Hinter der religiösen Moral verstecken sich weltliche Begierden

Kohle statt Karma

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Auch auf die Gefahr hin, mich unbeliebt zu machen, wage ich die Hypothese, dass Fromme und strenggläubige Personen sich gern für die etwas besseren Menschen halten. Sie glauben, im Besitz der religiösen oder spirituellen Wahrheit zu sein, in der Gnade Gottes zu stehen und seinen Schutz zu genießen. Nicht nur in übersinnlichen Belangen, sondern auch in alltäglichen.

Außerdem wähnen sie sich oft im Glauben, die wahren moralischen und ethischen Prinzipien zu kennen und im Alltag erfolgreich anzuwenden. Die Überzeugung, privilegiert zu sein, führt zwangsläufig zu einem Gefühl der Überlegenheit.

Da nützt auch das Credo von Bescheidenheit und Demut wenig: Das Unbewusste stützt sich vorwiegend auf die lebenserhaltenden Aspekte, zu denen auch ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl und vor allem ein Gefühl der Stärke gehört.

Hüter dieser altruistischen Attribute sind die Religionen und Glaubensgemeinschaften. Ihre Ideen und Grundwerte sind nicht "von dieser Welt", sie orientieren sich an übersinnlichen Konzepten.

Wirft man jedoch einen Blick hinter die religiöse Kulisse, geht es oft sehr weltlich her und zu. Von Bescheidenheit ist manchmal wenig zu finden, vielmehr tun sich nur allzu oft menschliche Abgründe auf. Konkret: Bei den meisten Glaubensgemeinschaften geht es oft um Geld, Einfluss, Status, Anerkennung und Macht. Ähnlich wie im realen Alltag.

Kein Platz für religiöse Moral

Nehmen wir ein paar Beispiele, und beginnen wir mit der katholischen Kirche. Der Prunk im Vatikan und in vielen Diözesen ist sprichwörtlich. Die Verbandelung mit weltlichen Autoritäten – früher vor allem mit Königen – hat ihr ein riesiges Vermögen eingebracht, von dem sie heute noch zehrt. Die Skandale um die Vatikanbank und die problematischen Spekulationen mit dem Anlagevermögen verraten eine weltliche Handschrift, bei der Moral keinen Platz hat, schon gar nicht die religiöse. Auch bei den systematischen sexuellen Übergriffen vieler Geistlicher waren mehr handfeste als spirituelle Interessen im Spiel.

Selbst die Freikirchen, deren Mitglieder Jesus als Vorbild und Idol verehren und die ihr Leben nach seinen Dogmen ausrichten, sind sehr weltlich geprägt, wenn es um das Eintreiben von Zuwendungen geht. Die Gläubigen werden unmissverständlich aufgefordert, zehn Prozent ihres Einkommens abzuliefern. Gott liebt den großzügigen Spender, predigen Pastoren gern und signalisieren, dass besonders Spenden jenseits der zehn Prozent das Wohlgefallen Gottes wecken.

Diese Praxis bewirkt bei vielen Gläubigen eine innere Zerrissenheit. Einerseits wird erwartet, dass sie zu Ehren Gottes überdurchschnittlich viele Kinder zeugen, auf der anderen Seite sollen sie großzügig spenden. Doch wie soll ein Handwerker mit fünf Kindern zehn Prozent des Bruttolohnes abliefern, ohne am Hungertuch nagen zu müssen? Schafft er die Kollekte nicht, fühlt er sich womöglich sündig und hat Angst, aus der Gnade Gottes zu fallen. Eine Praxis, die weder christlich noch barmherzig ist.

Ein Stunde Studium? Hunderte Franken

Sekten sind oft noch radikaler. Beispiellos in Sachen pekuniäre Begierden ist Scientology, die sich bekanntlich auch Kirche nennt. Die Sekte presst ihre Mitglieder förmlich aus. Sie bietet ein so umfangreiches Kursprogramm an, dass man sein halbes Leben lang "studieren" kann. Da eine einzelne Stunde auf den höheren Levels Hunderte von Franken kostet, kann man ein halbes Vermögen investieren, um ein unsterbliches Genie zu werden, wie es der Sektengründer Ron Hubbard versprach.

Außerdem strebt Scientology die weltweite Macht an, was ja auch nicht zu den Kernaufgaben von religiösen Gemeinschaften gehört. Übrigens hat Scientology eine Liste von Spendenbeiträgen, die erst bei einer Million Dollar endet. Und sie führt eine Kriegskasse, die schon vom Namen her weltliche Ansprüche signalisiert.

Sehr weltlich kommt auch die Esoterik, eine Pseudoreligion, daher. Ihre Anbieter sind Weltmeister im Vergolden ihrer angeblich bahnbrechenden spirituellen Erkenntnisse und Praktiken.

Das Bild deiner Aura

Ein Gang durch die Zürcher Esoterikmesse offenbart die schiere Menge an Disziplinen und Angeboten. Von den Heilsteinen zu den Pendeln, von den Energiepyramiden zu den Klangschalen, von der Aurofotografie zum Handauflegen, von den Rückführungen zum Lichtnahrungsprozess, von der Heilkraft des Urins zum Channeling, von den Rückführungen zu den Jenseitskontakten. Ganz abgesehen von den unzähligen Kursen in den vielen Disziplinen. Und, und, und. Die Liste ist endlos.

Vieles ist Hokuspokus. Sehr real sind allerdings die Preise, die nichts von der Achtsamkeit aufweisen, die Esoteriker gern predigen. Manche der spirituell angehauchten Anbieter darf man getrost als Abzocker bezeichnen. So setzt der pseudoreligiöse Esoterikmarkt in der Schweiz mehrere hundert Millionen Franken um.

Religiös geprägte Werte und spirituelle Moral eignen sich ausgezeichnet für Sonntagspredigten, Meditationen und Gebete. Im Alltag dringen dann allzu gern und allzu oft die evolutionären Begierden von uns Trockennasenaffen durch.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.

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