Nach dem Brexit-Votum

Wie Enttäuschte die Grundsätze der Demokratie missachten

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BERLIN. (hpd) Die Volksbefragung über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens war nicht nur ein Gradmesser zur Akzeptanz der EU in der Bevölkerung, sondern warf auch ein Licht auf das Demokratieverständnis von Akteuren und Beobachtern innerhalb wie außerhalb Großbritanniens. Viele vom Votum Enttäuschte kritisieren nicht nur das Abstimmungsergebnis, sondern die Abstimmung selbst. Dabei gerät leider einiges durcheinander und demokratische Grundsätze zum Teil erheblich unter die Räder.

Die Ausgangslage: Großbritannien kennt kein dauerhaftes Gesetz für Volksbefragungen. Im Bedarfsfall wird ein Abstimmungsgesetz im Parlament erlassen, was bisher zweimal der Fall war: für die Volksbefragung über den Beitritt zur EWG im Jahr 1975 und kürzlich im Juni 2016 über den Verbleib in der EU. Beide Referenden waren vom Parlament initiierte, rechtlich unverbindliche Volksbefragungen, deren Votum vom Parlament befolgt, aber auch übergangen werden kann.

Die Volksbefragung: Die Abstimmungsbeteiligung lag bei 72,2 Prozent. Davon votierten 51,9 Prozent gegen, und 48,1 Prozent für den Verbleib in der EU. Die 51,9 Prozent der Brexit-Befürworter entsprechen 37,5 Prozent aller Abstimmungsberechtigten.

Die Reaktionen: Das Für und Wider einer EU-Mitgliedschaft ist nicht Gegenstand dieser Betrachtung. Von Interesse sind dagegen Meinungsäußerungen zur Abstimmung selbst, insbesondere aus Deutschland. Aus dem Lager der unterlegenen EU-Befürworter werden nach der Volksbefragung verschiedene Einwände erhoben, welche darauf abzielen, die Legitimität des Abstimmungsergebnisses infrage zu stellen. Darauf soll im Folgenden näher eingegangen werden.

Zum Teil wird auf den rechtlich unverbindlichen Charakter einer Volksbefragung verwiesen und das Britische Parlament aufgefordert, dem Abstimmungsergebnis im Interesse des europäischen Einigungsprozesses nicht zu folgen. Infolge der Unverbindlichkeit einer Volksbefragung wäre dies durchaus möglich. Allerdings stellt sich dabei die Frage, wie Volksbefragungen mit dem Prinzip der Volkssouveränität vereinbar sind, wenn ein Votum des Volkes, also des die Demokratie begründenden Souveräns, unter den Vorbehalt des Parlamentes gestellt wird?

Das Parlament machtpolitisch über das Volk zu erheben, bedeutet die Verkehrung des Prinzips der Volkssouveränität. Man müsste dann meinen, das Parlament hätte das Volk eingesetzt und nicht umgekehrt. Volksbefragungen stehen im Widerspruch zur Volkssouveränität und sind somit ein Widerspruch in sich: Denn wenn der Souverän spricht, kann dies immer nur verbindlich und endgültig sein. Es gibt keine Instanz über dem Volk, welche über dessen Votum nochmals richten könnte. Das Brexit-Votum muss demnach vom Parlament befolgt werden.

Zukünftig sind jedoch Volksbefragungen wegen ihrer Unvereinbarkeit mit dem Prinzip der Volkssouveränität generell abzulehnen. Legitim sind nur rechtlich bindende Volksabstimmungen, die zudem nur von unten, also über Unterschriftensammlungen initiierbar sein sollten. Letzteres schließt eine parteitaktische Instrumentalisierung mit all ihren negativen Folgen wie im Fall der Brexit-Abstimmung aus.

Als weiterer Einwand wird auf das knappe Abstimmungsergebnis verwiesen, welches jedoch der bittere Preis des Mehrheitsprinzips ist und auch oft bei Wahlen gezahlt wird, ohne die Legitimität des Ergebnisses in Zweifel zu ziehen.

Darüber hinaus wird dem Abstimmungsergebnis durch Verweis auf die Zustimmung von "nur" 37,5 Prozent aller Abstimmungsberechtigten die Legitimität abgesprochen: "Das Problem beim Votum: Es gibt in Wahrheit keine echte Mehrheit für den Brexit. ... Für eine positive Mehrheit aller britischen Wahlberechtigten aber hätten von ihnen 75 Prozent pro Brexit stimmen müssen - statt wie geschehen 52 Prozent. Ich halte das Ergebnis deshalb eigentlich nicht für belastbar." - so Prof. Dr. Weßels in einem Interview auf Spiegel-Online. Für Unkundige schwer erkennbar wird dort ein Zustimmungsvorbehalt von 50 Prozent aller Abstimmungsberechtigten, auch Quorum genannt, gefordert. "Echte", "positive" Mehrheit soll heißen: Nur wenn mindestens 50 Prozent aller Abstimmungsberechtigten für den Brexit stimmen, sollte das Ergebnis bindend sein.

Nun ist Prof. Dr. Weßels vom Institut für Sozialwissenschaften, Bereich Demokratie und Demokratisierung an der Humboldt-Universität in Berlin, kein Laie, doch sein angedachtes Kriterium eines Zustimmungsquorum (ZQ) von 50 Prozent würde weltweit Raritätenstatus genießen. Vor allem aber wäre Großbritannien gar kein Mitglied der EG geworden, denn der Beitritt wurde in der Volksbefragung von 1975 von weniger als 50 Prozent (44,6 Prozent) aller Abstimmungsberechtigten befürwortet. Eine Liste der Volksabstimmungen (VA), die infolge eines ZQ von 50 Prozent "nicht belastbar" wären und annulliert werden müssten, würde fast alle bisher weltweit stattgefundenen VA umfassen.

Und obwohl Prof. Weßels in der Forschung auf das Thema Wahlen spezialisiert ist, scheint ihn nicht zu stören, dass bei einem ZQ von 50 Prozent das Wahlgeheimnis aufgehoben wäre, denn die Abgabe einer Nein-Stimme hätte keinerlei Auswirkung auf den Abstimmungsausgang. Die Nein-Stimmenden bräuchten gar nicht ins Abstimmungslokal zu gehen, wodurch alle dort Erscheinenden als Ja-Stimmende identifizierbar wären. Darüber hinaus stellt sich das logische Problem, welche Wirkung ein ZQ, das ja ein Kriterium für die Verbindlichkeit einer Abstimmung darstellt, bei einer per Definition unverbindlichen Volksbefragung entfalten soll?

Prof. Weßels hält 37,5 Prozent aller Abstimmungsberechtigten für "nicht belastbar". Es stellt sich die Frage, aus welchen Beweggründen selbst durch viele Politikwissenschaftler VA immer wieder die Legitimität abgesprochen wird, obwohl sich deren Ergebnisse bei wichtigen Themen in absoluten Prozentwerten gemessen von Wahlen nicht unterscheiden bzw. sogar höher liegen? Vergleichsweise verfügen die im Britischen Unterhaus allein regierenden Tories nur über eine Legitimität von 24,4 Prozent aller Wahlberechtigten, eben den Wählern der Tories. Und mit Blick auf Deutschland finden sich nur zwei deutsche Landesregierungen (Baden-Württemberg und Hessen) mit einer Zustimmung von 37,5 Prozent aller Wahlberechtigten, alle anderen sind von weniger als 30 Prozent legitimiert.

37,5 Prozent aller Abstimmungsberechtigten ist eine international vergleichbare und hohe Zustimmung. (Sie entspricht z.B. exakt dem Votum der Iren bei der Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe im Mai 2015.) Allein schon an der hohen Abstimmungsbeteiligung von 72,2 Prozent, welche deutlich über der Wahlbeteiligung von 66,1 Prozent bei den letzten Unterhauswahlen lag, ist erkennbar, dass es der Brexit-Volksbefragung keinesfalls an Legitimität mangelt, wie es manche suggerieren wollen.

"Keine echte Mehrheit" und "nicht belastbar" wird in Verbindung mit akademischen Titeln bei Spiegel-Online als "Demokratie-Argument"(!) aufgegriffen, um im Stil einer Anklageschrift das Abstimmungsergebnis offen infrage zu stellen. Dort finden sich auch weitere Einwände gegen den Verlauf der Brexit-Volksbefragung. Bemängelt werden Lügen, unzulässige Zuspitzungen, Angstmache politischer Akteure, der Irrtum der Abstimmenden und anderes mehr, um letztlich in der Frage zu münden, ob all dies nicht eine Wiederholung der Abstimmung rechtfertigt?

Mit dem Verweis auf eine mangelhafte politische Diskussionskultur wird versucht, das Abstimmungsergebnis zu revidieren. Aber Wahlen sind gleichermaßen regelmäßig von politischer Unkultur geprägt: Wähler werden im Voraus belogen und im Nachhinein betrogen. Sind Wahlen aus diesem Grund jemals wiederholt worden? Nein, weil politische Falschmünzerei nicht justiziabel ist, solange sie keine geschützten Rechtsgüter verletzt. Mögliche Wählertäuschung ist für viele ein Argument, dass sie mit Nachdruck ihre Stimme gegen Volksabstimmungen erheben, aber seltsamerweise nicht gegen Wahlen. Übrigens gibt es international bewährte Regelungen für Volksabstimmungen, die ein Mindestmaß an Fairness während der Abstimmungsdebatte sicherstellen.

Ein weiterer Einwand bezieht sich auf Bildungsgrade und angeblich fehlende intellektuelle Fähigkeiten der Abstimmenden. Die Vortragenden scheint nicht zu stören (falls es ihnen überhaupt bewusst ist), dass sie auf das Argumentationsniveau früherer Gegner des allgemeinen und insbesondere des Frauenwahlrechts absinken, die sozialen Klassen und der Hälfte der Bevölkerung die geistige Befähigung zur Teilnahme an Wahlen absprachen.

An dieser Stelle muss deutlich festgehalten werden: Nach dem EU-Referendum sprechen einige der Bevölkerung nicht nur das Recht zu entscheiden, sondern Teilen von dieser sogar die Befähigung dazu ab. Das sind offen antidemokratische und antihumanistische, weil diskriminierende Einstellungen! Dabei handelt sich um Äußerungen von EU-Befürwortern, welche sich selbst nicht selten als fortschrittlicher Teil der Gesellschaft verstehen.

Der Zweck demokratischer Abstimmungen besteht nicht darin, Vernunft zu ermitteln, sondern den politischen Mehrheitswillen unter Gleichgestellten, weshalb Intellekt nicht Kriterium einer Wahlberechtigung sein kann, ganz abgesehen davon, das in diesem Fall der Gleichheitsgrundsatz heutiger Demokratien aufgehoben würde. Fragen der Vernunft gehören in den Bereich allgemeiner gesellschaftlicher Diskussion, die auch, aber nicht nur im Vorfeld von Abstimmungen stattfinden kann. Gesellschaftliche Diskussion ist eine Begleiterscheinung von Abstimmungen, aber nicht deren eigentlicher Zweck. Eine demokratische Entscheidung ist nicht zwangsläufig an Diskussion gebunden, wie am Losverfahren ersichtlich ist. Das Wesen der Demokratie ist die politische Gleichheit der Staatsbürger und nicht der Vernunftgehalt von Entscheidungen, wobei erstere objektiv prüfbar, letzteres immer eine subjektive Wertung ist.

Fazit: Volksabstimmungen, also Sachabstimmungen, sind die originäre Ausdrucksform der Volkssouveränität. Eine Gesellschaft, in der Volksabstimmungen gesetzlich nicht als dauerhaftes politisches Grundrecht garantiert sind, kann sich nicht wirklich als Demokratie bezeichnen. Bestätigt wird dies augenfällig durch den in Deutschland üblichen, notwendig einschränkenden Terminus "repräsentative Demokratie". Offen – und viel zu häufig noch mit Überzeugung – wird eingeräumt: Direkte Demokratie in Form von Volksabstimmungen ist und bleibt dem Souverän auf Bundesebene verwehrt. Begründet wird dies mit den beständig selben fragwürdigen Einwänden gegen Volksabstimmungen. All diese Vorbehalte sollten jedoch immer dahingehend geprüft werden, ob sie nicht gleichermaßen auf Wahlen zutreffen und deshalb nicht einseitig gegen Volksabstimmungen gewendet werden dürfen.

Enttäuschung über ein Abstimmungsergebnis wie in Großbritannien darf nicht dazu führen, dass Grundsätze der Demokratie infrage gestellt werden. "In der Demokratie hat der Bürger das Recht eine Entscheidung zu treffen, die Dritte als 'Wahnsinn' bezeichnen wollen. Wer aber hat in der Demokratie das Recht, Entscheidungen nach dem Kriterium des 'Wahnsinns' zu bewerten? In Demokratien gilt das Mehrheitsprinzip. Gefällt dies nicht, mag man andere Staatsformen befürworten; ein Demokrat ist man dann jedenfalls nicht." - Dr. Peter Neumann, Direktor am Dresdner Institut für sachunmittelbare Demokratie (Disud) an der TU Dresden.