BERLIN. (hpd) "Wir sollten nicht Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte sein". Dieser Satz könnte 100 Jahre alt sein, selbst wenn er von unserem Bundesinnenminister Thomas de Maizière am 4. März 2016 geäußert wurde. Er wollte damit die anvisierte engere Kooperation mit der Türkei – trotz internationaler Kritik am Vorgehen gegen Medien und Kurden – verteidigen.
Diese Haltung hatte Deutschland schon vor exakt 100 Jahren gegenüber der Hohen Pforte in Istanbul, als das Sultanat mit den Minderheiten "gründlich aufräumte".
1915 schrieb der deutsche Botschafter Hans von Wangenheim aus Istanbul an den deutschen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg:
Dass die Verbannung der Armenier nicht allein durch militärische Rücksichten motiviert ist, liegt zutage. Der Minister des Innern Talaat Bey hat sich hierüber kürzlich gegenüber dem zur Zeit bei der kaiserlichen Botschaft beschäftigen Dr. Mordtmann ohne Rückhalt dahin ausgesprochen, dass die Pforte den Weltkrieg dazu benutzen wollte, um mit ihren inneren Feinden – den einheimischen Christen – gründlich aufzuräumen, ohne dabei durch die diplomatische Intervention des Auslands gestört zu werden; das sei auch im Interesse der mit der Türkei verbündeten Deutschen, dass die Türkei auf diese Weise gestärkt würde.
1915 wurde das syrische Wüstengebiet Deir ez-Zor zum Endziel der vertriebenen Armenier, wo sie letztendlich umgebracht wurden. Wenige überlebende Armenier haben in Syrien Gemeinden gegründet. Auch heute werden in Syrien armenische Kinder, Frauen und Männer vergewaltigt, versklavt und geschächtet, von den IS-Monstern, die über die Türkei geschickt werden. Mitte Januar 2016 wurden über 300 Menschen in Deir ez-Zor enthauptet, darunter auch Kinder, und 400 Personen verschleppt.
Deutschland schweigt. Deutschland will nicht den Schiedsrichter spielen, sich nicht in die inneren Angelegenheiten des Sultans einmischen und die Waffengeschäfte mit den "demokratischen" Ländern Katar und Saudi Arabien gefährden.
"Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land" (15.09.2015). Mit diesem Satz hat unsere Bundeskanzlerin viel Anerkennung geerntet.
Ich erwarte von meiner Bundeskanzlerin, dass sie sagt: "Wenn wir mit unserer Geschichte unsere Augen vor dem Völkermord in Syrien abwenden und mit den Mördern ungehindert Geschäfte treiben, dann ist das nicht mehr mein Land". Denn es geht nicht mehr um ein "freundliches Gesicht gegenüber den Flüchtlingen".
Sie darf sich nicht mehr hinter der dubiosen Torwächterrolle Erdogans bei der Bewältigung des Flüchtlingsaufkommens verstecken und tot stellen.
Erdogan darf von Kurden bewohnte Millionenmetropolen in Schutt - und Asche legen, Hunderttausende vertreiben, in den Kellern vor Panzergranaten schutzsuchende Menschen töten lassen, die Justiz auf Befehl funktionieren lassen, Journalisten, Akademiker und Anwälte inhaftieren lassen. Er darf tausende von Menschen wegen Beleidigung des Präsidenten verklagen, die Immunität von oppositionellen Abgeordneten angreifen, den sog. Islamischen Staat mit Waffen beliefern, mit seinem Geheimdienst im In- und Ausland schalten und walten. Und unsere Bundeskanzlerin versteckt sich hinter einer türkischen Floskel: "Die Türkei darf gegen Terrorismus kämpfen." Nur, wer Terrorist ist, das bestimmt Erdogan.
Vor 100 Jahren war es nicht anders. Aus der Sicht Deutschlands durfte die Hohe Pforte (Sultan) bestimmen, wer aufständische Armenier waren.
Auf Eingaben der deutschen Botschaft hatte die türkische Regierung am 22. Dezember 1915 darauf hingewiesen, dass die Maßnahmen gegen die armenische Bevölkerung des Reichs ausschließlich innere Angelegenheiten der Türkei betreffen. Jedes Land habe das Recht, Maßnahmen zu ergreifen um auf seinem Territorium stattfindende subversive Tätigkeiten auszulöschen. (Gust, Völkermord an den Armeniern 1915/1916, Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, 2005, S. 82.)
Der breitbeinige Islamist hat sofort bemerkt, dass die europäischen Regierungen mit ihrer Wirtschaftsausrichtung ziemlich gierig, bestechlich und erpressbar sind. Er führt uns vor, dass es keine Kopenhagener Kriterien für den Beitritt der EU gibt, sondern lediglich Erpressungskriterien.
Als Erdogan mit China über den Flugabwehrsystemen verhandelt hat, sind die USA und die EU in Panik verfallen. Erdogan wurde sofort im Weißen Haus und in europäischen Palästen hofiert, bis die Vereinbarung mit China annulliert war.
Als die Krim mit dem Referendum beschäftigt war, ob sie sich der Russischen Föderation anschließen sollte, hatte sich Russland einerseits und die USA-EU andererseits möglichst unsichtbar in Schale geworfen, um den Ausgang des Referendums und die weitere Entwicklung zu beeinflussen. Erdogan genierte sich nicht, fast zeitgleich mit Putin ein Energieabkommen abzuschließen (Dezember 2012), das unter anderem den Bau eines Kernkraftwerks in einem Naturschutzgebiet vorsah. Trotz der beschlossenen Sanktionen der EU und USA gegen Russland, liefen die türkischen Geschäfte mit Russland rund.
Dass die zweitstärkste Armee der Nato ihre eigenen Grenzen und Gewässer nicht kontrollieren kann, klingt für die Bundeskanzlerin logisch. Trotzdem will sie ernsthaft über die Visafreiheit diskutieren. Sie glaubt, dass, einem Land, das seine Grenzen nicht kontrollieren kann, Visaliberalisierung in Aussicht zu stellen, auch logisch wäre. Neigen wir eher zum Mythos, weil wir mit dem Logos nicht klar kommen?
Vor dem letzten EU-Türkei-Gipfel hat Erdogan laut geschrien, dass er das Urteil des Verfassungsgerichts nicht anerkannt, mit dem dieses die Journalisten Can Dündar und Erdem Gül auf freien Fuß gesetzt hat. Die Prinzipienlosigkeit der EU hat er regelrecht zur Schau gestellt, indem er die auflagenstärkste Zeitung seines Landes nur einen Tag vor dem EU-Gipfel unter Zwangsverwaltung stellen und von der Polizei erstürmen ließ.
Ja, die Bundesrepublik Deutschland ist nicht Schiedsrichter, sondern Mitspieler. Sie muss sich nur entscheiden, auf welcher Seite sie spielt und gegen wen sie kämpft. Denn, "Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt", wie es Thomas Mann einmal pointiert ausgedrückt hat.
2 Kommentare
Kommentare
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Sehr richtig!
Völkerrechtlich ist die Einmischung in innere Angelegenheiten eines fremden Landes sicher heikel. Aber muss man sich mit einem Land, das erkennbar gegen die Interessen seines eigenen Volkes vorgeht, gemein machen?
China ist auch so ein Land, aber die deutsche Wirtschaft scharrt mit den Hufen, wenn deutsche Politiker zu sehr auf die Einhaltung (Einführung) von Menschenrechten drängen. Nach wie vor ist ein auf Export hin orientiertes Hochtechnik-Land wie Deutschland genau dort angreifbar.
Es geht um Arbeitsplätze bei uns. Brechen diese weg, wird die Regierung, die das zuließ oder auslöste bei der nächsten Wahl abgestraft. Aber würde denn der Handel mit menschenrechtsfeindlichen Staaten zum Erliegen kommen, wenn unsere Politiker nicht nur das Fehlen rechtsstaatlicher Normen anklagen, sondern auf Umsetzung menschenrechtskonformer Bestimmungen pochen - z.B. als Voraussetzung für ungehinderten Wirtschaftsverkehr?
Schließlich kaufen diese Länder nicht von ungefähr bei uns ein, weil wir dank unseres Bildungssystems hochwertige Produkte produzieren. Die Türkei ist auch in vielen Punkten abhängig von Europa - z.B. im Tourismus, wo gerade kaufkraftstarke Touristen essentiell für die eigene Wirtschaft sind.
Wir sollten uns unserer eigenen Stärken bewusst werden und deutlich sagen, dass es mit einer Türkei in der derzeitigen Verfassung keine Beitrittsverhandlungen zur EU geben darf. Was sollte danach passieren? Die Türkei macht in Bezug auf die Flüchtlinge sowieso was sie will.
Es ist letztlich die ganz große Frage, wie mit Schurkenstaaten umgegangen wird. Ich wäre immer für Dialog und Diplomatie, aber nicht um jeden Preis. Diktaturen oder Scheindemokratien haben weltweit ein erhebliches Problem: Sie leben auf Kosten ihrer oft armen Bevölkerung! Repressionen sind an der Tagesordnung, um wenigstens das Nötigste - oft genug durch humanitäre Auslandsspenden aufgestockt - bereitzustellen.
Die DDR ist genau daran zugrunde gegangen. Sie war am Ende pleite, obwohl sie massiv am Tropf des Westens hing. Aber die Bürger der DDR ("das Volk") hatten ein Vorbild in greifbarer Nähe, in dem die gleiche Sprache gesprochen wurde. Das fehlt in den meisten anderen Ländern, wobei es der Türkei wirtschaftlich nicht mal so schlecht geht. Dort ist die Bereitschaft, die Regierung abzuwählen, also vermutlich nicht sehr weit verbreitet.
Hier wäre es ein Gebot der Stunde, wenn das Ausland - mit allem diplomatischen Geschick - deutlich macht, was wir von einer Türkei erwarten, mit der wir auf Augenhöhe über was auch immer verhandeln wollen. Dabei muss vermieden werden, dass die Bevölkerung Zuflucht beim starken Erdogan sucht und den "bösen Westen" wg. seiner Einmischung in innere Angelegenheiten ablehnt.
Die Tür Europas sollte also erkennbar offen bleiben - allerdings mit der unzweideutigen Ansage, dass die Regeln der EU beim Eintritt bedingungslos eingehalten werden müssen. So lange die Türkei dies nicht hinbekommt, muss die Tür ebenso unmissverständlich geschlossen bleiben.
Das mag die europäische Wirtschaft nicht erfreuen, aber ich schätze, der Schaden wird geringer sein, als der mögliche Nutzen...
Dieter Bauer am Permanenter Link
Klare Ansagen, wie in vorliegendem Kommentar, müssen mehr Beachtung bei den Verantwortlichen finden, soll es zu brauchbaren Regelungen und deren Durchsetzung führen.