Ein Gesicht des Krieges

kennkarten_1944_und_1946.png

Links die Kennkarte von 1944, rechts die von 1946. Dazwischen liegt das Jahr 1945.
Kennkarten 1944 und 1946

Heute jährt sich zum 75. Mal der "Tag der Befreiung", das Ende des Zweiten Weltkrieges. Knapp zwei Monate zuvor wurde Würzburg zerstört. Meine Großmutter lag im Luftschutzkeller der Frauenklinik, als die Bomben fielen. Sie, ihr Mann und ihr zwei Wochen alter Sohn überlebten den Feuersturm. Außer dem Leben verloren sie aber alles. Blick durch ein Tagebuch.

Sie sieht mir direkt in die Augen. Ihr Gesichtsausdruck wirkt zurückhaltend, fast schüchtern und etwas angespannt. Ihre Lippen sind kaum merklich aufeinandergepresst. Das Haar reicht ihr fast auf die Schultern, bis auf Höhe der Ohren ist es glatt, dann gelockt. Auf der rechten Seite hat sie es nach hinten gesteckt. Ihr junges Gesicht ist weich, Fältchen treten kaum hervor.

Daneben ein anderes Bild. Die Frisur ist immer noch die gleiche. Sonst ist nichts mehr wie zuvor. Sie ist stark gealtert. Sie schaut mich nicht an, ihr ausdrucksloser Blick geht links an mir vorbei ins Leere. Sie erscheint melancholisch. Traumatisiert. Ihr Gesicht ist abgemagert und kantig, ihre Wangenknochen treten hervor. Ihr geblümtes Kleid ist bis auf Brusthöhe zu erkennen, es wirkt leer, als würde gar kein Körper in ihm stecken.

Zwischen den beiden Passbildern liegen gerade einmal zwei Jahre: Die erste "Kennkarte" wurde 1944 im Deutschen Reich ausgestellt, die zweite 1946 im besetzten Deutschland. Dazwischen liegt das Jahr 1945.

Meine Großmutter war 25, seit zwei Jahren verheiratet und hochschwanger. Im Luftschutzkeller der Würzburger Frauenklinik gebar sie am 2. März 1945 einen gesunden Jungen. Wenige Tage später erkrankte sie. Kindbettfieber, Lungenembolie. Dann der 16. März. "Alarm." Als draußen schon die ersten Bomben fielen, stürzte ihr Mann in ihr Krankenzimmer. "Bis zur Atemlosigkeit" war er unter dem "starken, zunehmenden Summen der Flieger" in die Klinik gerannt. Über ihm "gespenstige Helle", mit Leuchtbomben war "Würzburg im weiten Umkreis abgesteckt".

Er schob ihr Bett aus dem Kellerraum in den Gang, wo sich auch die anderen Insassen des Krankenhauses versammelt hatten. Er beugte sich über sie und so verharrten sie, bis die Einschläge nachließen. "Dann dringt Rauch ein." Das Krankenhaus brannte. "Wir räumen den Keller." Meine Großmutter hatte immer noch hohes Fieber und konnte nicht aufstehen. Also setzte mein Großvater sie in einen "Fahrstuhl" und schob sie "sehr mühsam durch das Gedränge ins Freie".

Tagebuch Würzburg 1945
Das Tagebuch von 1945, notdürftig auf ein einzelnes Blatt Papier geschrieben (Foto: © Cornelia Bodenstein)

In nur 17 Minuten hatte die Britische Luftwaffe um die 1.000 Tonnen Bomben über der Stadt abgeworfen und sie in ein Flammenmeer verwandelt. Meine Großeltern suchten in einer Mulde hinter einem Grashügel Schutz vor dem heißen "Sturmwind". Dort blieben sie bis in die frühen Morgenstunden. "Als die Brände in der Frauenklinik nachlassen, ziehen wir wieder ein in den Keller. Das Zimmer ist unversehrt, aber ohne Licht."

Nachdem mein Großvater seine Frau wieder zurück in ihr Bett gebracht hatte, ging er los, um nach ihrer Wohnung zu sehen. Als er todmüde zurückkehrte, berichtete er ihr, was er gesehen hatte. "Die Stadt brennt in allen Teilen, glüht und sprüht Funken. Unser stolzes Haus aus schwarzen Steinen brennt noch überall und ist in der Vorderwand zur Straße hin eingestürzt. Da im Brandschutt liegt alles, was wir im Leben erarbeitet, gesammelt, geschätzt und geliebt haben. Wir besitzen nichts mehr. Wir können dieses totale Verarmtsein noch nicht gänzlich erfassen. Es ist sozusagen wie ein theoretischer Begriff ohne Erfahrungsbasis."

Der nächste Schock folgte gleich darauf: Das erst zwei Wochen alte Baby war verschwunden. Erst zwei Wochen später sahen meine Großeltern ihren Sohn wieder. "Nach der Zerstörung Würzburgs wurde er mitten in der Nacht zum 17. März mit allen anderen Säuglingen nach Marktbreit gebracht." Ende des Monats wurde auch meine Großmutter in das Krankenhaus der Kleinstadt südöstlich von Würzburg verlegt.

Ihren Sohn hatten sie nun zwar wiedergefunden, aber es ging ihm schlecht. In dem allgemeinen Chaos hatte man sich kaum um ihn gekümmert, er war unterernährt und nun ebenfalls krank. Bronchitis. Derweil dauerte der Krieg an. Immer wieder musste die kleine Familie vor Bomben, Tieffliegern und Artilleriefeuer in den Krankenhauskeller flüchten. Dazwischen "angsterfüllte Wartezeiten". Schwerverwundete wurden eingeliefert.

Am 6. April, als Würzburg übergeben wurde, rückte die US-Armee auch in Marktbreit ein. Bis meine Großmutter und ihr Kind vollständig gesund waren und endlich aus dem Krankenhaus entlassen wurden, sollten noch sechs Wochen vergehen. Den Dreien wurde ein Zimmer in der Stadtmitte zugeteilt. Hier konnten sie anfangen, eine neue Existenz aufzubauen. "Es ist wie das Ende einer düsteren Zeit."

Meine Großmutter ist vor über 20 Jahren gestorben. Ihr Gesicht war immer freundlich und lächelnd, umgeben von einer weißen Lockenpracht. Sie war immer schlank, ich erinnere mich an ihre markanten Wangenknochen. Sie hat mir immer Geschichten erzählt. Von allem Möglichen. Aber nicht vom Krieg. Meine Mutter war es, die die Erinnerung wachhielt. Und das schon fast vergessene Tagebuch meines Großvaters, den ich selbst nie kennengelernt habe.

Unterstützen Sie uns bei Steady!