Exzellenzcluster Religion und Politik

Ist "keine Religion" die neue Religion?

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Religionssoziologin Linda Woodhead erforscht die "Nones"
Linda Woodhead

Unter diesem Titel stand ein Vortrag, den die britische Religionssoziologin Linda Woodhead vergangene Woche im Rahmen ihrer Gastprofessur am Exzellenzcluster Religion und Politik der Universität Münster hielt. Woodhead stellte in dem Vortrag Forschungsergebnisse über die rätselhafte Gruppe der Nicht-Religiösen vor.

Linda Woodhead ist eine der bekanntesten Religionsforscherinnen Großbritanniens. Die Theologin und Religionswissenschaftlerin ist Professorin für Religionssoziologie an der Lancaster University und hat sich unter anderem spezialisiert auf die Themen Säkularisierung und den Zusammenhang von Religion und Emotion. In ihrem Vortrag für den Exzellenzcluster Religion und Politik der Universität Münster widmete sich Woodhead einer weltanschaulichen Gruppe, die Religionssoziologen seit einigen Jahren mit zunehmendem Interesse untersuchen: den Konfessionslosen – oder korrekter den sogenannten "Nones".

Die Klassifizierung "Nones" ist einer der Versuche der Religionssoziologie die Gruppe der religiös nicht gebundenen Menschen wissenschaftlich zu erfassen. Ihren Namen tragen die Nones, weil sie in Umfragen bei Angaben zu ihrer Religion weder das Kästchen einer Religion, noch das Kästchen "Sonstige" ankreuzen, sondern das Kästchen "Keine" – auf Englisch "None".

Die Gruppe der Nones wachse derzeit stark, so Woodhead. Allerdings hauptsächlich in ehemals mehrheitlich christlichen Ländern mit liberalen Demokratien. Der Rest der Welt sei dagegen auch weiterhin eher religiös. Wann dieser Prozess des Anwachsens der Nones in der westlichen Welt begonnen hat, ist laut Woodhead unbekannt. Die Tendenz jedoch sei eindeutig. Gab es in Großbritannien 1983 noch 31% Nones, so waren es im Dezember 2015 bereits 50%. Gerade unter jüngeren Menschen steigt der Anteil der Nones signifikant.

Wie jemand zum None wird, ist laut Woodhead noch nicht vollständig geklärt. Allerdings besteht eine 95%ige Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch zum None wird, wenn er ohne Religion aufwächst. Wächst er als Christ auf, so liegt die Wahrscheinlichkeit nur bei 45%. Wer als Christ will, dass seine Kinder Christen bleiben, sollte sie allerdings lieber auf eine staatliche als auf eine christliche Schule schicken. Die Wahrscheinlichkeit, die Schule als None zu verlassen liegt laut Woodhead in England beim Besuch von anglikanischen und katholischen Schulen nämlich höher als bei staatlichen Bildungseinrichtungen.

Nones haben laut Woodheads Forschung einige signifikante Gemeinsamkeiten. Sie betrachten sich lieber als Individuen und nicht als Teil einer Gruppe und sie legen großen Wert darauf, nicht von außen bestimmt zu werden, sondern bilden sich ihre Meinungen lieber selbst. Darüber hinaus vertreten sie bei gesellschaftspolitischen Themen äußerst liberale Ansichten. 100% der von Woodhead untersuchten britischen Nones sind für das Recht auf Abtreibung, gleichgeschlechtliche Ehen und Sterbehilfe. Liberale Ansichten, die nur von 85% der Katholiken und von 55% der Muslime geteilt werden.

Entgegen ihrer Bezeichnung betrachten sich jedoch nicht alle Nones als religionslos, atheistisch oder säkular. Nur 41,5% der Nones sind der Meinung, dass es keinen Gott und keine höhere Macht gibt. Weitere 23% von ihnen vertreten die Auffassung, dass es wahrscheinlich keinen Gott oder eine höhere Macht gibt. Insgesamt gibt es also nur 65% Atheisten und Agnostiker unter der Nones. 5,5% der Nones waren sich dagegen sicher, dass es einen Gott oder eine höhere Macht gibt, weitere 11% hielten es für wahrscheinlich, dass es einen Gott oder eine höhere Macht gibt, und 18,5% der Nones kreuzten "Weiß nicht" an.

Erstaunlich waren auch die von Woodhead zusammen mit den Ergebnissen der Nones vorgestellten Umfrage-Ergebnisse der "Somes" – also derjenigen, die angaben, einer Religion anzugehören. Nur 39% von ihnen glaubten fest an die Existenz eines Gottes, 29% hielten dessen Existenz nur für wahrscheinlich, 11% hielten es für wahrscheinlicher, dass es keinen Gott gibt, und 6% der Somes glaubten definitiv nicht an die Existenz eines Gottes. Obwohl dies von Woodhead während des Vortrags nicht angesprochen wurde, zeigen diese Ergebnisse doch auf kuriose Weise, dass Nones nur ebenso stark oder schwach dem Nicht-Glauben verhaftet sind wie Somes dem Glauben.

Doch zurück zu der inneren Verfasstheit der Nones. Nones schätzen es laut Woodhead nicht, in irgendwelche Schubladen gesteckt zu werden, sie hassen Dogmen, moralische Vorschriften und Anführer, die ihnen sagen, was sie zu tun oder zu lassen haben. Nones wollen selbst Entscheidungen treffen - oder wenigstens das Gefühl haben, dass sie selbst es sind, die Entscheidungen treffen. Sie wollen daher auch selbst entscheiden, was sie aus dem religiösen Fundus annehmen und ablehnen. Ebenso wenig wie sie sich von Religionsgemeinschaften Vorschriften machen lassen wollen, wollen sie sich von säkularen Humanisten vorschreiben lassen, dass der religiöse Fundus komplett abzulehnen sei.

Woodhead vermutet als Grund für das Anwachsen der Gruppe der Nones unter anderem die in den letzten Jahrzehnten immer stärker kindzentrierte Erziehung: Die kindlichen Bedürfnisse stehen hierbei im Mittelpunkt, nicht das Einhalten von Regeln. Außerdem vermutet Woodhead einen Zusammenhang mit der Konsumgesellschaft: Indem das Individuum zum Konsumenten wird, wird ihm suggeriert, dass es sich bei allem um Angebote handelt, zwischen denen es nach Belieben wählen kann. "Als None kann man eben alles haben, Glauben oder Nicht-Glauben, so oder so gibt es keine Strafe", sagte Woodhead.

Die zunehmende Individualisierung hat die bekannten Auswirkungen auf die Mitgliederzahl von Kirchen. Wobei sich Religionsgemeinschaften umso erfolgreicher behaupten könnten, je mehr sie von der modernen Welt annähmen und je weniger Vorschriften sie machten, die individuelle Freiheiten einengen. Woodhead führte als Beispiel die liberalen skandinavischen Kirchen an, deren Mitgliederschwund wesentlich schwächer ausgeprägt sei als der der eher konservativen Church of England. Jedoch bekämen die stark individualisierte Haltung auch säkulare Humanisten zu spüren. Beispielsweise habe die British Humanist Association jahrelang darauf gedrungen, dass bei von ihr ausgerichteten Beerdigungszeremonien keine Gebete gesprochen werden dürften. Das Angebot wurde daraufhin immer seltener nachgefragt. Erst nach einem Führungswechsel bei der BHA waren auch Gebete bei den weltlichen Beerdigungen erlaubt – und das Angebot wurde wieder nachgefragt.

Die Ausgangsfrage ihres Vortrags Ist "keine Religion" die neue Religion? beantwortete Woodhead abschließend mit einem klaren Jein. Die Anzahl der Anhänger der klassischen Religionen gehe in westlichen Ländern zwar immer weiter zurück, trotzdem sei die Zunahme der Nones kein Siegeszug der Säkularen. Vielmehr gäbe es mehr und mehr Mischformen zwischen Glauben und Nicht-Glauben, ein Glaube an das Universum löse den Glauben an einen Schöpfergott ab und es entwickelten sich neue weltliche Rituale, die sich auch religiöser Sprache bedienten. Der Glaube an ein Leben nach dem Tod verzeichne aktuell sogar wieder einen Aufwärtstrend, sagte Woodhead.