Kann das Gehirn das Gehirn verstehen?

(hpd) Zehn Jahre ist es her, da haben elf führende deutsche Neuro­wissen­schaftler unter­schied­licher Teil­disziplinen zusammen das "Manifest" der Hirnforschung verfasst. Mit Hilfe dieses Artikels wollten die Autoren ein möglichst reales Bild der aktuellen Möglich­keiten und eine vorsichtige Prognose über den zukünftigen Erkenntnis­­gewinn statuieren. Matthias Eckold fragt in seinem Buch "Kann das Gehirn das Gehirn verstehen?" nach dem aktuellen Stand der Dinge und ob sich die Hoffnungen der Wissen­schaftler erfüllt haben.

Zum Manifest kam es mehr oder weniger, weil sich Anfang des 21. Jahr­hunderts die polemischen Schlagzeilen zur Debatte über den sogenannten "Freien Willen" häuften [1] und Geistes(!)wissen­schaftler fürchteten, dass man in ihr über die Jahr­hunderte nahezu unan­getas­tetes Revier zum Verständnis des "Geistes" eindringt und sie womöglich überflüssig machen könnte [2].

Bezeichnenderweise fehlt der deutschen Sprache noch immer ein natur­wissen­schaftlicher Begriff für das, was wir "Geist" und "Seele", die englische Sprache jedoch "mind" nennt. 
Wahr­scheinlich wollten die betei­ligten Hirn­forscher mit diesen falschen Erwartungen an die Hirn­forschung auf­räumen und ver­fassten daher ein Kompromiss-Papier zum realen Stand der Forschung.

Zehn Jahre Manifest der Neurowissenschaft

Eine Frage aus dem Manifest lautete: "Was wissen und können Hirn­forscher in zehn Jahren?". Wie realistisch die Hirn­forscher die nahe Zukunft einge­schätzt haben, interessierte den Schrift­steller Matthias Eckoldt ("Medien der Macht", Kulturverlag Kadmos, 2007; "Topidioten. Erzählungen aus dem Reich der Verführung", Kultur­verlag Kadmos, 2008). Er nahm das 10-jährige Jubiläum des Mani­fests zum Anlass, neun führende Neuro­wissenschaftler, darunter sieben der Manifest-Autoren, zum status quo der Hirn­forschung zu befragen.

In Deutschland arbeiten hunderte Wissen­schaftler an verschiedenen Modell­organismen wie dem Faden­wurm, der Frucht­fliege, Maus und Affen bis zum Menschen, um zu verstehen, wie das Nerven­system funktioniert und letzt­endlich zu entschlüsseln wie und warum wir tun, was wir tun und sind, wer wir sind. Eckoldt verrät seine Kriterien, die zu der Zusammen­stellung der neun ausge­wählten Neuro­wissen­schaftler geführt haben. Es handelt sich um alle­samt etablierte Wissen­schaftler, die selber immer noch aktiv forschen und somit profunde Meinungen zur Entwicklung und zum aktuellen Stand der Hirn­forschung haben.

Die Interviews sind kein lang­weiliges Frage-Antwort-Spiel, sondern intelligente authentische Dialoge, in denen der studierte Philosoph seine Gesprächs­partner nicht nur zu ihrem Spezial­wissen befragt sondern auch mal mit "klassisch geistes­wissen­schaftlichen" Nach­fragen provoziert. Dennoch stellt er allen Kandidaten immer die gleichen Fragen zum Thema "Freier Wille", "Bewusstsein" zum Sitz des Gedächt­nisses und natürlich wie sie zum Manifest heute stehen.

Letzteres wird doch sehr unter­schiedlich beantwortet. Man erfährt, dass die Idee zu dem Papier ursprünglich von dem bekannten Bremer Neuro­biologen Gerhard Roth initiiert wurde und nur ein kleiner Kreis von unter­einander bekannten Forschern beteiligt wurde und sich manch einer von dem Text distanzierte. 
Einige Formulierungen wurden tatsächlich sehr bescheiden gewählt ("Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet; wie es die Welt so abbildet, dass unmittel­bare Wahr­nehmung und frühere Erfahrung mit­einander ver­schmelzen [...] all dies verstehen wir nach wie vor nicht einmal in Ansätzen. [...] In dieser Hin­sicht befinden wir uns gewisser­maßen noch auf dem Stand von Jägern und Sammlern.") und stehen in starkem Kontrast zu dem, was die Medien teil­weise wiedergeben.

Limitierung durch Methoden

Der Bienen(-hirn)forscher Prof. Randolf Menzel sieht die Neuro­wissen­schaften vor allem durch ihre Methoden aber auch ihre Konzepte zur Unter­suchung von neuro­nalen Netz­werken limitiert: "Damit wissen wir im Prinzip nichts vom Gehirn, denn die Netz­werke stellen die Haupt­leistung des Nerven­systems dar." Bild­gebende Ver­fahren, wie die fMRT (funktionale Magnet Resonanz Tomografie) weisen nur indirekt und vor allem nicht mechanistisch und zeit­licher ungenau über Sauer­stoff­konzentrationen im Blut neuronale Aktivität nach. Prof. Frank Rösler sagt dazu: "Im Kernspin gibt es immer eine Latenz von 1-2 Sekunden [...] [und] dieses Signal sagt mir nicht, ob die beteiligten Neurone gehemmt oder erregt werden [...]. Ich glaube nicht, dass man auf diese Weise sehr viel über die 'Mechanik' kognitiver Prozesse und ihre biologische Grund­lage heraus­bekommen kann."

Mit Hilfe des EEG (Elektro­enzephalo­grafie) können keine einzelnen neu­ronalen Bereiche "beim Denken" beo­bachtet werden, sondern nur auf­summierte Potentiale. Das sogenannte Calcium-Imaging, bei dem der schwache Kalzium­einstrom bei einem Aktions­potential sichtbar gemacht wird, funktioniert nur an leicht zugäng­lichen Netz­werken von genetisch veränderten (tierischen) Modell­organismen. Auch die invasive Methode der elektrischen Messung von einzelnen Aktions­potentialen mit Hilfe von Mikro­elektroden ist stark begrenzt, da neuronale Netz­werke aus tausenden einzelnen Nerven­zellen bestehen. Dazu meint Prof. Henning Scheich jedoch optimistisch: "Man kommt in Netz­werken [...] mit einer begrenzten Anzahl von Elektroden weiter. [...] Wir müssen also nicht simultan an 1000 Neuronen (im Affen) ableiten, sondern wir können in wechselnden Lokalitäten an jeweils zehn Neuronen ableiten und bekommen dasselbe heraus."

Hirnkarten

Alle von Eckoldts Interview­partnern sind sich darüber einig, dass die Idee von "Hirnkarten" ein veraltetes Modell ist. Während man noch bis weit ins 20. Jh. bestimmte Eigenschaften in distinkten Hirn­gebieten verortete, spricht man heute z. B. nicht mehr vom Broca-Areal als "dem Sprachgebiet" sondern (mit den Worten von Prof. Angela D. Friederici) "[...] innerhalb des Sprach­prozesses hat es [das Broca-Areal] eine spezifische Aufgabe."

Der Freie Wille und Schuld

Auch besteht bei keinem der Wissen­schaftler ein Zweifel, dass jedem mentalen Zustand ein neuro­biologisches Korrelat zugrunde liegt und "Geist" nicht einfach vom Himmel fällt. Womit wir schon bei der pseudo-kontro­versen Debatte (ich sage pseudo, weil es am Ende immer um Begriff­lich­keiten geht) angelangt sind. Prof. Hans J. Markowitsch konstatiert z. B., dass alle unsere Entschei­dungen durch unsere persönliche Lebens­geschichte, Genetik, Gesund­heits­zustand und aktuelle Umwelt­reize bestimmt werden und sagt, "[...], dass jemand auf der Grund­lage seines Geworden­seins Entschei­dungen trifft, ist kein Determinismus, sondern Tautologie."

Nach Prof. Gerald Hüther wäre wirkliche Freiheit z. B. ein Rad zu schlagen, obwohl die dafür nötigen neuro­nalen Verschal­tungen (Lernen) nicht vorhanden sind.

Ausgerechnet Prof. Gerhard Roth wird gar nicht zur Willens­frei­heit und Schuld­fähigkeit befragt, obwohl er in den Medien oft mit seiner Meinung zu unserem Rechts­system auftritt und sich für die Ab­schaffung der Strafe als Sühne aus­spricht.

Anders sieht das Prof. Scheich: "Wenn der Wille nicht frei wäre, würde unser Rechts­system keinen Sinn machen." und Prof. Friederici: "Die Gesell­schaften haben sich darauf [das Konzept des Freien Willens und der Schuld­fähigkeit] geeinigt und hoffent­lich welt­weit – auch, wenn das manchmal nicht so aussieht - und da sollten wir dran festhalten."

Prof. Menzel erweitert den Begriff der Verant­wortung: "Jeder Mensch hat im Laufe seines Lebens Millionen von Ent­schei­dungen getroffen und hat dabei eine Fülle sozialer Lern­vorgänge absol­viert. [...] Vor diesen Konstituenten [Gene, Erfahrung, etc.] kann der Mensch tat­sächlich vieles nicht verant­worten, aber seine Lebens­dimension, die hat er zum größten Teil in der Hand." Genau an dieser Stelle wird es aber ja so haarig: Wie können wir dafür sorgen, dass wir uns (zum Guten) verändern? Wenn Gehirn­zustand C determi­nistisch auf Zustand B folgt und B auf A? Woher kommt die Eigen­schaft, die uns aus diesem linearen Prozess heraus­holt? Prof. Wolf Singer erlöst uns fast schon ein wenig, indem er die neuronalen Prozesse als nicht-linear und dynamisch beschreibt. "Ich stelle mir oft die Frage, ob man nicht noch weitere Prinzipien betrachten müsste, die aller­dings nicht über die Beschreibung der Natur­phänomene hinaus­gehen. Denn das, was in der Quanten­theorie statt­findet, gehorcht ja auch den Natur­gesetzen."