In einem gemeinsamen Projekt haben die Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz und die Universität Potsdam drei Jahre lang die Amerikanischen Reisetagebücher des Wissenschaftlers Alexander von Humboldt erschlossen und digitalisiert. Nun können Humboldts Beobachtungen weltweit erforscht werden.
"Durch diesen Fluß kann man Ideen in ganz Süd Amerika schnell in Umlauf bringen", schreibt Alexander von Humboldt 1800 in sein Tagebuch, nachdem er Tage und Wochen auf dem Wasser des Orinoco verbracht und dabei "Cacao, die wunderschöne Erfindung der Span. Conquistadoren, eine Speise (deren Werth auf Reisen man in Europa nicht kennt, nährend, reizend u sättigend in kleinem Volumen…)" entdeckt hat. Vor allem die Tierwelt beobachtete er dabei intensiv, da das Reisen auf dem Wasser "für die Naturbeobachtung am vortheilhaftesten" war. "Wie lange könnte man am festen Lande umherstreifen, ehe man jene Schar von Thieren in der Nähe beobachten könnte, welche des Fischfangs, Raubes, Trinkens oder der Kühlung wegen aus dem Dickicht an den Fluß hervortreten", notiert Humboldt in seinem vierten von neun Tagebüchern weiter.
Die neun in Schweinsleder gebundenen Tagebücher von Alexander von Humboldts Reise durch die amerikanischen Tropen, die der deutsche Schriftsteller Daniel Kehlmann in seinem Bestseller "Die Vermessung der Welt" verarbeitet hat, können seit Mitte Januar online durchforscht werden. In einem vom Bundesbildungsministerium geförderten Projekt wurden die etwa 4.000 Seiten umfassenden Tagebücher, die die Stiftung Preußischer Kulturbesitz 2013 für zwölf Millionen Euro für die Staatsbibliothek erwarb, drei Jahre lang erforscht und digitalisiert. Damit ist der gesamte schriftliche Nachlass des Naturforschers digital erschlossen.
Insgesamt summieren sich die mit akribischer Versessenheit aufs Detail verfassten Manuskripte, Briefe, Notizen und Forschungsaufzeichnungen im Nachlass des Universalgelehrten auf mehr als 33.000 Dokumente, von denen etwa zwei Drittel in der Berliner Staatsbibliothek und das übrige Drittel in der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau verwahrt werden. Insgesamt 75.000 Bilder umfasst die Digitalisierung des Nachlasses.
Humboldts Südamerika-Reise, die der jüngere der Humboldt-Brüder (1769-1859) zwischen 1799 und 1804 gemeinsam mit dem französischen Naturforscher Aimé Bonpland in die spanischen Kolonien und nach Lateinamerika unternahm, führte in Gebiete, die heute in Venezuela, Kuba, Kolumbien, Ecuador, Peru und Mexiko liegen. Es war die erste dokumentierte Reise überhaupt, die rein wissenschaftlichen Zwecken diente. Seine Forschungen waren dabei breit gefächert, die in neun schweinsledernen Bänden zu Tagebüchern gebundenen Aufzeichnungen enthalten Material zu Themen wie Sklaverei, Astronomie, Meeresströmungen, Naturgeschichte, Geschichte der Weltansicht, Mineralogie, Geographie der Pflanzen und ethnischen Klassifizierungen. Außerdem räumt Humboldt darin als einer der ersten europäischen Wissenschaftler mit dem Bild der Indianer als "wilde Völker" auf.
Humboldts Umgang mit seinen Tagebüchern war für seine Zeit ungewöhnlich und entspricht viel eher den Arbeitsweisen in der digitalisierten Wissenschaft als denen seiner Zeit. Seine Beobachtungen waren nie abgeschlossen, weshalb er seine Notizen, Skizzen und Tabellen immer wieder hervorholte, ergänzte oder überschrieb. Die zunehmend enger gesetzten Texte laufen deshalb immer wieder bis an die Ränder der Blätter, dazwischen stehen Skizzen, Zeichnungen und Zahlenmaterial. Die Texte folgen selten der Chronologie der Ereignisse, genau datierte Passagen zu Tagesereignissen stehen zwischen allgemeinen Beobachtungen.
"Einfügungen, Streichungen, erklärende Zusätze, Zitate, kurz alle erdenklichen Textergänzungen" belegen, dass der Naturforscher "die Tagebücher bis an sein Lebensende als Werkzeuge seiner Forschung und als Wissensspeicher nutzte", heißt es auf den eigens eingerichteten Humboldt-Seiten der Staatsbibliothek. Das erklärt auch die hohe Zahl der digitalen Aufnahmen, Weil Humboldt häufig mehrere Blätter und Zettel in den Tagebüchern übereinander geklebt hat, mussten oft mehrere Aufnahmen eines Dokuments gemacht werden, um den gesamten Inhalt abzubilden.
Immer wieder erhalten Humboldts Aufzeichnungen aber auch fast literarischen Charakter. Deshalb wurde bei dem nun abgelaufenen Forschungsprojekt nicht nur die Digitalisierung der Tagebücher vorgenommen, sondern deren Inhalt auch "hinsichtlich der literarischen Verfahren seines Schreibens untersucht."
Legendär geworden ist unter anderem seine Passage zum Verteidigungsverhalten von Zitteraalen, bei denen einige Pferde ihr Leben lassen mussten. "Die Furcht vor den Schlägen des Zitteraals ist im Volke so übertrieben, dass wir in den ersten drei Tagen keinen bekommen konnten", schreibt er in seinem Tagebuch. Und weiter: "Unsere Führer brachten Pferde und Maultiere und jagten sie ins Wasser. Ehe fünf Minuten vergingen, waren zwei Pferde ertrunken. Der 1,6 Meter lange Aal drängt sich dem Pferde an den Bauch und gibt ihm einen Schlag. Aber allmählich nimmt die Hitze des ungleichen Kampfes ab, und die erschöpften Aale zerstreuen sich. In wenigen Minuten hatten wir fünf große Aale. Nachdem wir vier Stunden lang an ihnen experimentiert hatten, empfanden wir bis zum anderen Tage Muskelschwäche, Schmerz in den Gelenken, allgemeine Übelkeit." Die Wissenschaftswelt betrachtete diese sensationellen Beobachtungen wegen der ihr innewohnenden Dramaturgie lange Zeit mit großer Skepsis. Neuere Forschungen bestätigten aber Humboldts Beobachtung.
Dass Humboldts Tagebücher nicht nur selbst literarischen Charakter haben, sondern Künstler und Literaten inspirierte, belegt eine Vielzahl von Erscheinungen – neben Daniel Kehlmanns "Die Vermessung der Welt" etwa César Airas Novelle "Eine Episode im Leben des Reisemalers" (vormals "Humboldts Schatten"), Saul Bellows Roman "Humboldts Vermächtnis" oder der Comic "Humboldts letzte Reise" von Étienne Le Roux und Vincent Froissard.
Humboldts Reisetagebücher markieren sowohl auf naturwissenschaftlicher wie auch auf kulturwissenschaftlicher Ebene einen entscheidenden Paradigmenwechsel. Humboldt wollte raus aus dem einsamen Gelehrtendasein im Elfenbeinturm der Wissenschaft. Mit seinen ausufernden und niemals abgeschlossenen Aufzeichnungen legte er die Grundsteine für die Manifestierung des Wissens im Kontext der sich konstituierenden europäischen Moderne. Als Wissenschaftler wollte er Welt nicht nur erforschen, sondern auch erfahren und das dabei gesammelte Wissen so teilen, dass die Nachwelt davon profitieren sollte. Nicht nur das Vernetzungsprinzip der internationalisierten Wissenschaft, sondern auch der Ansatz der Open-Source-Bewegung hat in Humboldts mehrsprachigen Aufzeichnungen seinen Ursprung. Seine Forschungen sind ein Meilenstein der weltlichen Naturwissenschaften.
Die Digitalisierung des Nachlasses von Alexander von Humboldt ermöglicht es, die Beobachtungen und Erkenntnisse des Naturforschers weltweit, zeitgleich und vollständig in den Blick zu nehmen. Neben einer Edition seiner gesammelten Reiseschriften, für die die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften das Forschungsprojekt "Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung" ins Leben gerufen hat, sollen nun die Amerikanischen Reisetagebücher "mit neuen Forschungsansätzen … in den Kontext der Kultur, Politik, Gesellschaft und der Forschung des 19. Jahrhunderts" gestellt werden. Ausgewählte Erkenntnisse aus der Durchdringung von Humboldts Schriften werden regelmäßig in der frei zugänglichen Wissenschaftszeitschrift "HiN – Humboldt im Netz" veröffentlicht.
Die Staatsbibliothek Berlin arbeitet seit Jahren an der Digitalisierung ihrer gesammelten Handschriften, derzeit sind insgesamt 121.133 Werke online zugänglich. Neben den Amerikanischen Reisetagebüchern sind aus Alexander von Humboldts Nachlass noch weitere 2.900 Handschriften digitalisiert.