Kirchliche Paralleljustiz par excellence

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Die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle wird auf die lange Bank geschoben
Kunstinstallation "Die Lange Bank des Missbrauchsskandals"

Die Fülle von Missbrauchsskandalen der katholischen und evangelischen Kirche sowie deren träge Aufklärung und Entschädigung beschäftigen weiterhin viele Millionen Menschen. Nun wird eine angemessene Form der Aufarbeitung durch einen neuen Clou gehemmt: kirchliche Wohlfühlgefängnisse statt eines dauerhaften Ausschlusses aus der religiösen Gemeinschaft und einer staatlichen Sanktionierung.

Kommt es systematisch immer wieder zu eklatanten Fehlern, die dem eigenen Image schaden und Millionen kosten, ist in einem Unternehmen mindestens jede:r mit leitender Position darauf aus, die Strukturen grundlegend so zu verändern, dass diese Fehler entweder gar nicht mehr oder zumindest deutlich seltener vorkommen. So jedoch nicht bei der Institution Kirche. Die Verantwortlichen dort sträuben sich noch immer dagegen, die intensive, stichhaltige Kritik aufzunehmen und in eine Korrektur bestimmter Handhabungen zu überführen. Dabei ist es nicht abwegig, dass sich die Kirchenobrigkeiten hauptsächlich um ihre Stellung Sorgen machen, da Menschen, die sich so nahe bei Gott wähnen, doch angeblich keine Fehler machen können und über den Dingen schweben. Unter dieser Hybris müssen nicht nur die früheren Opfer von Missbrauchsdelikten leiden, sondern auch alle künftigen sowie deren Angehörige. Insbesondere die beiden größten, die katholische und die evangelische Kirche, sind hierzulande davon betroffen.

Bekannt ist nur die Spitze des Eisbergs

In der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sind mindestens 881 Missbrauchsfälle seit 1950 von den Landeskirchen registriert. Ob überhaupt, wie viel und wann etwa Entschädigungszahlungen geleistet werden, ist jedoch Gegenstand kontroverser innerkirchlicher Debatten. Und wie viel tatsächlich gezahlt wird, bleibt in der Regel völlig intransparent. Betroffenenvertreter:innen kritisieren, dass selbst hier noch gefeilscht wird, da nicht eindeutig definiert sei, wo sexualisierte Gewalt beginne und was noch zu psychischer Gewalt hinzuzurechnen sei. Letztere wird von den Landeskirchen nicht anerkannt – auch dann nicht, wenn diese sexualisiert ist. Am fatalsten sei aber, dass die Anerkennungszahlungen nur den aktuellen und zeitnahen Bedarf berücksichtigten. Die langfristigen Schäden würden nur zu gerne heruntergespielt oder aber bewusst ignoriert.

Um hier Abhilfe zu leisten, Vorfälle aufzuarbeiten und entscheidende Strukturen anzupassen, wurde in der EKD im September 2020 ein Betroffenenbeirat eingesetzt. Dieser wurde allerdings bereits im Mai 2021 wieder aufgelöst, nachdem knapp die Hälfte der darin Tätigen aufgrund interner Konflikte zurückgetreten waren. Moniert wurde unter anderem, dass kein Konsens über das weitere Vorgehen erlangt werden konnte sowie wichtige Informationen nicht rechtzeitig weitergeleitet und die Betroffenen insgesamt nicht mit dem gebührenden Respekt behandelt wurden. Die Aufklärung und Verhinderung von Kindesmissbrauchsfällen wird demnach von der EKD allenfalls stiefmütterlich behandelt. Die verbliebenen Mitglieder im Betroffenenbeirat hatten sich erfolglos gegen die Aussetzung des Gremiums gewehrt, da sie befürchteten, dass Betroffene so noch weniger Einfluss hätten und untereinander isoliert würden. Außerdem mangele es noch immer an einheitlichen Standards zu Aufarbeitung und unabhängigen Kommissionen, die mit entsprechenden Befugnissen ausgestattet sind.

Immer wieder berichten Opfer sexualisierter Gewalt auch von Kirchenvorsteher:innen, die eine Teilschuld den Misshandelten anlasten, indem sie suggerieren, dass diese doch einfach "Nein" hätten sagen können. Dass Minderjährige von Täter:innen systematisch in eine psychische Abhängigkeit getrieben werden und dadurch eben nicht vermögen, sich einfach so der Wünsche des Peinigers zu erwehren und genau das Teil des Problems ist, wird dabei gänzlich unterschlagen.

Nicht minder tragische, aber quantitativ weitaus mehr Fälle sind aus der römisch-katholischen Kirche (RKK) bekannt. Die Kritikpunkte an dem Aufklärungs- und Aufarbeitungsprozedere der EKD treffen fast in analoger Weise auf jene der RKK zu. Offiziell sind mindestens 5.089 Opfer sexuellen Missbrauchs durch Geistliche der Kirche bekannt. Hinzu kommt bei der katholischen Kirche jedoch, dass der begründete Verdacht im Raum steht, dass auf Zeit gespielt wird: Viele der in den 1950er oder 1960er Jahren in einem religiösen Heim Untergekommenen weilen bald nicht mehr unter uns und können dann folglich auch keine Entschädigungszahlungen mehr erhalten.

Dennoch werden immer weitere Fälle bekannt, da sich trotz der Verzögerungs- und Verschleierungstaktiken der Kirchen zunehmend mehr Betroffene trauen, sich bei den Behörden zu melden. Expert:innen zufolge liegt die Zahl der tatsächlichen Opfer demnach nicht bei 5.000, sondern dürfte eher bei 80.000 liegen. Seit letztem Jahr liegen auch für die katholischen Orden Zahlen vor. In jedem dritten soll es dort Untersuchungen zufolge zu Missbrauchsfällen gekommen sein. Bei einer entsprechenden Mitgliederbefragung haben sich mindestens 1.412 Menschen gemeldet, die als Kind oder Jugendliche:r von Geistlichen sexuell missbraucht wurden.

Die im Grundgesetz verankerte Gleichbehandlung aller Menschen vor dem Gesetz gilt nicht für Mitglieder der Kirche?

Demnach müsste eigentlich deutlich mehr getan werden als bislang. In Rom werden nun jedoch Stimmen laut, die vorschlagen, die Täter:innen in kirchlichen Häusern unterzubringen. Zwar schlagen Geistliche wie der Ordenspriester Hans Zollner vor, diese "Gefängnisse" nach einer staatlichen Sanktionierung einzusetzen, doch aufgrund der bisherigen systematischen Vertuschung und der Tatsache, dass es für Bischöfe keine Rechtspflicht gibt, sexuellen Missbrauch der Staatsanwaltschaft anzuzeigen, ist anzunehmen, dass diese Form der Paralleljustiz, sollte sie sich etablieren, ebenfalls zur Verheimlichung genutzt wird. Getreu dem Motto: wer intern (vermeintlich) bereits zur Rechenschaft gezogen wurde, muss das ja nicht auch noch von einem weltlichen Gericht – mit dem aus Kirchensicht genehmen Nebeneffekt, dass kein weiterer öffentlicher Imageschaden entsteht. In solchen Einrichtungen sollen sich die religiösen Verbrecher:innen immerhin in psychologische Behandlung begeben, allerdings werden sie dort nach wie vor als Geistliche behandelt und genießen entsprechende Vorzüge innerhalb ihrer Institution. Auch danach ist es möglich, dass diese wieder in ihrem vorherigen Bereich tätig werden.

Betroffenenverbände fordern seit Jahren das exakte Gegenteil: Eine Null-Toleranz-Politik und etwa den konsequenten Ausschluss von Tätern vom Priesteramt. Vergangene Fälle zeigten, dass interne Versuche, künftige Missbrauchsfälle zu vermeiden, kläglich gescheitert sind. Der Priester Peter H. sei etwa mehrfach "straf"-versetzt worden, aber hat sich dennoch immer wieder an Kindern vergangen.

Bei solch einer fahrlässigen Handhabung wird eines sehr deutlich: Der Schutz der Kirche wiegt für diese auch heute noch schwerer als das Leid der Opfer. Durch Vertuschung und Manipulation wurde die Aufklärung zudem über Jahre hinweg verzögert. Und auch heutige Studien bleiben häufig folgenlos oder aber sind kaum durchführbar, da vorher von den Kirchen strikt ausgewählt wird, wer Einsicht in entsprechende Akten erhalten darf – wovon viele ohnehin an den entscheidenden Stellen geschwärzt oder verändert sind.

Die fehlende Trennung von Staat und Religion macht sich folglich auch hier bemerkbar. Während die Justiz und Beamte aktuell etwa noch wegen absurden Kleinstmengen von Cannabis auf Trab gehalten werden, soll die Möglichkeit geschaffen werden, mehrfachen Kindesmissbrauch über eigene Scheingerichte zu klären und nur in besonders schweren Fällen ein:e Vergewaltiger:in zu einer Gefängnisstrafe zu verurteilen. Dann aber kein Gefängnis, in das jede:r andere käme, sondern eines ohne Gitterstäbe an den Fenstern, das eher eine Mischung aus Reha, Kloster und Knast ist. Schließlich handelt es sich ja um Geistliche. Und deren Verbrechen können nicht mit jenen von "Menschen zweiter oder dritter Klasse" verglichen werden. Auch dann nicht, wenn es exakt dieselben Verbrechen sind – so offenbar die dahinterstehende, verquere Logik der Klerikalen.

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