Selbstverteidigungskurse für Frauen

Hodentritt und Eierreissen

Die Kölner Silvesternacht 2015/16 hat die Republik nachhaltig verändert. Frauen, die sich in dieser Nacht auf dem Platz zwischen Dom und Hauptbahnhof aufhielten, waren in großer Zahl Opfer sexueller Übergriffe geworden, begangen von Gruppen junger Männer vornehmlich aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum. Vielfach wurden über die Sexualdelikte hinaus auch Eigentums- und Körperverletzungsdelikte verübt. Auch in anderen deutschen und europäischen Städten gab es derartige Vorfälle.

Seit dieser Nacht wird massiv aufgerüstet. Kaum eine Frau, die noch ohne Reizgasspray oder Elektroschocker aus dem Hause ginge, in den Handtaschen werden Pistolen, Schlagstöcke, Messer oder waffentaugliche Regenschirme mitgeführt. Vor allem aber Selbstverteidigungskurse haben Hochkonjunktur. An Volkshochschulen sind solche Kurse jeweils umgehend ausgebucht; aber auch in den Kampfsportvereinen, bislang eher orientiert an martialischen Selbstertüchtigungsbedürfnissen von Männern, werden extra Kurse für Frauen angeboten. Empfohlen von Sozialreferaten, Frauengleichstellungsstellen und Frauenbeauftragten, von Politikerinnen quer durch alle Parteien stellen Selbstverteidigungskurse für Mädchen und Frauen sich als umgehend notwendige Maßnahme dar, der vermeintlich ausufernden Gewalt von Männern - mit und ohne Migrationshintergrund - zu begegnen.

Die inzwischen flächendeckend angebotenen Selbstverteidigungskurse – ein Blick ins Netz zeitigt tausende entsprechender Angebote - stellen in erster Linie auf Techniken aus dem Repertoire fernöstlicher Nahkampfsysteme ab. Sammelbezeichnung für diese Kampfsysteme ist der japanische Begriff "Budo", was soviel bedeutet wie "Weg des Kriegers". Die bekanntesten der sogenannten "harten" Budo-Disziplinen, aus denen die Mehrzahl der einschlägigen Selbstverteidigungstechniken sich herleitet, sind Karate, Taekwondo und Kung-Fu. Es handelt sich hierbei um hochspezialisierte waffenlose Kampfsysteme, deren Wesentliches darin besteht, präzise und im Ernstfalle tödliche Stöße mit Händen und Füßen, aber auch mit Ellbogen, Knien und mit dem Kopf, mit konzentrierter Kraft und größtmöglicher Schnelligkeit gegen lebenswichtige Organe und Nervenzentren eines Gegners zu führen: Perfekt ausgetüftelte Systeme an Totschlagstechniken, die weltweit obligater Bestandteil der Ausbildung von Militär- und Polizeikräften sind.

"Ein Schlag muß genügen, den Gegner zu töten", wie es in einem häufig angeführten Zitat des südkoreanischen Armeegenerals Choi Hong-Hi heißt, der als "Vater des Taekwondo" verehrt wird. Jeff Speakman, weltweit bekannter Karatekämpfer: "Wir lernen, wie man Knie bricht, Gelenke zerschlägt und Augen eindrückt". Das Lehrprogramm der international führenden Kampfsportorganisation "Budo-Akademie Europa" gibt hierzu detaillierte Anweisungen: "Handkralle schlägt in den Kehlkopf des Angreifers, drei Finger der Hand fassen an die Luftröhre und drücken die Nerven zusammen. Die linke Hand fasst in die Haare und reißt den Kopf weit nach hinten. Die zusammengepreßten Finger drehen sich etwas und reißen im Ernstfall die Kehle auf".

Eindrücken des Kehlkopfs

Die einschlägigen Karate- und Kung-Fu-Bücher - hunderte davon sind heute auf dem Markt - überbieten sich in kampftechnischer Detailtreue. Didaktisch aufbereitet werden die einzelnen Schläge und Tritte Schritt für Schritt und illustriert mit Serienphotos zur Nachübung dargestellt: "Von hier nach links zur Seite rücken und Schlag mit der Faust zu den Hoden oder mit der Handkante zur Leber." In Lehrvideos werden "Selbstverteidigungstechniken" vorgeführt, die eigens hervorheben, dass "beim Angreifer ein bleibender Körperschaden, zum Beispiel Querschnittlähmung oder sogar Tod, eintritt". Detailliert wird etwa ein Fußtritt gegen den Hals eines bereits auf dem Boden liegenden Gegners demonstriert: "Entweder stoßen Sie von oben zum Kehlkopf, oder Sie setzen die Fußaußenkante auf den Kehlkopf und gehen über den Angreifer weg. So kommt es zum Eindrücken des Kehlkopfs. Es ist möglich, dass der Kehlkopf oder das Zungenbein dabei bricht". Besonderes Augenmerk wird in den Ratgebern auf das Verwenden von Alltagsgegenständen als Waffen gelegt: Autoschlüssel, Regenschirm, Kugelschreiber etc.: "Stich mit Nagelfeile ins Auge des Angreifers oder auch Hochstoßen ins Nasenloch".

Mögliche Bedenken hinsichtlich rechtlicher Konsequenzen werden in den Kursen, Lehrbüchern und Videos schnell zerstreut. Gebetsmühlenartig wird die sogenannte "Putativnotwehr" wiederholt, frau brauche sich nur darauf zu berufen, sich angegriffen gefühlt zu haben, und schon sei jedwede "Überschreitung der Grenzen der erforderlichen Verteidigung" gerechtfertigt; mithin der Einsatz von Budo-Kampftechnik in jeder noch so harmlosen Situation. Im übrigen gilt allemal die Maxime des Kampfkunstphilosophen Deshimaru-Roshi: "Erst denken und dann schlagen ist nicht die rechte Handlung".

Im Gefolge der Kölner Silvesternacht sind die Anmeldungen von Frauen zu Kampfsport- und Selbstverteidigungskursen nachgerade explodiert. In einer Vielzahl von Artikeln berichten die Teilnehmerinnen, dass und wie ihnen das Training zu ungeahnter Kraft und Selbstsicherheit verholfen habe: "Eine gewisse Überwindung kostete es mich", so die 24jährige Anke, "die Straßenkampftechniken zu trainieren. Ich stellte fest, dass mir als Frau eine ganze Portion Gemeinheit fehlte, wenn es beispielsweise darum ging, jemandem in die Augen zu stechen oder einen am Boden Liegenden unschädlich zu machen. Doch ich empfand es als besonders wichtig, solche Angriffssituationen immer wieder zu üben. Nur so konnte ich lernen, im Notfall handlungsfähig zu sein". Auch die 38jährige Renate wappnet sich seit einem Jahr durch Wehrsporttraining gegen männliche Übergriffe: "Zwar weiß ich nicht, was passieren würde, wenn ich einem richtigen Angreifer gegenüberstände, aber ich habe festes Vertrauen in meine Fähigkeit, mich angemessen zu verteidigen".

Verbreitet durch einschlägige Medien wird Frauennahkampftraining als nachgerade unabdingbar dargestellt. Umfänglich wird die allgegenwärtige Bedrohung beschworen, der Mädchen und Frauen unterlägen. Statistiken von Überfällen, sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen werden angeführt, suggestive Szenen werden entworfen: "Stellt euch vor, ihr geht im Park spazieren und denkt an nichts Böses. Plötzlich springt jemand hinter dem Gebüsch hervor und bedroht euch". Nur die Frau, die Selbstverteidigungstechniken erlernt habe, sei gefeit. Selbstverteidigung müsse zum obligaten Unterrichtsfach in den öffentlichen Schulen werden, das Bayerische Kultusministerium hat, mit ausdrücklichem Segen des Erzbischöflichen Ordinariats, längst ein eigenes Pilotprojekt dazu gestartet.

Augen- und Hodenquetschen

In den Selbstverteidigungskursen werden verschiedene Faustschläge und Fußtritte erlernt und geübt. Sie richten sich, so eines der Lehrbücher, ausschließlich gegen "anatomische Bereiche des Körpers, in denen ein Minimum an Kraftaufwand einen maximalen Schaden verursacht". Folglich: "Kehle, Augen und Hoden sind die einzigen Körperteile, um die es geht". Vielfach orientiert sich das Selbstverteidigungstraining an der sogenannten "Conroy-Methode", einer Zusammenstellung der angeblich wirksamsten Verhaltensweisen für Frauen in Gewaltsituationen. Die Methode, detailliert beschrieben in einem Lehrbuch der amerikanischen Nahkampfexpertin Mary Conroy, basiert auf lediglich sieben Kampftechniken, aufgelistet nach "Bedeutung und Brauchbarkeit": 1. Augenquetschen mit dem Daumen. 2. Hodenquetschen. 3. Fingerstoß in die Augen. 4. Kniestoß in die Hoden. 5. Doppelhandschlag gegen das Genick (Folgetechnik). 6. Tritte (Folgetechnik). 7. Schreien. Die einzelnen "Taktiken" werden genau erläutert: "Um die Methode des Augenquetschens anzuwenden, müssen Sie den Kopf Ihres Angreifers fest zwischen beide Hände nehmen und dabei auf die Ohren drücken. Dann drücken Sie so kräftig wie möglich Ihre Daumen in seine Augenhöhlen. Anders hingegen die Technik des "Hodenquetschens": "Greifen Sie Ihrem Angreifer einfach zwischen die Beine nach dem Hodensack, packen seine Hoden, drücken kräftig zu und führen eine heftige Dreh- und Ziehbewegung durch." Außerordentlich wichtig sei es, das "Hodenquetschen mit voller Kraft zu üben. Deshalb schlagen wir vor, dass Sie zwei Golfbälle in eine Socke legen und diese an einen Türgriff binden. Üben Sie dann, aus verschiedenen Richtungen zuzupacken und zu zerren." Conroy-Anweisung für Gegenwehr, wenn eine Frau "ohne Vorwarnung festgehalten" wird: "1. Beginnen Sie jeden Gegenangriff mit einem gellenden Schrei - Ahhh. 2. Zwingen Sie den Angreifer durch Augenquetschen, Hodensackzerren, Schläge und Tritte zu Boden. 3. Versetzen Sie ihm solange weitere Tritte, bis er völlig außer Gefecht gesetzt ist." Um die Bewegungsunfähigkeit des Angreifers zu sichern, rät Conroy zur "Taktik des Kniebrechens": "Sobald Sie Ihren Angreifer mit der Technik des Augenquetschens, mit Schlägen und Tritten besinnungslos gemacht haben, rollen Sie ihn auf den Rücken, packen sein Bein fest mit beiden Händen und treten mit aller Wucht das Knie durch."

"Schäumt vor Wut"

Im deutschsprachigen Raum weit verbreitet ist das Kampfsystem Wing-Tsun, eine Variante des chinesischen Kung-Fu. Angeblich von einer "Kampfnonne" des Shaolin-Klosters namens Ng Mui entwickelt stellt Wing-Tsun sich eben deshalb als ganz besonders für Frauen geeignetes Kampf- und Selbstverteidigungssystem dar. Ziel ist die "bedingungslose Ausschaltung des angreifenden Objekts". Die Ausschaltungsschläge und -tritte dieses "raffiniertesten Kampfsystems der Welt" (Eigenwerbung) heißen "Adamsapfelschlag", "Hodentritt" und "Eierreissen". Wing-Tsun wird in Wochenendlehrgängen aber auch in fortlaufenden Kursen gelehrt. Auch das vom israelischen Militär entwickelte Nahkampfsystem des Krav Maga greift hierzulande um sich. Krav Maga kennt, eigenem Bekunden zufolge, keine Regeln: "Erlaubt ist, was den Gegner unschädlich macht".

Zunehmend wird auch sogenanntes "Model-Mugging" angeboten. Bei dieser Methode, entwickelt von dem amerikanischen Karatelehrer Matt Thomas, trainieren Frauen in simulierten Vergewaltigungssituationen mit einem gepanzerten Mann, der sie verbal und tätlich angreift. Auf diesen Mann wird nun mit größter Wucht eingetreten und eingeschlagen, in erster Linie, um das "typisch weibliche 'Nicht-verletzen-Wollen'" als das "größte Hemmnis für Frauen bei der Selbstverteidigung" abzubauen.

"Schäumt vor Wut und die Schlagkraft wächst", heißt es bei Wing-Tsun. Für Frauen wird Nahkampftraining als ideale Möglichkeit der Selbstfreisetzung beschrieben: "Aggressionen freien Lauf zu lassen ist für viele Frauen nicht selbstverständlich", so die 44jährige Yvonne. "Bereits im Kindesalter sollen Mädchen brav und vernünftig sein. Anfangs fiel es mir schwer, richtig zuzuschlagen. Der Sandsack im Trainingsraum war für mich eine gute Möglichkeit, um die Technik des Boxens und des Fußtretens zu üben. Es bot mir zudem die Gelegenheit, mit den eigenen, geweckten Aggressionen zu spielen und einfach richtig draufzuhauen". Ob freilich jenseits der wachsenden Aggressivität sich auch das angestrebte Sicherheitsgefühl einstellt, bleibt, entgegen aller Behauptungen, zu bezweifeln.

Paranoides Bedrohtseinsgefühl

Tatsache ist, dass die im Training simulierten Übergriffs- und Gewaltsituationen zunehmend die ganze Welt als feindselig erscheinen lassen: alles und jedes wird zur Bedrohung, wogegen nur weitere Aufrüstung zu feien verspricht. Eine Teufelsspirale: Ängste und Bedrohtseinsgefühle, aus denen heraus ein Mädchen oder eine Frau einen Karate- oder Selbstverteidigungskurs belegen, werden mit jedem eingeübten Fauststoß und Fußtritt noch verstärkt. Das Gefühl des Bedrohtseins in einer real bedrohlichen Situation wird zum neurotischen Gefühl des Allbedrohtseins. Krav Maga-Trainerin Nicole: "Überall, wo ich hingehe, was ich auch mache, ich werde provoziert und angegriffen"

Das Gefühl permanenter Bedrohung, dem sich Nahkampfpraktizierende ausgesetzt sehen, führt zu permanenter "Alarmbereitschaft", zu ständiger "Hochspannung" im Organismus. Nach der Teilnahme an einem Selbstverteidigungskurs geht eine Frau, die auf der Straße nach dem Weg gefragt wird, ganz reflexhaft erst einmal in die antrainierte Karate-Abwehrstellung: es könnte sich ja um einen Überfall handeln. Der harmlose Passant kann von Glück sprechen, wenn er nicht gleich ein Knie in den Unterleib gerammt bekommt. In den Umkleidekabinen der Kampfsportvereine werden denn auch die schauerlichsten Geschichten gehandelt: "Der Typ, der mich da angemacht hat, ein Kin-Geri (=Karate-Tritt) und hatte Rühreier in der Hose".

Die Angst der Frauen vor gewalttätigen Übergriffen ist nachvollziehbar und ernstzunehmen. Individuelle Aufrüstung mit Karate oder dergleichen kann allerdings nicht die Lösung sein. Es wäre dies so unsinnig - und fatal!, wie sich in den USA zeigt -, wie eine Aufrüstung mit Handfeuerwaffen. Die objektive Sicherheit sänke durch Steigerung des Gewaltpotentials, das subjektive Bedrohtseinsgefühl, das ohnehin in künstlich verzerrter Relation zur tatsächlichen Bedrohung steht, steigerte sich ins Paranoide.

Vielfach versteht Frauen-Selbstverteidigungstraining sich auch als "therapeutisches" Medium. Obgleich manch ansonsten eher friedfertig wirkende Frau im Zuge des Einprügelns auf einen Sandsack ein Maß an Blutrunst freisetzt, das den Anschein erweckt, als breche sich Haßenergie aus Jahrtausenden patriarchaler Unterdrückung ihre kathartische Bahn, trägt derlei Übung doch zu keinerlei Selbstbefreiung bei, sondern, ganz im Gegenteil, bedingt in der simplen Umkehrung der Gewaltverhältnisse gerade deren Fortschreibung.

Bestenfalls kann das Üben von Schlägen und Tritten als Unterstützung dienen im therapeutischen Prozeß der Bearbeitung traumatischer Widerfahrnisse, sprich: sexueller oder sonstiger gewalttätiger Übergriffserfahrungen in früher Kindheit bis hin zu solchen im Erwachsenenalter. Derlei Übung kann - qualifizierte therapeutische Begleitung vorausgesetzt - einen Schritt darstellen, Stärke zu spüren, körperlich erfahrbares Selbstbewußtsein zu entwickeln. Dabei kann es nicht darum gehen, Männern "in die Eier treten" zu lernen, obgleich verständlich und therapeutisch zunächst notwendig sein mag, wenn Frauen derlei Gewaltphantasien entwickeln. Auf dieser Stufe der Vergeltung - "Auge um Auge, Zahn um Zahn" - stehen zu bleiben, schreibt die Gewalterfahrung, gegen die es anzugehen gilt, indes in alle Ewigkeit fort. Es ändert sich lediglich die eigene Position innerhalb der Gewaltverhältnisse, diese selbst bleiben unverändert: Frau wird selbst zur Gewalttäterin.

Ob WingTsun- oder Krav Maga-Kenntnisse auf dem Kölner Domplatz geholfen hätten? Wenn eine Frau dem ersten, der sie da begrapscht hat, in die Eier getreten hätte?