Homogenität könne man nicht sprechen.
Diese Einsicht mündete im Parlamentarismus und Parteienstaat: "Gerade weil die Demokratie als Parteienstaat den Gemeinschaftswillen nur als Resultante der Parteiwillen entstehen lassen will, kann sie auf die Fiktion eines überparteilichen 'organischen' Gesamtwillens verzichten." (S. 38) Eine direkte Demokratie sei im modernen Staat praktisch unmöglich, insofern wäre die einzige reale Form im Parlamentarismus zu finden. Dazu gibt es auch viele Anregungen bei Kelsen, wobei es um die Reform des Parlamentarismus geht. Seine Bejahung des Majoritätsprinzips schloss indessen immer die Minorität mit deren Rechten ein. Damit einher gingen für den Einzelnen Freiheits- und Grundrechte, wodurch sich sein Schutz durch den Staat ergebe. Bei allem seien reale Kompromisse zwischen den Kräften wichtig, existiere doch keine absolute höhere "Wahrheit". In einer Fußnote versteckt heißt es dann bilanzierend: Er entscheide sich für die Demokratie "aus der Beziehung der demokratischen Staatsform zu einer relativistischen Weltanschauung" (S. 118).
Die Demokratie wird bei Kelsen formal und nicht inhaltlich begründet, er ist auch nicht idealistisch, sondern realistisch bei seiner Wahrnehmung. Damit steht die Auffassung auch gegen eine falsche Romantisierung, die immer wieder zu Fehldeutungen und Fehlerwartungen gegenüber dem Parlamentarismus führte. Manche Formulierungen muss man indessen zeitbedingt lesen, "Führerauslese" und "Relativismus" meinten etwas anderes als heute. Letzteres steht für die Einsicht in die Grenzen menschlichen Wissens und für die Notwendigkeit von Pluralismus und Vielfalt. Denn allenfalls die religiös Gläubigen könnten auf höhere Rechtfertigungen verweisen, was dann ganz zum Schluss mit ironisierendem Unterton vermerkt wird. In einer Ära, wo politische Akteure etwas großspurig vom "Mut zur Wahrheit" sprechen, tut dieser Realismus gut. Es bedarf aktuell einer breiten Debatte über die Demokratie und ihr Verständnis, wozu Kelsens klassische Betrachtungen gute Reflexionen liefern. Für unter fünf Euro kann man sie nun erneut zur Kenntnis nehmen.
Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Stuttgart 2018 (Reclam-Verlag), 163 S., ISBN ISBN: 978-3-15-019534-5, 4,80 Euro