Auch wenn Konspirationsvorstellungen meist nur falsche und/oder unterkomplexe Deutungsversuche für die soziale Realität sind, fanden und finden sie immer wieder gläubige Anhänger. Warum ist das so? Sie haben für ihre Anhänger und Propagandisten einen Nutzen. Oder simpler formuliert: Es bringt ihnen etwas! Vier Funktionen lassen sich immer wieder ausmachen, was am Beispiel von der erfundenen "jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung" veranschaulicht wird.
Konfrontiert man die Kernaussagen von Verschwörungsideologien mit der sozialen Realität, so mag aus empirischer und rationaler Sicht die Behauptung einer Konspiration lächerlich bis verrückt wirken. Einer auf die Erklärung der Attraktivität und Wirkung von Ideologien ausgerichteten analytischen Betrachtung kann es aber nicht genügen, derartige Auffassungen lediglich mit Fakten zu konfrontieren und sie damit zu widerlegen.
So bemerkte Hannah Arendt zutreffend: "Wenn mit anderen Worten eine so offensichtliche Fälschung wie die Protokolle der Weisen von Zion von so vielen geglaubt wird, dass sie die Bibel einer Massenbewegung werden kann, so handelt es sich darum zu erklären, wie dies möglich ist, aber nicht darum, zum hundertsten Male zu beweisen, was ohnehin alle Welt weiß, nämlich, dass man es mit einer Fälschung zu tun hat." Ein erster Schritt in Richtung der Benennung derartiger Ursachen kann die Aufschlüsselung der unterschiedlichen Funktionen solcher Vorstellungen sein.
Dabei gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass die Konspirationsauffassungen jeweils einem bestimmten Bedürfnis nachkommen und demnach ein spezifischer Nutzen besteht. Die ersten beiden der im Folgenden genannten Hauptfunktionen von Verschwörungsideologien lassen sich stärker bei den einfachen Anhängern solcher Auffassungen, die letzten beiden Hauptfunktionen eher bei den wichtigsten Propagandisten feststellen:
Bei der Identitätsfunktion vermittelt die Vorstellung von einer Konspiration jeweils Zugehörigkeitsgefühle, und zwar nicht über die Benennung von positiven Identitätsmerkmalen, sondern über die Abgrenzung von den als "böse Mächte" geltenden feindlichen Gruppen und ihren angeblichen Werten. Diese Wirkung ergibt sich aus dem dualistischen Weltbild, das von einem Kampf der "Guten" und "Bösen" ausgeht. Als Letztere gelten die angeblich konspirativ wirkenden Mächte, die von den Anhängern von Konspirationsauffassungen als Feindbilder diabolisiert und verdammt werden. Mit der Verschwörungsideologie kann man sich den "guten Mächten" zurechnen. Damit geht nicht nur eine formale Identitätszuordnung zu einer Gruppe, sondern auch eine inhaltliche Identitätszuordnung zu den "Guten" einher.
Als Beispiel aus den antifreimaurerisch ausgerichteten Verschwörungsideologien sei hier auf eine Ausgabe des "Schulungsbriefs", dem "zentralen Monatsblatt der NSDAP und DAF", verwiesen. Die Zeitschrift veröffentlichte im Juli 1939 eine Ausgabe mit dem Titel "Kampf der Freimaurerei", worin sich eine Auflistung von weltanschaulichen Gegensätzen fand: "1. Nationalsozialistische Rassenlehre und freimaurerisch-liberalistisches Toleranzideal", "2. Nationalsozialistische Volksgemeinschaft und freimaurerische Humanität", "3. Nationalsozialistischer Volksstaat und westlich-liberaler Staatsbegriff der Freimaurerei" und "4. Nationalsozialistischer Wehrgedanke und freimaurerischer Pazifismus." Die Ablehnung von jeweils Letzterem stärkte die Zugehörigkeit zu jeweils Ersterem.
Durch ihre Erkenntnisfunktion erleichtern Verschwörungsideologien das Verständnis komplexer historisch-politischer Entwicklungen, die ansonsten nur schwer erklärbar sind. Statt sich über die unterschiedlichen Ursachen eines besonderen Ereignisses wie ein Kriegsausbruch, eine Revolution oder eine Wirtschaftskrise komplexe Gedanken zu machen, ist es weitaus leichter, die Gründe für solche Entwicklung in konspirativen Handlungsweisen zu sehen.
Als Beispiel dafür sei hier ein Zitat des früheren NSDAP-Ideologien Alfred Rosenberg zu einer antisemitischen Fälschung angeführt: "Das Erscheinen der sogenannten 'Protokolle der Weisen von Zion' hat Millionen von Europäern die Schleier von den Augen gerissen. … Millionen fanden in ihnen plötzlich die Deutung vieler sonst unerklärlicher Erscheinungen der Gegenwart, die in ihren wichtigsten Anzeichen plötzlich nicht mehr als Zufälligkeiten wirkten, sondern als Folgen einer früher geheimen, nunmehr aufgedeckten Zusammenarbeit der Führer scheinbar sich erbittert bekämpfender Klassen, Parteien, Völker."
Auffassungen über angebliche Konspirationen als die eigentlichen Ursachen von abgelehnten politischen Entwicklungen können auch eine Manipulationsfunktion gegenüber der Öffentlichkeit bzw. einem Publikum haben. Dabei wird ein zentrales Feindbild geliefert, worauf sich alle ihm als negativ geltenden Vorkommnisse im Sinne einer Schuldzuschreibung übertragen lassen.
Ein derartiges Agieren beschrieb Adolf Hitler in "Mein Kampf" wie folgt: "Es gehört zur Genialität eines großen Führers, selbst auseinanderliegende Gegner immer als nur zu einer Kategorie gehörend erscheinen zu lassen, weil die Erkenntnis verschiedener Feinde bei schlichten und unsicheren Charakteren nur zu leicht zum Anfang des Zweifels am eigenen Recht führt. … Dabei muss eine Vielzahl von innerlich verschiedenen Gegnern immer zusammengefasst werden, so dass in der Einsicht der Masse der eigenen Anhänger der Kampf nur gegen einen Feind allein geführt wird."
Eng im vorgenannten Kontext ist auch die Legitimationsfunktion von Verschwörungsideologien zur Rechtfertigung von Herrschafts-, Unterdrückungs- oder Vernichtungsmaßnahmen zu sehen. Behauptungen von einer Verschwörung "böser Mächte" dienen dabei als ideologische Begründung zum politischen Vorgehen gegen deren Protagonisten oder Sympathisanten.
Deutlich zeigt sich dies anhand eines Ausschnitts aus der Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 30. Januar 1939: "Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa." Mit der Formulierung "internationales Finanzjudentum" spielte Hitler auf die Vorstellung von einer "jüdischen Verschwörung" an. Gleichzeitig verband diese Aussage den Beginn eines Krieges mit der Ankündigung der für diesen Fall vorgesehenen "Vernichtung".
2 Kommentare
Kommentare
Bernd Neves am Permanenter Link
Interessantes Zitat:
"[...] selbst auseinanderliegende Gegner immer als nur zu einer Kategorie gehörend erscheinen zu lassen, weil die Erkenntnis verschiedener Feinde bei schlichten und unsicheren Charakteren nur zu leicht zum Anfang des Zweifels am eigenen Recht führt. … Dabei muss eine Vielzahl von innerlich verschiedenen Gegnern immer zusammengefasst werden, so dass in der Einsicht der Masse der eigenen Anhänger der Kampf nur gegen einen Feind allein geführt wird."
Die Zitierung der Aussage Adolf Hitlers enthält eine gewisse Ironie, weil dies exakt die Vorgehensweise der Totalitarismustheoretiker ist - und darüberhinaus Staatsdoktrin (dies natürlich nur um die aus dem 3. Reich ererbte Rechtslastigkeit der Staatsorgane zu verschleiern). Vielen Dank für dieses Zitat!
struppi am Permanenter Link
Welcher Humanist glaubt denn an eine jüdische Weltverschwörung?
Wer soll sich angesprochen fühlen?
Wie benennen wir nun eine Machstruktur, die zu unserem Nachteil oder wenigstens nicht in unserem Interesse agiert?
Ist Godwin's law mittlerweile ein Naturgesetz das auf alles zutrifft?