"Kapuzenjunge", der aktuelle Roman von Heinrich von der Haar, ist die Geschichte eines ebenso mutigen wie sympathischen Experiments.
Der von seiner Frau getrennt lebende Heiner hat sich aufgrund eines Pflegevertrages einen vierjährigen libanesischen Waisenjungen in sein Haus geholt mit der Absicht, ihn eines Tages zu adoptieren. Ob dieses Vorhaben ein zusätzlicher Grund für die Trennung von seiner Frau ist, bleibt offen. Jedenfalls nimmt Heiner den zähen und langwierigen Kampf um die Adoption des Jungen auf, dessen leiblicher Vater im Bürgerkrieg verschwunden und dessen drogenabhängige Mutter sich das Leben genommen hatte. Dem Kind wurde immer erzählt, seine Mutter sei bei einem Autounfall gestorben.
Als Jani, so der neue Name des Jungen, der eigentlich auf den Vornamen Omar gehört hatte, nach etlichen Jahren und vielen bürokratischen Hindernissen von Heiner adoptiert werden konnte, hatte dieser bereits die unterschiedlichsten Erfahrungen mit der Reaktion seiner Umgebung machen können. Da sind die Frauen des Jugendamtes, die sich zwar für die Adoption einsetzen, aber deshalb wohl auch eine verstärkte Kontrollpflicht zu entwickeln scheinen. Und da sind die Mütter der Schulkameraden, die es etwa bei Elternabenden oder Kindergeburtstagen fertig bringen, ihre Bewunderung und ihre Missbilligung im selben Atemzug auszudrücken: "Wie schaffen Sie das, allein mit so einem Kind?"
Bei solchen Äußerungen, die Heiner öfter zu hören bekommt, denkt er manchmal: "Es klingt, als wären ein alleinerziehender Mann und ein arabisches Waisenkind aus einem Heim zwei Außerirdische …"
Es ist letztlich diese häufig wiederkehrende subtile Kritik, die Heiner mehr zu schaffen macht als offene Aktionen der Ablehnung, über die man immerhin mit den meisten Erwachsenen reden kann, etwa warum Janis Schulkamerad Paul nicht mehr zu ihm kommen darf, weil Pauls Eltern das verboten haben.
Trotz deutlicher Fortschritte, etwa in seinem Sprachverhalten oder bei seiner aktiven Mitwirkung im Hockey-Verein als talentierter Spieler und als Betreuer der Jüngeren, zeigt Jani immer wieder unerklärliche sehr emotionale und aggressive Ausbrüche, die Heiner völlig ratlos und verzweifelt werden lassen. Das Jugendamt stellt in einem Brief lakonisch fest: "Leider wissen wir über Janis Kindheit fast gar nichts!"
Heiner muss sich eingestehen, dass dieses Manko auch für ihn ein Problem darstellt. Liebevolle Zuwendung hat der Junge in seinen ersten Lebensjahren nicht oder nicht in ausreichendem Maße erfahren. Kann das jemals nachgeholt werden, insbesondere in den aggressiven Phasen, wenn es enorm wichtig wäre (aber fast unmöglich ist), liebevolle Gelassenheit zu zeigen statt selber aggressiv zu reagieren?
Die Geschichte läuft Heiner schließlich völlig aus dem Ruder, als mit Einsetzen der Pubertät und unter dem wachsenden Einfluss seiner Peer-Group Jani immer mehr in die Drogenszene abgleitet – mit allen denkbaren hässlichen Begleiterscheinungen.
Ohne nur noch in Selbstmitleid zu verfallen, muss sich Heiner am Ende eingestehen, dass sein gut gemeintes Experiment weitgehend gescheitert ist.
Ein spannend zu lesendes, aber stellenweise auch bedrückendes Buch, dem viele Leser zu wünschen sind, weil angesichts der vielen Konfliktherde auf der Welt die Zahl der vernachlässigter und entwurzelter Kinder eher noch zunehmen dürfte.
Heinrich von der Haar, Kapuzenjunge, Kulturmaschinen-Verlag, 2019, 526 Seiten, 14,80 Euro