Jahrelang wurde einem Humanisten in der Grafschaft Kent im Südosten Englands eine Stimme im "Ständigen Beirat für religiöse Erziehung" verweigert, weil er keiner Konfession angehört. Zu Unrecht und ohne "jegliche vernünftige Grundlage", wie der High Court of Justice nun entschied. Da sich das Gericht bei seinen umfangreichen Urteilserwägungen ausschließlich auf die Europäische Menschenrechtskonvention stützt, sind die progressiven Argumentationen des Gerichts von grundlegender Bedeutung.
In England sind staatlich finanzierte Schulen verpflichtet, Religionsunterricht für alle angemeldeten Schüler anzubieten. Ein Regelungswerk aus unterschiedlichen Rechtsquellen normiert die zahlreichen Details. Dazu zählt die Pflicht zur Aufstellung eines ausgewogenen Lehrplans, der unter anderem die "spirituelle, moralische, kulturelle, geistige und körperliche Entwicklung der Schüler" fördert. Die Lehrpläne für den Religionsunterricht an staatlichen Schulen werden jedoch nicht auf nationaler Ebene festgelegt, sondern auf lokaler Ebene bestimmt. Von den lokalen Behörden sowie den Leitungsgremien und Schulleitern wird verlangt, ihre Aufgaben so wahrzunehmen, dass der Lehrplan den gesetzlichen Anforderungen entspricht. Eine lokale, ständige Einrichtung, der "Standing Advisory Council for Religious Education" (SACRE), soll dies vor Ort garantieren.
Der Humanist Stephen Bowen beantragte 2021 die Vollmitgliedschaft im SACRE von Kent neben den Religionsvertretern. Der Rat lehnte dies mit der Begründung ab, dass dort Vertreter von Religionen, nicht jedoch Vertreter nicht-religiöser Glaubensgemeinschaften zugelassen seien. Lediglich ein "Beobachterstatus" ohne Stimmrecht wurde ihm zugebilligt. Bowen klagte gegen die Entscheidung vor Gericht.
Der SACRE-Rat der Region Kent argumentierte dort, dass nach dem Gesetzestext nur Vertreter von Gruppen bestellt werden dürften, die – kurz zusammengefasst – einer Konfession angehören, die "die wichtigsten religiösen Traditionen in der Region angemessen widerspiegeln" und dass der Gesetzeswortlaut keine stimmberechtigten Mitglieder aus nicht-religiösen Gemeinschaften zulasse.
Die Tatsache, dass im restlichen Königreich bereits in 66 SACRE-Räten Humanisten als stimmberechtigte Mitglieder vertreten sind, spielte für den SACRE-Rat von Kent ebenso wenig eine Rolle wie der Umstand, dass es in Kent mehr Humanisten als Mitglieder der Bahai-Religion gibt, die jedoch einen Vertreter in den SACRE-Rat entsenden dürfen.
Der High Court of Justice entschied in der Sache mit Urteil vom 26. Mai 2023. Das Gericht folgte der Argumentation der Klägerseite. In einem über 30-seitigen Urteil führte das Gericht aus, dass ein Lehrplan über religiöse Erziehung Inhalte über nichtreligiöse Weltanschauungen enthalten muss, und es von daher klar diskriminierend sei (vgl. Art. 14 i.V.m. 9 EMRK und Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls), den Vertreter der Humanisten im Beirat auszuschließen. Im Hinblick auf den einschränkenden Gesetzeswortlaut würdigte das Gericht ferner, dass zwar im normalen Sprachgebrauch der Humanismus nicht als Religion oder Konfession eines Menschen angesehen wird, doch sei man verpflichtet, die Wortfolge "andere Religionen" im Lichte der Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention diskriminierungsfrei und neutral auszulegen.
Mit anderen Worten: Obwohl Humanismus nicht als Religion einzustufen ist, müssen Humanisten wie religiöse Menschen behandelt werden, wenn es um die gesetzliche Einräumung von Rechten und Pflichten geht. Dieses offenbar aus der Europäischen Menschenrechtskonvention zwingend abzuleitende Gebot an den Gesetzgeber spiegelt sich im deutschsprachigen Raum weder in der formalen Gestaltung und Verwaltung von Rechtsvorschriften noch in der Praxis der Gesetzesauslegung wider. Das britische Urteil könnte sich also als richtungsweisend herausstellen.
Megan Manson, die Kampagnenleiterin der britischen National Secular Society, kommentierte die Entscheidung überschwänglich: "Dies ist eine begrüßenswerte Entscheidung, und zwar nicht nur, weil sie festlegt, dass nicht-religiöse Weltanschauungen einen Platz im Religionsunterricht und in den Ausschüssen haben, die den Religionsunterricht beraten. Es wird auch betont, dass nicht-religiöse Menschen genauso Anspruch auf Schutz vor Diskriminierung haben wie religiöse Menschen."
Das britische Urteil verdeutlicht erneut, wie wichtig es ist, dass die Gestaltung des Unterrichts über nicht-religiöse Weltanschauungen nicht allein den religiösen Vertretern überlassen werden darf. Es zeigt auch, dass nicht-religiöse Stimmen Gehör finden müssen und jegliche Diskriminierung aufgrund von Areligiosität im Hinblick auf die Europäische Menschenrechtskonvention unrechtens ist.