Die Lucky Girls mit ihren wundersamen Ritualen

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Durch die sozialen Medien fließen seit einiger Zeit ganze Sturzbäche von Glückshormonen. Produziert werden sie von glücklichen Girls, die Happiness zum Lebensmotto machen. Ihr heiliges Credo: Denke nur an die schönen Dinge des Lebens, und sie fliegen dir zu: der Traumjob, der smarte Lover, der Porsche und ein fettes Bankkonto als Sahnehäubchen.

Der mediale Hype des Phänomens elektrisiert eine große weibliche Community unter dem Hashtag #HappyGirlSyndrome. Der Trick ist simpel – oder müsste man sagen: einfältig? Lass dich in ein mit Rosenblättern übersätes Bett fallen und träume vor dich hin. Visualisiere und manifestiere alle Wünsche und Erwartungen, auf dass sie wie von Geisterhand gesteuert Realität werden. Kurz: Alles, was du mit positiven Gedanken herbeisehnst, geht in Erfüllung.

Negative Gedanken verdrängen

So jedenfalls predigen es Influencerinnen auf TikTok, Instagram, Facebook und Co. in Endlosschleifen. Gleichzeitig warnen sie vor negativen Gedanken. Frei nach dem Motto: Glaubst du ans Gute und beschwörst es herauf, so fliegt dir das Glück zu, und die Welt gehört dir. Kultivierst du hingegen negative Ideen und Gedanken, ziehst du Misserfolg und Unglück an.

Geradezu rührend ist, dass uns vorwiegend aufgetakelte, geschminkte und operierte Menschen die "Weisheit" des absoluten Glücks erzählen. Privilegierte junge Frauen, für die Lifestyle der zentrale Lebensinhalt ist.

Der Mensch braucht offenbar einen Glauben. Wenn Gott im Zeitalter der Säkularisierung nicht mehr sexy ist, glauben heute viele an die magische Kraft des Universums. Denn viele Happy Girls richten ihre absurden Wünsche an diese undefinierbare Instanz. Das Paradies soll nicht erst nach einem entbehrungsreichen Leben winken, sondern im Hier und Jetzt. Und zwar subito.

Es braucht eine gehörige Portion an geistiger Beschränktheit, um diesem Aberglauben anzuhängen. Denn ein paar simple Fragen müssten eigentlich klarmachen, dass der Happy-Girl-Glaube eine Schnapsidee ist.

Screenshot TikTok mit dem Suchbegriff "#HappyGirlSyndrome" (25.05.2023)
Screenshot TikTok mit dem Suchbegriff "#HappyGirlSyndrome" (25.05.2023)

Der Glaube an das angebliche Wunder der Gedankenkraft hat Millionen von jungen Frauen erfasst. Der Hashtag #luckygirlsyndrome wurde bereits knapp eine Milliarde Mal angeklickt. Die Glückssuche auf der magischen Ebene scheint ein weibliches Phänomen zu sein. Es gibt zwar auch das Lucky-Boy-Syndrom, doch es brachte es bisher erst auf etwa 150.000 Klicks.

Das Ritual der meditativen Visualisierung von unrealistischen Wünschen ist nicht neu. Esoteriker propagieren es seit über 100 Jahren. Manche glauben gar, dass man nicht sterben könne, wenn man den Tod konsequent aus seinem Bewusstsein verdränge. So jedenfalls verkündete es der Guru Joseph Murphy in seinen Büchern, die hunderttausendfach gekauft wurden. Neu ist allerdings, dass nun konsumwütige junge Frauen die Ideen verbreiten.

Das Ritual ist problematisch

Man könnte das Lucky-Girl-Syndrom als harmlose Spinnerei einer dekadenten oder zumindest desorientierten jungen Generation abtun. Doch das Ritual ist aus psychologischer Sicht nicht ungefährlich. Wer kategorisch alle Gedanken verdrängt, die mit den unangenehmen Dingen im Leben zu tun haben, erleidet eine emotionale Regression und bleibt geistig auf einem spätkindlichen Niveau stecken.

Die Lucky Girls geben die Verantwortung für ihr Leben einer eingebildeten Instanz ab, die pure Illusion ist. Sie vertrauen nicht mehr den eigenen Kräften und der eigenen Kreativität, sondern lassen sich von den vermeintlichen Energien des positiven Denkens leiten.

Statt das Leben eigenmächtig zu gestalten, reisen sie im Schlafwagen durch das Leben und bauen auf Wunderkräfte, die ein Hirngespinst sind. Mit den autosuggestiven Ritualen katapultieren sie sich in eine Scheinwelt und entfremden sich von der Lebenswirklichkeit. Irgendwann erwachen sie aus ihrem Traum und fallen in ein Loch. Nicht selten erleiden sie dann psychische Probleme. Das Glück sucht einen nicht, man muss es mit viel Lebensfreude und Energie herausfordern.

Es ist gefährlich, die Wirklichkeit selektiv wahrzunehmen

Wir alle werden früher oder später von belastenden Ereignissen oder gar Schicksalsschlägen heimgesucht. Schwere Krankheiten, Unfälle, Tod eines geliebten Menschen usw. treffen jeden irgendwann. Wer die unschönen Seiten des Lebens verdrängt, den erwischt es unvorbereitet. Außerdem gehört die Auseinandersetzung mit allen Aspekten des Daseins zur Bewusstseins- und Persönlichkeitsbildung. Wer die Wirklichkeit selektiv wahrnimmt, sperrt sich selbst in ein geistiges Gefängnis.

Das Leben ist kein Wunschprogramm, auch nicht für "Lucky Girls".

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.

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