Bericht des Internationalen Währungsfonds

Europäische Unternehmen kassieren in der Inflationskrise ab

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Foto von Joachim Schnürle auf Unsplash

Nach der NGO Oxfam kommt nun auch ein Papier des Internationalen Währungsfonds zu dem Ergebnis, dass seit Anfang 2022 beinahe die Hälfte des Anstiegs der Inflation auf gestiegene Unternehmensgewinne zurückzuführen ist. Die Reallöhne sind im vergangenen Jahr im Euroraum derweil um fünf Prozent gesunken. Ein Blick in die Vereinigten Staaten zeigt, dass auch Europa intensive Arbeitskämpfe bevorstehen.

45 Prozent des Inflationsanstiegs gehen auf gestiegene Unternehmensgewinne zurück, zeigt ein neues Papier des Internationalen Währungsfonds (IWF), das die Inflationsentwicklung in Europa zwischen Januar 2022 und März 2023 untersucht. Der IWF schlüsselt hierin die Inflation gemessen am Konsumdeflator – das sind die nationalen Konsumausgaben nach Bereinigung um die nationale Inflation – in vier Kategorien auf: Unternehmensgewinne, Importpreise, Steuern und Arbeitskosten.

Gestiegene Importkosten, besonders für Energie, sind im Bezugszeitraum für 40 Prozent des Anstiegs der Inflation verantwortlich, gestiegene Arbeitskosten für 25 Prozent. Steuern hatten eine leicht deflationäre Wirkung, was angesichts umfangreicher Unterstützungspakete nicht weiter verwundert. Hierbei zeigt sich der vom IWF beschriebene Versatz zwischen dem prozentualen Anstieg der Unternehmensgewinne beziehungsweise Importpreise und dem der Arbeitskosten. Da Löhne langsamer auf wirtschaftliche Schocks reagieren, ist der Anteil der Arbeitskosten an der Steigerung der Inflation zu Beginn des Jahres 2022 noch sehr gering und nimmt dann sukzessive zu.

Inflationsbereinigt befinden sich die Unternehmensgewinne ein Prozent über, die Reallöhne zwei Prozent unter vorpandemischem Niveau. Dies allerdings sei nicht auf gestiegene Profitabilität zurückzuführen, betont der IWF. Vielmehr seien Unternehmen schlicht besser von den Regierungen vor Preisschocks geschützt worden als die Arbeitenden.

Streik liegt in der Luft

Der makroökonomische Ausblick für die Löhne, den der IWF präsentiert, lässt leider nicht auf eine simple Lösung des Konflikts zwischen Arbeitskosten und Unternehmensgewinnen hoffen. Um nämlich das Reallohnniveau auf seinen vorpandemischen Wert zu heben und gleichzeitig das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank (EZB) von zwei Prozent ab Mitte 2025 zu halten, müsste die Gewinnspanne auf den niedrigsten Stand seit Mitte der 1990er-Jahre fallen.

Der IWF rechnet mit einer Steigerung der Nominallöhne um 4,5 Prozent über die kommenden zwei Jahre. Um das Inflationsziel der EZB zu erreichen, müsste die Gewinnmarge der Unternehmen in diesem Szenario auf vorpandemisches Niveau absinken. In dieser Konstellation allerdings sind es die Arbeitenden, die mit einer einschneidenden Reallohnsenkung dastehen. 5,5 Prozent durchschnittliche Lohnsteigerung über die kommenden zwei Jahre müssten es sein, errechnet der IWF, um den Arbeitenden ihre vorpandemische Kaufkraft zurückzugeben. Doch das würde das Inflationsziel reißen – es sei denn, die Unternehmen geben sich mit den Gewinnspannen von vor 30 Jahren zufrieden.

Die US-amerikanische Teamsters-Gewerkschaft, der die Lieferfahrer*innen des Großkonzerns UPS angehören, argumentierte jüngst ähnlich: Die pandemiebedingte Gewinnsteigerung von UPS, die sagenhafte 140 Prozent betragen soll, sei in keiner Weise zu den Angestellten durchgereicht worden. Ende Juli wurden sich die Gewerkschaft und das Unternehmen nur knapp vor einem potentiell desaströsen Streik einig – der neue Tarif umfasst mehr als 340.000 Menschen und ist damit der – personell gesehen – größte Vertrag Nordamerikas.

Lohnerhöhung? Welche Lohnerhöhung? – Reallohnentwicklung in Europa und den USA

Diese Übereinkunft zeigt weiterhin, wo das fundamentale Problem liegt, dem wir auch die aktuelle Inflationssteigerung zu verdanken haben: nämlich in der Tatsache, dass die gigantischen Produktivitätszuwächse der letzten fünf Dekaden so gut wie nicht in Form von Reallohnsteigerungen bei den Arbeitenden angekommen sind.

So erhalten Teilzeitangestellte bei UPS über die kommenden fünf Jahre insgesamt 7,50 Dollar mehr pro Stunde. Im Vergleich dazu ist der Nominallohn einer Teilzeitkraft zwischen 1982 und 2022 um nur 7,25 Dollar gestiegen, erklärt die Gewerkschaft. Anders gesagt: Die Arbeitenden haben durch diesen Deal über nur fünf Jahre einen höheren nominellen Einkommenszuwachs erzielt als über die gesamten letzten 40 Jahre. Unter Berücksichtigung der Kaufkraftverluste entspricht die Reallohnkurve eines Teamsters-Mitglieds seit 1982 somit quasi einer waagrechten Linie.

Produktivitäts- und Lohnentwicklung in den USA zwischen 1948 und 2016 (Summers and Stansbury 2018)
Produktivitäts- und Lohnentwicklung in den USA zwischen 1948 und 2016 (Summers and Stansbury 2018), Quelle: Wikimedia

Wobei "die Arbeitenden" hier allerdings eine überaus irreführende Bezeichnung ist. Das Management von UPS oder eines Energieriesen besteht ebenfalls aus Angestellten. Während die durchschnittliche Vergütung aller Angestellten mit den Produktivitätszuwächsen halbwegs mithalten konnte, stagnieren die Reallöhne der produzierenden und nicht-leitenden Angestellten in den USA seit nunmehr einem halben Jahrhundert.

Kumulierte Veränderung der Reallöhne nach Einkommensklasse zwischen 1979 und 2012 (Economic Policy Institute EPI 2019)
Kumulierte Veränderung der Reallöhne nach Einkommensklasse zwischen 1979 und 2012 (Economic Policy Institute, EPI 2019), Quelle: Wikimedia

Diese Diskrepanz erhärtet sich, wenn die Reallohnzuwächse nach Einkommensklasse aufgeschlüsselt werden. Während die Reallöhne des reichsten Prozents der Angestellten in den USA zwischen 1979 und 2012 um phänomenale 153,6 Prozent wuchsen, mussten sich die untersten 90 Prozent – und damit mehr als die absolute Mehrheit der Menschen – mit einer Reallohnsteigerung von mageren 17,1 Prozent begnügen.

Während makroökonomische Daten aus den Vereinigten Staaten nur eingeschränkt mit denen der Eurozone vergleichbar sind, sieht die Reallohnkurve in Deutschland und Europa doch verdächtig ähnlich aus. Das Statistische Bundesamt berechnet für den Zeitraum zwischen 1991 und 2019 in Deutschland eine Reallohnsteigerung von 12,3 Prozent. Insofern müssen sich Europa und die Vereinigten Staaten die gleiche Frage stellen: Wie lässt es sich bewerkstelligen, die Löhne den Produktivitätszuwächsen der letzten Jahrzehnte anzugleichen, ohne dabei eine totale wirtschaftliche Karambolage zu produzieren? Dabei werden die Gewerkschaften eine entscheidende Rolle bei der Beantwortung dieser Frage spielen – müssen.

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