Das Deutsche Kinderhilfswerk attestiert der Bundesregierung Versagen bei der Bekämpfung der Kinderarmut. Die Organisation fordert zudem langfristige Maßnahmen für die Krisenfestigkeit des Bildungssystems.
Der Sechste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zeigt nach Ansicht des Deutschen Kinderhilfswerkes an vielen Stellen die Tatenlosigkeit bei der Bekämpfung der Kinderarmut in Deutschland: "Dass das Wort Kinderarmut im Bericht selbst nur einmal, und dann in einer Fußnote vorkommt, steht stellvertretend für die fehlende tiefergehende Auseinandersetzung mit den kindspezifischen Auswirkungen und Sichtweisen auf Armut im Bericht. Dies ist angesichts der Kinderarmutszahlen in Deutschland mehr als ein Armutszeugnis für die Bundesregierung. Und das Wort Kindergrundsicherung sucht man tatsächlich komplett vergebens. Veränderungen an einzelnen Stellschrauben unserer sozialen Sicherungssysteme sind aber schlichtweg zu wenig. Natürlich haben die Änderungen beim Unterhaltsvorschuss, beim Kinderzuschlag oder das 'Starke-Familien-Gesetz' einige Verbesserungen für armutsbetroffene Kinder und Jugendliche gebracht. Zugleich fehlen aber nach wie vor eine umfassende Priorisierung der Förderung armer Familien und ihrer Kinder, unbürokratische Zugänge zu den Leistungen sowie weitere umfassende Maßnahmen, um der zunehmenden Verfestigung von Armut zu begegnen und Bildungsaufstiege zu befördern. Es braucht endlich eine Gesamtstrategie zur Bekämpfung der Kinderarmut in Deutschland und für eine bedarfsgerechte Kindergrundsicherung", betont Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerkes im Vorfeld der heutigen Bundestagsdebatte über den Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung.
Nach Berechnungen des Deutschen Kinderhilfswerkes liegt der Anteil der unter 18-Jährigen in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften derzeit bei rund 33 Prozent, obwohl ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung in Deutschland nur bei rund 16 Prozent liegt. Damit sind Kinder und Jugendliche mit ihren Familien in besonderem Maße von Armut betroffen. Zugleich ist die Armutsgefährdungsquote von Kindern aus Elternhäusern mit niedrigem Bildungsabschluss in Deutschland wesentlich höher ist als im EU-Durchschnitt, während bei Eltern mit mittlerem oder hohem Bildungsabschluss hingegen das Verhältnis umgekehrt ist. "Allein das unterstreicht aus Sicht des Deutschen Kinderhilfswerkes die dringende Notwendigkeit, endlich entschlossen gegen die Kinderarmut in Deutschland vorzugehen. Wir dürfen uns die bisherige Halbherzigkeit nicht weiter leisten. Arme Kinder und ihre Familien haben mehr verdient. Der Sechste Armuts- und Reichtumsbericht ist ein Hausaufgabenheft für die nächste Bundesregierung", so Hofmann weiter.
Die Organisation tritt für die Einführung einer bedarfsgerechten Kindergrundsicherung nach dem Modell des Bündnisses KINDERGRUNDSICHERUNG ein, die den bestehenden Familienlastenausgleich ablöst, bestehende kindbezogene Leistungen bündelt und das soziokulturelle Existenzminimum von Kindern unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten der Familie, der Familienform und dem bisherigen Unterstützungssystem bedarfsgerecht gewährleistet. Die Kindergrundsicherung ist eine nachhaltige Lösung, die gesellschaftliche Teilhabe von Kindern und Jugendlichen eigenständig und unabhängig von der Hartz-IV-Gesetzgebung absichert.
Langfristige Maßnahmen für Krisenfestigkeit des Bildungssystems
Das Deutsche Kinderhilfswerk appelliert zudem an Bund, Länder und Kommunen, jetzt nicht die Initiierung langfristiger Maßnahmen für die Krisenfestigkeit des Bildungssystems zu verschlafen. Neben dem aktuellen und andauernden Krisenmanagement in Kitas und Schulen gilt es dringend Mängel und Leerstellen, die in der Corona-Pandemie verstärkt sichtbar geworden sind, endlich anzugehen. Das betrifft eine notwendige Fachkräfteoffensive und eine digitale Bildungsoffensive ebenso wie eine Kinderrechte-Bildungsoffensive und eine Schulbau-Offensive:
"Um nachhaltig und krisenfest gute Betreuung, Erziehung und Bildung zu gewährleisten, müssen mit Nachdruck zielgerichtete Fachkräfteoffensiven für Hort, Kindertagesbetreuung und Schule forciert werden. Dabei geht es sowohl um die Neugewinnung zusätzlichen Personals als auch um die qualitative Anpassung von Ausbildungsgängen. So müssen beispielsweise die Ausbildungs- und Weiterbildungscurricula so angepasst werden, dass sie den tatsächlichen Bedarfen von Fachkräften in der Praxis wieder zeitgemäß genüge tragen. Auch Medienbildung muss ein verbindlicher Bestandteil von Fachkräfteausbildung sein. Nicht zuletzt gilt es aber auch die Arbeitsbedingungen in den Blick zu nehmen, um die Attraktivität der Berufsfelder zu erhöhen", betont der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerkes.
"Für eine digitale Bildungsoffensive braucht es einen umfassenden Schulentwicklungsprozess, der die digitale Weiterbildung und die Medienkompetenz bei Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern fördert und evaluiert. Das Aus- und Weiterbildungssystem für Fachkräfte muss grundlegende Digitalkompetenzen vermitteln, dafür braucht es bundesweite Standards. Eine entsprechende technische Ausstattungssituation in den Bildungseinrichtungen vorausgesetzt, müssen Fachkräfte auch in der Lage sein, Lehren und Lernen ohne Präsenzunterricht zu konzipieren und umzusetzen", fordert Hofmann. "Wir brauchen zudem eine Kinderrechtebildungsoffensive in Kitas und Schulen. Kinder haben ein Recht auf Beteiligung, in allen Angelegenheiten, die sie betreffen. Um ihre Rechte einfordern zu können, müssen Kinder diese jedoch kennen. Damit Kinder ihre Mitbestimmungsrechte kennen, benötigen sie einen Rahmen und die Möglichkeit, demokratische Methoden der Mitbestimmung zu erfahren, zu erproben und umzusetzen. Das bedeutet, dass die Beteiligung bereits im Kita-Alter in den Bildungseinrichtungen implementiert ist", so Holger Hofmann.
"Schließlich brauchen wir auch eine Schulbau-Offensive in Deutschland. Die Corona-Krise hat mehr als deutlich gezeigt, dass viele Schulgebäude sanierungsbedürftig sind. Die Gebäude sind häufig marode, es gibt Risse in den Fassaden, undichte Dächer und Fenster oder Fenster, die sich nicht öffnen lassen. Zudem sind skandalös viele Toiletten und Sanitäranlagen vollkommen heruntergekommen, verfügen oft nicht einmal über funktionsfähige Seifenspender. Der massive, seit Jahrzehnten verschleppte Sanierungsstau muss von den Kommunen endlich angegangen werden, um Kindern eine gute Lernumgebung zu bieten. Bund und Länder sind dazu angehalten, die Kommunen bei der Bewältigung dieser Herausforderung stärker als bisher zu unterstützen. Nötig wäre ein entsprechend ausgestattetes Investitionspaket für Schulsanierungen. Wir brauchen Schulgebäude, die eigenständiges Lernen ermöglichen, in denen sich die Kinder flexibler als bisher frei im Raum bewegen oder sich in kleineren Lerngruppen zusammenschließen können. Zudem braucht es ein Außengelände, das auch ein Lernen und vielseitigen Aufenthalt im Freien ermöglicht. Mit grünem Klassenzimmer, naturnah gestaltetem Schulhof mit Ruhezonen oder Schulgarten mit Biotop und Hochbeet. Wir brauchen Räumlichkeiten, die nicht einzig darauf ausgerichtet sind, ganztägig im Klassenverband auf engstem Innenraum zu verweilen. Insbesondere im Ganztagsschulbetrieb sind hier erhebliche Veränderungen nötig", sagt Hofmann abschließend.