Interview zu Frauen im Ukraine-Krieg

Die einen ziehen in den Krieg, andere werden verkauft

Frau_Ukraine-Krieg.jpg

Symbolbild
Symbolbild

Es ist Krieg und Frauen gehen hin und kämpfen. Viele Ukrainerinnen schicken ihre Kinder ins Ausland und melden sich bei der Armee. Die mutigen, selbstbewussten Frauen sind nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite boomt der Menschenhandel. Die Zahl der ukrainischen Prostituierten in Europa sei bereits gestiegen, sagt Gesa Birkmann, Abteilungsleiterin Themen und Projekte bei Terre des Femmes, im Interview mit dem hpd.

hpd: Frau Birkmann, ukrainische Frauen, die zur Waffe greifen, um ihr Land zu verteidigen – ist das typisch für die Frauen in der Ukraine oder hat der Krieg das Rollenverständnis verändert? Sind die Strukturen in der Ukraine nicht stark patriarchal?

Gesa Birkmann: Ja, zahlreiche Ukrainerinnen melden sich freiwillig bei der Armee, um ihr Land für ihre Kinder, für ihre Familien zu verteidigen. Nicht alle Menschen flüchten vor dem Krieg. Es gibt viele Menschen, darunter auch Frauen, die in die Ukraine zurückkehren, um ihre Heimat zu verteidigen. Die Ukraine ist ein demokratisches Land. Natürlich sind dort patriarchale Strukturen verankert gewesen, wie auch in Deutschland. Es gab vor dem Krieg auch in der Ukraine geschlechtsspezifische Gewalt – viele Frauen waren zum Beispiel von häuslicher Gewalt betroffen. Aber es gab, wie in jeder Demokratie, eine Frauenbewegung, die für Gleichstellung, für Frauenrechte und für den Schutz von Frauen vor Gewalt gekämpft hat.

Diese Bewegung hat erreicht, dass die Regierung in der Ukraine sich 2020 verpflichtet hat, ein bis 2025 andauerndes staatliches Programm zur Verbesserung der Lage für von Gewalt betroffene Frauen zu entwickeln. Menschenrechte ist seit 2022 ein Pflichtfach im Lehrplan für SchülerInnen im Alter von 11–15 Jahren. Die Frauen der Ukraine sind starke, selbstbewusste und mutige Frauen, weshalb jetzt viele von ihnen zur Waffe greifen, um ihr Land zu verteidigen. Das hat nicht zwingend etwas mit einem neuen Rollenverständnis zu tun – wahrscheinlich eher etwas mit Kampfgeist, Patriotismus und einer Notwendigkeit, die ein Krieg mit sich bringt.

Viele Frauen ziehen selbstbewusst in den Krieg. Auf der anderen Seite boomt der Menschenhandel. In den Medien gibt es vermehrt Berichte über verschwundene Frauen und Kinder. Wo genau auf dem Fluchtweg können Frauen Menschenhändlern begegnen?

Bislang ist uns bekannt, dass Frauen auf dem Fluchtweg Menschenhändlern bei der Ankunft an großen Bahnhöfen begegnen können. Große Bahnhöfe bieten viel unübersichtlichen Raum für viele Menschen. Wer erschöpft, traumatisiert und voller Sorgen ankommt, ist sicherlich dankbar um jedes Hilfsangebot.

Ohnehin sind Mädchen und Frauen in Notsituationen und im Fluchtkontext weltweit besonders gefährdet: durch organisierte Kriminalität zur Prostitution gezwungen zu werden, geschlechtsspezifische Gewalt zu erfahren und/oder vergewaltigt zu werden.

Mit welchen Tricks arbeiten die Menschenhändler?

Sie bieten Hilfe an, eine Unterkunft, eine Arbeit, Versorgung, machen falsche Versprechungen. Wenn eine Frau, ein Mädchen mitkommt, ist sie quasi vom Radar. Polizei, Hilfsorganisationen und Behörden, werden diese Frau, das Mädchen wahrscheinlich nicht wiederfinden beziehungsweise nicht schnell genug finden, um sie vor der Zwangsprostitution oder anderer Ausbeutung schützen zu können.

Sogenannte Loverboys können in dieser Fluchtsituation Hilfe anbieten und versuchen, das Vertrauen von Mädchen und jungen Frauen zu gewinnen, spielen ihnen die große Liebe vor. Wenn eine emotionale Abhängigkeit vorhanden ist, die sozialen Kontakte zu anderen abgeschnitten sind, das Mädchen oder die junge Frau isoliert ist, zwingt der Loverboy sie in die Prostitution. Häufig spielt er vor, in finanzieller Not zu sein, Schulden zu haben, die nur durch Prostitution abgegolten werden können. Er spielt vermeintliche Liebe vor, droht mit Gewalt, wenn das Mädchen oder die junge Frau sich nicht prostituieren möchte. Im Fluchtkontext reicht vielleicht schon eine Abhängigkeit aus Angst vor einer ungewissen Zukunft, kein Dach über dem Kopf zu haben, aus.

Gibt es sowohl organisierten Menschenhandel als auch Einzeltäter?

Sicher wird es beides geben. Krieg und Flucht gehen leider immer mit geschlechtsspezifischer Gewalt Hand in Hand. Des Menschen Feind ist der Mensch und für Frauen auf der Flucht gilt mehrheitlich, dass Männer ihre Notsituation skrupellos ausnutzen.

Wann ist die Aufmerksamkeit von Helferinnen gefragt? Wo können sie eingreifen?

Es ist wichtig, dass auch die Helferinnen aufgeklärt und sensibilisiert werden für die Gefahr von MenschenhändlerInnen und ZuhälterInnen. Wann immer eine Helferin ein merkwürdiges Verhalten einer anderen Person mitbekommt, sollte sie das Verhalten umgehend der vor Ort anwesenden Polizei melden. Gut wäre sicherlich, zur Dokumentation ein Foto oder ein Video zu machen, wenn dies gefahrlos möglich ist.

Bei ihrer Ankunft in Deutschland braucht es für Frauen und Kinder Sicherheit durch flächendeckende, langfristige, barrierefreie Schutzräume, wo ihre Gesundheits- und Erst-Versorgung gewährleistet wird. Private Hilfsangebote für die Unterbringung oder auch Mitfahrgelegenheiten müssen polizeilich registriert und überprüft werden.

In einem Offenen Brief an die Bundesregierung haben wir Schutzmaßnahmen für geflüchtete Frauen und Kinder aus der Ukraine bei ihrer Ankunft in Deutschland gefordert. Die Ankunftsinfrastruktur muss besser auf Frauen und Kinder angepasst werden. Dazu gehört zum Beispiel, dass die Geflüchteten sowie die HelferInnen über mögliche Gefahren und ihre Rechte informiert werden und Betreuung sowie Unterstützung durch Fachpersonal erhalten, besonders in Fällen von sexualisierter Gewalt. Ein konsequentes Nachgehen der Polizei bei Verdacht von Frauenhandel und Ausbeutung von Geflüchteten sowie Platzverweise zum Beispiel am Hauptbahnhof bei auffälligem Verhalten sind unabdingbar. Das alles geschieht jetzt schon.

Ja, gerade hat die Gewerkschaft der Polizei gefordert, Schutzzonen in Bahnhöfen einzurichten, um die Frauen und Kinder zu schützen. Aber: Wie kann es überhaupt sein, dass Deutschland ein Hauptzielland für Menschenhändler ist? 

Die legale, gesellschaftlich anerkannte Infrastruktur für Prostitution in Deutschland begünstigt und vereinfacht den Menschenhandel und die Zwangsprostitution, weswegen Terre des Femmes ein Sexkaufverbot und die Einführung des Nordischen Modells fordert. Das heißt die Entkriminalisierung der Prostituierten, Kriminalisierung der Sexkäufer und staatlich finanzierte Ausstiegsprogramme für Prostituierte. Gerade weil die Prostitution in Deutschland legal ist, ist eine Zwangsprostitution sehr schwierig zu beweisen und aufzudecken. Niemand in Deutschland fragt eine Prostituierte – es sind ja mehrheitlich Frauen –, ob sie sich freiwillig prostituiert.

Betroffene Frauen in der Prostitution erfahren eine Welt voller Gewalt, Zwang und Unterdrückung, weswegen viele von ihnen aus Angst zu den wahren Umständen ihrer Situation schweigen. Viele Frauen, die aus anderen Ländern, häufig aus Osteuropa oder Nigeria, Afrika kommen, haben kein Vertrauen zur Polizei, da sie oftmals Korruption aus ihren Heimatländern, ausgeübt von der Polizei, erlebt haben.

Es ist abscheulich, aber schon jetzt steigt die Anzahl von ukrainischen Prostituierten in Europa, ebenso wie ihr Handel und ihre Ausbeutung. Schlagworte wie "Ukraine" und "ukrainische Mädchen" sind laut Migrant Women Network bereits auf Pornografie-Websites im Trend, und wir sehen Käufer von Frauen in der Prostitution, die den Krieg in der Ukraine feiern, weil er mehr Frauen und Mädchen in dieses gewalttätige System treiben wird.

Die Frauen werden also in der Regel zwangsprostituiert. Wo landen die Kinder?

Unbegleitete Kinder verschwinden einfach, wenn sie von MenschenhändlerInnen erfasst werden. Neben Frauen auf der Flucht sind es vor allem Kinder, die einem erhöhten Risiko von sexueller Ausbeutung und Menschenhandel ausgesetzt sind. Durch Krieg und Flucht traumatisierte Kinder sind "einfache Beute" für MenschenhändlerInnen, die mit nur wenigen Tricks die Kinder anlocken, mit ihnen zu kommen – vorgespielte Freundlichkeit, ein Lächeln, Süßigkeiten, etwas zu Essen, ein Kuscheltier reichen in dieser Notsituation oft aus, dass Kinder mitgehen.

Es gibt ein gut strukturiertes Netzwerk von MenschenhändlerInnen in Deutschland, Europa und weltweit, die Kinder jahrelang unentdeckt versteckt halten und sie ausbeuten, ihnen Gewalt antun, sie vermarkten und damit zerstören. Deshalb benötigen wir dringend einen umfassenden standardisierten Kinderschutz, damit unbegleitete Kinder kindgerecht und sicher untergebracht werden und nicht in die Hände von MenschenhändlerInnen geraten.

Unterstützen Sie uns bei Steady!