Der Hilfsorganisationsverband Oxfam warnt in seinem neuen Bericht "Survival of the Richest" vor dem explosionsartigen Anstieg der Vermögensungleichheit seit 2020. Während etwa jeder zehnte Mensch auf der Erde hungert, habe das reichste Prozent der Weltbevölkerung knapp zwei Drittel der Vermögenszuwächse für sich verbuchen können, so die NGO. Selbst der Internationale Währungsfonds und die Weltbank mahnen ein Umdenken in der Steuerpolitik an.
Zwischen 2020 und 2021 mussten sich 99 Prozent der deutschen Bevölkerung mit 19 Prozent der Vermögenszuwächse zufriedengeben. Die restlichen 81 Prozent gingen an das reichste Prozent der Deutschen, hat Oxfam berechnet. Die Vermögen konzentrieren sich hierzulande im Moment also noch schneller als auf globaler Ebene.
In Deutschland haben bald bis zu 60 Prozent der Haushalte keine Möglichkeit mehr, Rücklagen zu bilden, weil sie ihr gesamtes Einkommen für Lebenshaltungskosten aufwenden müssen, schätzt der Sparkassenverband. 2021 lag diese Quote bei "nur" 15 Prozent. Der rapide Anstieg besonders der Energie- und Lebensmittelpreise sorgt auch in vergleichsweise reichen Ländern für eine steigende Armutsquote. Diese drückt sich unter anderem darin aus, dass die Tafeln 2022 50 Prozent mehr Menschen als noch 2021 versorgt haben und mancherorts bereits an ihre Grenzen gestoßen sind.
Während wachsende ökonomische Ungleichheit nichts Neues ist, erlebt die Weltgemeinschaft zum ersten Mal seit 25 Jahren einen Anstieg der Vermögensungleichheit und der extremen Armut gleichzeitig. Zu diesem Ergebnis kam die Weltbank vergangenes Jahr in einem Bericht mit dem treffenden Titel "Kurskorrektur". Weltweit wurden durch die Corona-Pandemie 2020 über 70 Millionen Menschen in extreme Armut gedrängt, so Oxfam. Ebenso viele, etwa 71 Millionen Menschen, sind allein zwischen März und Juni 2022 durch steigende Inflationsraten in extreme Armut abgerutscht, berichtet die NGO unter Berufung auf das UN-Entwicklungsprogramm.
Oxfam: Surreal hohe Konzernprofite treiben Vermögensungleichheit an
Eine Analyse von 95 großen Energie- und Lebensmittelunternehmen zeigt, dass beinahe alle dieser Konzerne 2022 exorbitante Übergewinne eingefahren haben. Oxfam definiert einen "Übergewinn" ab "zehn Prozent über dem durchschnittlichen Nettogewinn 2018 und 2021".
Die Gewinne – nicht die Umsätze! – der 95 untersuchten Unternehmen stiegen um 256 Prozent, mehr als das Zweieinhalbfache, verglichen mit dem Durchschnitt der Vorjahre. Insgesamt erwirtschafteten sie Übergewinne in Höhe von 306 Milliarden US-Dollar, von denen 257 Milliarden und damit 84 Prozent an Aktionär*innen ausgeschüttet wurden.
"Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen den steigenden Gewinnen von Konzernen und dem wachsenden Vermögen von Milliardär*innen, denn die Hauptnutznießer*innen himmelhoher Unternehmensgewinne sind reiche Aktionär*innen und Eigentümer*innen von Unternehmen", so Oxfam. Die Mitarbeitenden bleiben dabei auf der Strecke und erleben Reallohnkürzungen. Oxfam schätzt, dass im Moment mindestens 1,7 Milliarden Arbeitnehmer*innen in Nationen leben, in denen die Lebenshaltungskosten schneller steigen als die entsprechenden Löhne.
Es hat sich ausgetröpfelt
Die sogenannte "Trickle-Down-Hypothese" muss endgültig als gescheitert betrachtet werden. Dieser seit den 1980er Jahren von den meisten Staaten sukzessive übernommenen Theorie zufolge würden sich Steuersenkungen und Subventionen für die reichsten Mitglieder einer Volkswirtschaft mittelfristig von selbst amortisieren, da diese vermeintlichen "Leistungsträger" die Entlastungen zurück in den Wirtschaftskreislauf führen und dadurch Arbeitsplätze und Konsumgelegenheiten schaffen würden. Das Resultat sind Staaten, die zunehmend auf Verbrauchs- statt auf Vermögens- und Unternehmenssteuern setzen, um Investitionen in Infrastruktur oder Sozialsysteme zu finanzieren. So hat sich die Zahl der Länder, die eine Mehrwertsteuer erheben, zwischen 1990 und 2017 mehr als verdreifacht.
Was in der Theorie für manche durchaus stimmig klingen mag, hat sich in der Praxis jedoch nicht erwiesen: Steuersenkungen für die Reichen finanzieren sich nicht selbst, im Gegenteil. Im Jahr 2015 erklärte der sonst eher für Austeritäts- und Privatisierungsforderungen bekannte Internationale Währungsfonds (IMF), dass "ein Zuwachs des Einkommensperzentils, der auf die Unter- und Mittelschicht entfällt, das Wirtschaftswachstum steigert, während ein Zuwachs des Einkommensperzentils, der auf die obersten 20 Prozent entfällt, in niedrigerem Wirtschaftswachstum resultiert – was bedeutet, wenn die Reichen reicher werden, tröpfelt davon nichts nach unten durch."
Anders ausgedrückt: Der vielbeschwörte volkswirtschaftliche Motor ist kein Porsche, sondern ein gebrauchter Opel. Diesen Fakt müssen Steuer- und Wirtschaftspolitik berücksichtigen, zumal der Internationale Währungsfonds bereits vor acht Jahren angemahnt hat, das politische Ziel müsse sein, "das Einkommen der Unterschicht zu erhöhen und eine Aushöhlung der Mittelschicht zu verhindern". Vor zwei Jahren forderte der IMF Steuererhöhungen zur Bekämpfung des pandemiebedingten Anstiegs der Einkommensungleichheit. Passiert ist nichts, und aus Einkommensdisparität ist Vermögensdisparität geworden, wie der Bericht Oxfams zeigt. Als Liz Truss vor einigen Monaten ankündigte, ihre Rezessionsbekämpfungsstrategie seien Steuersenkungen für Unternehmen und die Reichen, watschte der IMF sie ab und Truss ging als die am kürzesten amtierende Premierministerin Großbritanniens in die Geschichte ein. Die globale Mindeststeuer von 15 Prozent auf Unternehmensgewinne ist daher nur ein erster, zaghafter Schritt auf dem Weg zu krisenfesteren Volkswirtschaften.