Dass man den Islam liberal und zeitgemäß deuten kann, wollen die Autoren des Sammelbandes "Muslimisch und liberal! Was einen zeitgemäßen Islam ausmacht" verdeutlichen. Sie beanspruchen, eine moderne Deutung gegenüber den orthodoxen Haltungen zu vertreten, ohne mit dem Glauben zu brechen, aber über eine Neuinterpretation, wobei die Frage der gesellschaftlichen Realisierung nicht näher thematisiert wird.
Passen Islam und Liberalität zusammen? Nein, antworten Djihadisten und Islamisten. Nein, meinen auch Islamhasser und Muslimenfeinde. Dieser absonderliche Konsens ist einfach erklärbar, ergibt er sich doch aus einheitlichen Einschätzungen des Muslimseins. Beide Auffassungen behaupten, den Islam allein richtig verstanden zu haben. Die inhaltliche Bewertung ist indessen ganz unterschiedlich. Gleichwohl darf auch seriös gefragt werden, wie denn Islam und Liberalität zusammenpassen könnten. Antworten darauf findet man in einem Sammelband, der mit "Muslimisch und Liberal! Was einen zeitgenmäßen Islam ausmacht" als Titel erschien. Herausgegeben hat ihn Lamya Kaddor, die 2010, also vor zehn Jahren, den "Liberal-Islamischen Bund" gründete und sich damit für ein progressives Islamverständnis einsetzt. Was sie darunter versteht, wird in der Einleitung erläutert: Man behalte die Gültigkeit und Relevanz der Theologie bei, aber weder der Koran noch andere Quellen würden außerhalb einer kritischen Prüfung stehen.
Die 21 Artikel des Sammelbandes wurden in drei Teile gegliedert. Zunächst geht es um "koranhermeneutische Zugänge", wobei insbesondere progressive Auffassungen aus dem Text herausgearbeitet werden sollen. Besonders interessant sind die Betrachtungen zu der Frage, ob Islam und Menschenrechte einen Widerspruch bilden. Waqar Tariq meint dazu: "Das Menschenbild des Korans ist also … derart, dass dieser die Menschen als freie und gleiche, mit einer unantastbaren Würde begreift …" (S. 93). Hier wie bei anderen Glaubensformen kann man fragen, warum dies in der gesellschaftlichen Realität dann nicht so war. Der zweite Block versammelt Texte zu "gesellschaftspolitischen Zugängen". Zutreffend macht der Grünen-Politiker Omid Nouripour darauf aufmerksam: "Die Nazis brauchen die Dschihadisten, um den Deutschen Angst zu machen. Die Dschihadisten brauchen aber auch die Nazis, um Menschen auf der Suche nach ihrer Identität klarzumachen, dass 'die Deutschen sie nicht haben wollen'" (S. 110). Dies steht für den gemeinten Konsens.
Die folgenden Beiträge gehen dann ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Themen nach. So will etwa Arne List begründen "Warum wir eine muslimische Linke brauchen" und worin dabei die Schnittmengen bestehen. Es werden aber auch bewusst Probleme angesprochen, etwa zur Frage "Wie umgehen mit Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen?" von Mansur Seddiqzai oder "Warum es gut zum Islam passt, vegan zu leben" von Hilal Sezgin. Der dritte Teil thematisiert dann "genderspezifische Zugänge", wo etwa die Geschlechtergerechtigkeit und Homosexuellendiskriminierung angesprochen werden. Ganz am Ende greift die Herausgeberin noch die Kopftuch-Frage auf, wobei sie anhand einschlägiger Quellen eine theologische Untersuchung vornimmt. Dabei praktiziert Kaddor die erwähnte Historisierung des Koran und veranschaulicht darüber hinaus: "Das Kopftuch zu einem verbindenden Element der muslimischen Gemeinschaft zu stilisieren, hat in der Geschichte des Islam keine Verankerung" (S. 305).
Es handelt sich nach der Herausgeberin um ein Lesebuch zum liberalen Islam. Dabei wird deutlich, dass viele Aussagen im Koran auch anders als gegenwärtig dominierend gedeutet werden können. Erkennbar geht es den Autoren um eine Deutungsänderung, nicht um einen Bruch mit dem Glauben. Sollte es so zu mehr Freiheit und Individualität unter Muslimen kommen, wäre dies um eines Miteinanders unterschiedlicher Positionen zu Religion mehr als nur wünschenswert. Indessen wird in keinem Aufsatz anhand von empirischen Daten angesprochen, wie hoch die Akzeptanz eines liberalen Islam unter Muslimen ist oder wäre. Bekanntlich wurde die Auffassung von einem "Euro-Islam" bereits vor Jahren von dem Politikwissenschaftler Bassam Tibi forciert, dafür fand er fast nur unter intellektuellen Muslimen größere Zustimmung. Wie erfolgreich könnte heute ein solches Konzept sein und was stünde diesem von verschiedenen Seiten entgegen? Derartigen Fragen müssten sich viele Protagonisten stellen, auch und durchaus im Interesse eines liberalen Islams.
Lamya Kaddor (Hrsg.), Muslimisch und Liberal! Was einen zeitgemäßen Islam ausmacht, München 2020 (S. Piper-Verlag), 320 S., 22,00 Euro
11 Kommentare
Kommentare
Klarsicht(ig) am Permanenter Link
Leseempfehlung:
Kritik der liberalen Auslegungen des Islam. Die Islamdebatte zwischen politischer Zweckmäßigkeit und intellektueller Redlichkeit:
http://www.gkpn.de/Oezbe_Kritik-der-liberalen-Auslegungen-des-Islam.pdf
„Den Islam gibt es nicht“. Doch ! Zur Kritik eines stereotypen Abwehrdogmas:
http://www.gam-online.de/text-den%20Islam%20gibt.html
Gruß von
Klarsicht(ig)
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Ein komplexes Thema. Ich weiß nicht, ob das Buch auch den Grund für Religion einbezieht. Dieser liegt - die tägliche Praxis beweist es - in der Kontrolle einer Gruppe nach patriarchalischer Lebensweise.
Denn über eines sind sich sicher auch die Autoren dieses Bandes im Klaren: Da es keinen Gott gibt, kann es keine göttliche Botschaft geben. Es gibt weder die Mutter der Schrift im Himmel noch Engel, die sie übermitteln könnten. Daher ist gerade der Glaube das schwächste Glied in der religiösen Kette. Er hat kein Fundament.
Gleichzeitig erkennen auch muslimische Theologen beim Christentum, was geschieht, wenn eine Religion zu liberal wird. Dort gibt es zwar auch einen verzweifelten Kampf um die Restgläubigen, doch der ist längst verloren. Der Strom in die selbstgewählte Freiheit außerhalb der Kirchen ist unaufhaltsam. Das wäre auch die Wirkung eines in die muslimische Gesellschaft eindringenden liberalen Islams. Vorbei wäre die Kontrolle des Patriarchats.
Daher kämpfen fundamentale Muslime um die Deutungshoheit. Sie schassen Sven Kalisch, danach Prof. Khorchide, bekämpfen Seyran Ates und haben Bassam Tibi nie für voll genommen. Ein liberaler Islam wäre für wenige eine intellektuelle Spielerei (die der Koran übrigens selbst verbietet) und für die übrigen das Einläuten des Endes dieser Religion.
Die ehemals 95 % Christen in Deutschland haben dank unserer freiheitlichen Grundordnung von der Freiheit gekostet und sie hat ihnen geschmeckt. Daher gibt es kein Zurück mehr in die Zeiten christlicher Gesellschaftskontrolle. Der Islam geht wohl den Weg, dass immer mehr Muslime zu Folklore-Muslimen werden, die zwar die Feste noch feiern, aber längst nicht mehr dieses Übermaß an Kontrolle zulassen, was der eigentliche Zweck ihrer Religion ist. Das Ergebnis wird wohl das gleiche sein...
David Z am Permanenter Link
"Der Islam geht wohl den Weg, dass immer mehr Muslime zu Folklore-Muslimen werden"
Das waere zu wünschen. Indes, die Fakten deuten nicht unbedingt in diese Richtung, weder in den Stammgebieten des Islam noch in der aufgeklärtesten Region dieses Planeten: Europa.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Der Weg ist erkennbar und sicher eine Einbahnstraße - allen Reaktivierungsversuchen der Hardliner zum Trotz. Worüber man streiten kann, ist die Geschwindigkeit, mit der diese Privatisierung des Glaubens geschieht.
David Z am Permanenter Link
Ich wünschte, es wäre eine Einbahnstrasse.
Ich bin in der Sache pessimistisch. Ideen sterben nicht, insbesondere keine irrationalen.
Martin Franck am Permanenter Link
Vielen Dank an den ersten Poster: Klarsicht(ig) mit den Links.
Als ich mich vom Glauben lossagte, war es ein Prozess in Stufen, und reifte über die Zeit.
Denn https://de.wikipedia.org/wiki/Es_gibt_kein_richtiges_Leben_im_falschen es gibt kein richtiges Leben im falschen.
Aber für manche ist ein Sprung Søren Kierkegaards mit Entweder - oder, zu viel und zu weit.
Manchmal benötigt man erst eine https://de.wikipedia.org/wiki/Konfrontationstherapie Konfrontationstherapie für eine https://de.wikipedia.org/wiki/Systematische_Desensibilisierung systematische Desensibilisierung.
Erst einmal sagt man, daß der Koran sich über die Zeit veränderte, und schon sprachlich schwierig zu interpretieren ist, wie das Beispiel mit den Trauben statt Jungfrauen zeigt.
Dann zeigt man die Probleme der Hadithen, bei einer rein fiktiven Figur, die ja alle gefälscht sind.
Aber selbst wenn man sagt, daß im 7. Jahrhundert die weisesten Autoren mit all dem damals verfügbaren Wissen die Texte schrieben, was können sie uns heute sagen? Natürlich kann ich auch heute von Homer Ilias und Odyssee lesen. Meist aber in leichter Form wie in https://de.wikipedia.org/wiki/Die_sch%C3%B6nsten_Sagen_des_klassischen_Altertums Die schönsten Sagen des klassischen Altertums von Gustav Schwab. Aber es gibt heutzutage so viel mehr Wissen, das damals nicht berücksichtigt werden konnte, und die Welt hat sich in der Zwischenzeit verändert.
Manche erfreuen sich an Gandalf von J.R.R. Tolkien, andere mögen lieber Master Yoda in Star Wars. Trekkies wiederum lieben Spock.
Wenn jemand Krücken braucht, ist jede Hilfe gut.
A.S. am Permanenter Link
Frau Kaddor macht als modernere Muslima m.E. den gleichen Fehler wie viele Christen: Sie lassen sich von dem Freiheits- und Gottesliebeversprechen ihrer Religion blenden.
Lurchi am Permanenter Link
> Erkennbar geht es den Autoren um eine Deutungsänderung, nicht um einen Bruch mit dem Glauben.
Ziel bleibt aber trotzdem, den Glauben auf eine homoeopathische Dosis zu reduzieren. Viele Christen in Deutschland haben ja auch schon so stark religioes abgeruestet, dass man sie vielleicht noch vor 100 Jahren gar nicht als solche bezeichnet haette.
> Indessen wird in keinem Aufsatz anhand von empirischen Daten angesprochen, wie hoch die Akzeptanz eines liberalen Islam unter Muslimen ist oder wäre.
Leider sind die Zahlen sehr entmutigend. Es stimmt zwar, dass es "den Islam" nicht gibt, aber mit dieser Aussage will man zumeist von den empirischen Daten ablenken. In Daenemark wollen z.B. laut einer kuerzlich veroeffentlichten Studie 76% der Einwanderer aus islamischen Laendern Islamkritik kriminalisieren.
David Z am Permanenter Link
Dieser hohe Prozentsatz von Feinden der Meinungsfreiheit innerhalb des Kollektivs der Muslime deckt sich mit diversen Umfragen aus FR oder UK.
Thomas R. am Permanenter Link
Und OB das paßt! Theolügie macht's möglich. Allerdings ist eine religiöse Überzeugung x ebenso irrational und ethikfeindlich wie eine religiöse Überzeugung nicht-x.
David Z am Permanenter Link
"Passen Islam und Liberalität zusammen? Nein, antworten Djihadisten und Islamisten. Nein, meinen auch Islamhasser und Muslimenfeinde."
Der Autor hat wissentlich oder unwissentlich die dritte Gruppe verschwiegen, die ebenfalls mit Nein antwortet, nämlich Rationalisten inkl vieler Muslime.
Sicher, man kann alles iwie umdeuten. Wenn man allerdings die Prämisse beibehält, dass der Koran das unmittelbare und letzte Wort "Gottes" ist, dann aber hergeht und das wörtliche wie zB "und dann schlagt sie" als "und dann streichelt sie" interpretiert, dann hat man nicht zwei gleichwertige Interpretationen vorliegen, sondern eine, die in sich schluessig ist und eine die grotesk unehrlich ist und einen intelektuellen Affront darstellt.
Das ist das Grundproblem des Islam. Die üblen Stellen sind genau so gemeint, wie sie dort stehen. Sie sind in sich schlüssig und im Kontext überzeugend.
Kann man sich in die Tasche lügen und zb obiges Beispiel als "streicheln" deuten? Sicher. Aber auf Dauer funktioniert solch infantiles Gebaren
nicht, was wir an den kläglichen Entwicklungen jedweder Modernisierungsversuche in der Islamgeschichte erkennen.
Zielführend kann nur Ehrlichkeit sein, beginnend bei Mo selbst. Ehrlichkeit aber würde das Haus Islam zusammenbrechen lassen.
Dilema: Mittelalter oder grotesk lächerlicher und damit wenig überzeugender Selbstbetrug.