Nach dem Brexit-Votum

Wie Enttäuschte die Grundsätze der Demokratie missachten

Nun ist Prof. Dr. Weßels vom Institut für Sozialwissenschaften, Bereich Demokratie und Demokratisierung an der Humboldt-Universität in Berlin, kein Laie, doch sein angedachtes Kriterium eines Zustimmungsquorum (ZQ) von 50 Prozent würde weltweit Raritätenstatus genießen. Vor allem aber wäre Großbritannien gar kein Mitglied der EG geworden, denn der Beitritt wurde in der Volksbefragung von 1975 von weniger als 50 Prozent (44,6 Prozent) aller Abstimmungsberechtigten befürwortet. Eine Liste der Volksabstimmungen (VA), die infolge eines ZQ von 50 Prozent "nicht belastbar" wären und annulliert werden müssten, würde fast alle bisher weltweit stattgefundenen VA umfassen.

Und obwohl Prof. Weßels in der Forschung auf das Thema Wahlen spezialisiert ist, scheint ihn nicht zu stören, dass bei einem ZQ von 50 Prozent das Wahlgeheimnis aufgehoben wäre, denn die Abgabe einer Nein-Stimme hätte keinerlei Auswirkung auf den Abstimmungsausgang. Die Nein-Stimmenden bräuchten gar nicht ins Abstimmungslokal zu gehen, wodurch alle dort Erscheinenden als Ja-Stimmende identifizierbar wären. Darüber hinaus stellt sich das logische Problem, welche Wirkung ein ZQ, das ja ein Kriterium für die Verbindlichkeit einer Abstimmung darstellt, bei einer per Definition unverbindlichen Volksbefragung entfalten soll?

Prof. Weßels hält 37,5 Prozent aller Abstimmungsberechtigten für "nicht belastbar". Es stellt sich die Frage, aus welchen Beweggründen selbst durch viele Politikwissenschaftler VA immer wieder die Legitimität abgesprochen wird, obwohl sich deren Ergebnisse bei wichtigen Themen in absoluten Prozentwerten gemessen von Wahlen nicht unterscheiden bzw. sogar höher liegen? Vergleichsweise verfügen die im Britischen Unterhaus allein regierenden Tories nur über eine Legitimität von 24,4 Prozent aller Wahlberechtigten, eben den Wählern der Tories. Und mit Blick auf Deutschland finden sich nur zwei deutsche Landesregierungen (Baden-Württemberg und Hessen) mit einer Zustimmung von 37,5 Prozent aller Wahlberechtigten, alle anderen sind von weniger als 30 Prozent legitimiert.

37,5 Prozent aller Abstimmungsberechtigten ist eine international vergleichbare und hohe Zustimmung. (Sie entspricht z.B. exakt dem Votum der Iren bei der Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe im Mai 2015.) Allein schon an der hohen Abstimmungsbeteiligung von 72,2 Prozent, welche deutlich über der Wahlbeteiligung von 66,1 Prozent bei den letzten Unterhauswahlen lag, ist erkennbar, dass es der Brexit-Volksbefragung keinesfalls an Legitimität mangelt, wie es manche suggerieren wollen.

"Keine echte Mehrheit" und "nicht belastbar" wird in Verbindung mit akademischen Titeln bei Spiegel-Online als "Demokratie-Argument"(!) aufgegriffen, um im Stil einer Anklageschrift das Abstimmungsergebnis offen infrage zu stellen. Dort finden sich auch weitere Einwände gegen den Verlauf der Brexit-Volksbefragung. Bemängelt werden Lügen, unzulässige Zuspitzungen, Angstmache politischer Akteure, der Irrtum der Abstimmenden und anderes mehr, um letztlich in der Frage zu münden, ob all dies nicht eine Wiederholung der Abstimmung rechtfertigt?

Mit dem Verweis auf eine mangelhafte politische Diskussionskultur wird versucht, das Abstimmungsergebnis zu revidieren. Aber Wahlen sind gleichermaßen regelmäßig von politischer Unkultur geprägt: Wähler werden im Voraus belogen und im Nachhinein betrogen. Sind Wahlen aus diesem Grund jemals wiederholt worden? Nein, weil politische Falschmünzerei nicht justiziabel ist, solange sie keine geschützten Rechtsgüter verletzt. Mögliche Wählertäuschung ist für viele ein Argument, dass sie mit Nachdruck ihre Stimme gegen Volksabstimmungen erheben, aber seltsamerweise nicht gegen Wahlen. Übrigens gibt es international bewährte Regelungen für Volksabstimmungen, die ein Mindestmaß an Fairness während der Abstimmungsdebatte sicherstellen.

Ein weiterer Einwand bezieht sich auf Bildungsgrade und angeblich fehlende intellektuelle Fähigkeiten der Abstimmenden. Die Vortragenden scheint nicht zu stören (falls es ihnen überhaupt bewusst ist), dass sie auf das Argumentationsniveau früherer Gegner des allgemeinen und insbesondere des Frauenwahlrechts absinken, die sozialen Klassen und der Hälfte der Bevölkerung die geistige Befähigung zur Teilnahme an Wahlen absprachen.

An dieser Stelle muss deutlich festgehalten werden: Nach dem EU-Referendum sprechen einige der Bevölkerung nicht nur das Recht zu entscheiden, sondern Teilen von dieser sogar die Befähigung dazu ab. Das sind offen antidemokratische und antihumanistische, weil diskriminierende Einstellungen! Dabei handelt sich um Äußerungen von EU-Befürwortern, welche sich selbst nicht selten als fortschrittlicher Teil der Gesellschaft verstehen.

Der Zweck demokratischer Abstimmungen besteht nicht darin, Vernunft zu ermitteln, sondern den politischen Mehrheitswillen unter Gleichgestellten, weshalb Intellekt nicht Kriterium einer Wahlberechtigung sein kann, ganz abgesehen davon, das in diesem Fall der Gleichheitsgrundsatz heutiger Demokratien aufgehoben würde. Fragen der Vernunft gehören in den Bereich allgemeiner gesellschaftlicher Diskussion, die auch, aber nicht nur im Vorfeld von Abstimmungen stattfinden kann. Gesellschaftliche Diskussion ist eine Begleiterscheinung von Abstimmungen, aber nicht deren eigentlicher Zweck. Eine demokratische Entscheidung ist nicht zwangsläufig an Diskussion gebunden, wie am Losverfahren ersichtlich ist. Das Wesen der Demokratie ist die politische Gleichheit der Staatsbürger und nicht der Vernunftgehalt von Entscheidungen, wobei erstere objektiv prüfbar, letzteres immer eine subjektive Wertung ist.

Fazit: Volksabstimmungen, also Sachabstimmungen, sind die originäre Ausdrucksform der Volkssouveränität. Eine Gesellschaft, in der Volksabstimmungen gesetzlich nicht als dauerhaftes politisches Grundrecht garantiert sind, kann sich nicht wirklich als Demokratie bezeichnen. Bestätigt wird dies augenfällig durch den in Deutschland üblichen, notwendig einschränkenden Terminus "repräsentative Demokratie". Offen – und viel zu häufig noch mit Überzeugung – wird eingeräumt: Direkte Demokratie in Form von Volksabstimmungen ist und bleibt dem Souverän auf Bundesebene verwehrt. Begründet wird dies mit den beständig selben fragwürdigen Einwänden gegen Volksabstimmungen. All diese Vorbehalte sollten jedoch immer dahingehend geprüft werden, ob sie nicht gleichermaßen auf Wahlen zutreffen und deshalb nicht einseitig gegen Volksabstimmungen gewendet werden dürfen.

Enttäuschung über ein Abstimmungsergebnis wie in Großbritannien darf nicht dazu führen, dass Grundsätze der Demokratie infrage gestellt werden. "In der Demokratie hat der Bürger das Recht eine Entscheidung zu treffen, die Dritte als 'Wahnsinn' bezeichnen wollen. Wer aber hat in der Demokratie das Recht, Entscheidungen nach dem Kriterium des 'Wahnsinns' zu bewerten? In Demokratien gilt das Mehrheitsprinzip. Gefällt dies nicht, mag man andere Staatsformen befürworten; ein Demokrat ist man dann jedenfalls nicht." - Dr. Peter Neumann, Direktor am Dresdner Institut für sachunmittelbare Demokratie (Disud) an der TU Dresden.