Die Leitkultur-Debatte ist zurück: In einem 50-Punkte-Manifest skizziert die BILD-Zeitung ihre Vorstellung davon, "was unsere freie Gesellschaft zusammenhält". Zwar enthält der Text neben wirren Klischees auch sinnvolle Grundwerte, jedoch mangelt es ihm an konkreten Vorschlägen, wie sich die Offene Gesellschaft gegen ihre Feinde verteidigen lässt. Wir veröffentlichen deshalb hier das alternative Manifest des Hans-Albert-Instituts, das politische Leitlinien aus kritisch-rationaler und humanistischer Perspektive formuliert.
1.
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren – in Deutschland und überall.
2.
Vorstellungen von einer "deutschen Leitkultur" sind von nationalistisch-religiösem Chauvinismus, identitätspolitischen Verirrungen und Abschottungsfantasien geprägt. An ihre Stelle sollte die universalistische Leitkultur von Humanismus und Aufklärung treten.
3.
Moderne Demokratien basieren auf den Grundwerten der Liberalität, Egalität, Rechtsstaatlichkeit, Volkssouveränität und Säkularität. Wer diese bekämpft, ist ein Feind der Offenen Gesellschaft.
4.
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Diskriminierung dürfen unter keinen Umständen toleriert werden – egal, von wem sie ausgehen.
5.
Religion ist Privatsache – und sollte konsequent vom Staat getrennt werden.
6.
Gesetze werden nicht von Göttern, sondern von Menschen gemacht. Das Recht muss weltanschaulich neutral sein.
7.
"Heilige" Schriften stehen nicht über dem Gesetz. Religionsfreiheit darf kein Freibrief für Rechtsbruch und Hass gegen Andersdenkende sein.
8.
Der Staat darf es nicht zulassen, dass Religionsgemeinschaften Gesetzesverstöße als "interne Angelegenheiten" regeln.
9.
Jeder Mensch ist souveräner Herrscher über sich selbst und seinen eigenen Körper.
10.
Frauen haben das Recht, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden. Sexuelle Selbstbestimmung darf nicht strafbar sein.
11.
Kinder sind keine Besitztümer ihrer Eltern, sondern eigenständige Träger von Menschenrechten.
12.
Die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes sollte vorrangiges Staatsziel sein. Kinderrechte gehören ins Grundgesetz.
13.
Die Taufe unmündiger Säuglinge ist für eine staatliche Anerkennung von Kirchenmitgliedschaften unzulässig.
14.
In Kitas und Kindergärten darf es keine frühkindliche Indoktrination geben.
15.
Schulgesetze, welche die "Ehrfurcht vor Gott" zum Bildungsziel erklären, müssen revidiert werden.
16.
Es gibt keine religiösen Kinder, sondern nur Kinder religiöser Eltern. Der separierende Religionsunterricht muss durch einen allgemeinverbindlichen Philosophieunterricht ersetzt werden.
17.
Schwimmunterricht, Sexualaufklärung und Klassenfahrten sind verpflichtender Teil des schulischen Bildungsauftrages.
18.
Die Evolutionstheorie ist Grundlage des modernen Weltbildes und sollte bereits in der Grundschule gelehrt werden.
19.
Universitäten sind Orte der Erkenntnisse, nicht der Bekenntnisse. Konfessionsgebundene Gebetsräume sollten durch überkonfessionelle Räume der Stille ersetzt werden.
20.
Jedes Studium sollte eine Pflichtveranstaltung enthalten, in der wissenschaftstheoretische Grundlagen vermittelt werden.
21.
Überzeugungen verdienen nicht unbedingt Respekt, Menschen hingegen schon.
22.
Offene Debattenräume sind Stützpfeiler der liberalen Demokratie und müssen gegen eine zunehmende Empörungskultur verteidigt werden.
23.
Meinungsfreiheit bedeutet nicht Freiheit vor Kritik. Widerspruch ist keine "Cancel Culture".
24.
Blasphemiegesetze wie Paragraf 166 StGB gefährden den öffentlichen Frieden und müssen gestrichen werden.
25.
Wer Menschen aufgrund ihrer Glaubenszugehörigkeit die Diskurs- und Humorfähigkeit abspricht, verhält sich respektlos und paternalistisch.
26.
Keine religiöse Diskriminierung am Arbeitsplatz: In öffentlich finanzierten Sozialeinrichtungen müssen die Grundrechte, insbesondere Religions- und Weltanschauungsfreiheit, gewährleistet sein.
27.
Weltanschauungsfreiheit bedeutet auch, sich gegen eine Religions- bzw. Konfessionszugehörigkeit entscheiden zu können. Der Austritt aus einer Glaubensgemeinschaft darf nicht mit bürokratischen und finanziellen Hürden erschwert werden.
28.
Die weltanschauliche Neutralität des Staates muss sich im Auftreten seiner Repräsentanten widerspiegeln. Das Berliner Neutralitätsgesetz sollte bundesweit übernommen werden.
29.
Öffentliche Gremien müssen die weltanschauliche Pluralität der Gesellschaft abbilden. Die überproportionale Vertretung religiöser Positionen im Deutschen Ethikrat und in Rundfunkräten muss korrigiert werden.
30.
Wahrheit ist nicht relativ. Eine Offene Gesellschaft kann nur bestehen, wenn sie sich von Fakten statt von Fiktionen leiten lässt.
31.
Demokratieförderung muss evidenzbasiert sein. Staatlich geförderte Projekte zur Extremismus- und Radikalisierungsprävention müssen wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden.
32.
Nie wieder ist jetzt! Das Existenzrecht Israels darf nicht geleugnet werden.
33.
Antisemitismus ist nicht nur ein Problem an den Rändern der Gesellschaft, sondern gedeiht auch in ihrer Mitte. Er muss auf allen Ebenen bekämpft werden.
34.
Wer mit Islamisten Geschäfte macht, fördert Terrorismus.
35.
Notwendige Sanktionen gegen das Mullah-Regime im Iran dürfen nicht durch komplizierte Abstimmungsprozesse auf europäischer Ebene verlangsamt werden.
36.
Die iranische Revolutionsgarde gehört auf die EU-Terrorliste.
37.
Es braucht ein striktes Vorgehen gegen islamistische Organisationen. Das Islamische Zentrum Hamburg (IZH) muss geschlossen und die Kooperation mit der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB) beendet werden.
38.
Reaktionäre Islamverbände repräsentieren nur einen Bruchteil der Muslime in Deutschland. Sie sind keine geeigneten Ansprechpartner für die Politik.
39.
Rechtspopulisten und -extremisten sind keine Verbündeten im Kampf gegen den Islamismus. Im Gegenteil: Islamisten und Rechtsextremisten eint ideologisch mehr als sie trennt.
40.
Kritik am Islam darf nicht den Rechten überlassen werden. Eine humanistische Islamkritik kann durchaus hart gegenüber religiösen Überzeugungen sein, ohne damit Menschen abzuwerten.
41.
Vielfalt ist eine Bereicherung – wenn sie aus der Verwirklichung individueller Selbstbestimmungsrechte hervorgeht.
42.
Identitäre Ideologien spalten. Das Wort "Wir" ist allzu oft Ausdruck kollektivistischer Anmaßung, die zu Polarisierung und Ausgrenzung führt.
43.
Eine liberale Rechtsordnung orientiert sich an realen Individuen – nicht an imaginierten Gemeinschaften. Integrationspolitik sollte daher vornehmlich als Emanzipationspolitik verstanden werden.
44.
Apostaten, Religionskritiker und religionsfreie Flüchtlinge müssen besser vor Verfolgung geschützt werden – auch im Ausland.
45.
Seenotrettung ist eine humanitäre Verpflichtung.
46.
Soziale Sicherheit ist ein Menschenrecht. Die Schwächsten der Gesellschaft gegeneinander auszuspielen, ist perfide.
47.
Die derzeitige Drogenpolitik ist illiberal, irrational und sozialschädlich. Konsumenten müssen entkriminalisiert werden.
48.
Wer über industrielle Massentierhaltung nicht reden will, sollte zu Tierrechten, Umweltschutz und Nachhaltigkeit schweigen.
49.
Aus dem Recht auf Leben folgt keine Pflicht zum Leben. Professionelle Sterbehilfe darf in einer Offenen Gesellschaft nicht verboten werden.
50.
Manifeste ersetzen weder eine differenzierte Auseinandersetzung noch politisches Engagement – auch dieses nicht!
Die von HAI-Direktoriumsmitglied Florian Chefai formulierte Broschüre "Manifest der offenen Gesellschaft" kann auf der Website des Hans-Albert-Instituts heruntergeladen werden. Um die Hintergründe der oben genannten 50 Punkte besser zu verstehen, empfehlen wir die HAI-Broschüre "Leidenschaft zur Vernunft" sowie das Buch "Die Grenzen der Toleranz - Warum wir die offene Gesellschaft verteidigen müssen" von Michael Schmidt-Salomon. Das ursprüngliche BILD-Manifest findet man hier.
Erstveröffentlichung auf der Website der Giordano-Bruno-Stiftung.
11 Kommentare
Kommentare
Michael am Permanenter Link
peinlich.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
@ Michael: Was bitte finden Sie an den 50 Aussagen peinlich?
Zweiflerin am Permanenter Link
Warum?
David Z am Permanenter Link
Ich habe unten einige Kritikpunkte angerissen.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Allen 50 Punkten uneingeschränkt zustimmen, nur so wird echte Demokratie lebendig!
Helmut Lambert am Permanenter Link
Ich finde beide Listen klärend für unsere Positionen.
David Z am Permanenter Link
Sehe ich ähnlich, zumal es an der Liste oben auch so einiges zu kritisieren gibt.
adam sedgwick am Permanenter Link
Also, warum ein Manifest mit 50 Punkten, die eigentlich doch alle schon geklärt sind. Ich empfehle die Lektüre „Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“.
Ich finde 50 Thesen, die berechtigt sind, aber es sind einfach zu viele. All diese Thesen sind im GG bereits behandelt. Warum im GG ein mehrseitiger Zusatz zum Asylrecht aufgenommen wurde ist mir unklar. Den hätte man auch wie bei anderen GG Artikeln auch durch eine Fußnote ergänzen können. Damit der Kern des Artikels nicht verwässert wird.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Im GG steht auch, dass Religion und Staat getrennt werden sollen, was bislang ignoriert wurde, wie so manches was nie wirklich umgesetzt ist.
David Z am Permanenter Link
"Wir veröffentlichen deshalb hier das alternative Manifest des Hans-Albert-Instituts, das politische Leitlinien aus kritisch-rationaler und humanistischer Perspektive formuliert."
Wenn das der Anspruch ist, dann sind aus meiner Sicht definitiv einige kritische Anmerkungen notwendig - und sicherlich auch gewünscht.
2. "Vorstellungen von einer "deutschen Leitkultur" sind von nationalistisch-religiösem Chauvinismus, identitätspolitischen Verirrungen und Abschottungsfantasien geprägt. An ihre Stelle sollte die universalistische Leitkultur von Humanismus und Aufklärung treten."
=> Das halte ich für eine unzulässige Verkürzung und erinnert an die anti-deutsche Aussage von SPD Frau Özoguz, eine dt. Kultur sei jenseits der Sprache schlicht nicht identifizierbar. Wenn der Punkt generisch von "nationalen Leitkulturen" spräche, könnte ich noch mitgehen, weil es sich dann weltweit auf JEDEN Kulturanspruch bezieht. Aber in dieser Form erscheint die Nummer viel zu undifferenziert.
23. "Meinungsfreiheit bedeutet nicht Freiheit vor Kritik. Widerspruch ist keine "Cancel Culture"."
=> Die Aussage stimmt, allerdings ist es doch wohl eine absolute Trivialität festzustellen, dass Widerspruch nicht notwendigerweise gleich "Cancel Culture" ist. In dem aufgeworfenen Kontext geht es vielmehr umgekehrt darum, dass "Cancel Culture" keinen legitimen Widerspruch darstellt. Dieser wichtige Aspekt wird hier (bewusst?) verdreht. Der Punkt müsste vielmehr lauten: Cancel Culture hat in unserem Wertesystem keinen Platz. Weder Geschichte, noch Literatur oder Kunst und erst recht nicht das Leben oder die Karrieren von Mitbürgern werden sabotiert, nur weil man anderer Meinung ist oder weil man mit anderen Meinungen iwie in Verbindung gebracht wird (Kontaktschuld).
39. "Rechtspopulisten und -extremisten sind keine Verbündeten im Kampf gegen den Islamismus. Im Gegenteil: Islamisten und Rechtsextremisten eint ideologisch mehr als sie trennt."
=> Abermals sehr undifferenziert. Es fehlt "Linkspopulisten und Linksextremisten", grade vor dem Hintergrund der kürzlich im Zuge des 7 Okt. unmissverständlich klargewordenen Tatsache, dass weite Teile der Linken ideologisch mit Islamisten marschieren. Siehe dazu auch die kürzlich veröffentlichten Beiträge von Michael Wolffsohn.
40. "Kritik am Islam darf nicht den Rechten überlassen werden. Eine humanistische Islamkritik kann durchaus hart gegenüber religiösen Überzeugungen sein, ohne damit Menschen abzuwerten."
=> Erneut undifferenziert. "Rechts" beschreibt eine völlig legitimes Spektrum innerhalb einer funktionierenden Demokratie. Mit "rechts" eine automatsche Abwertung von Menschen zu verknüpfen, halt ich für unredlich.
41. "Vielfalt ist eine Bereicherung – wenn sie aus der Verwirklichung individueller Selbstbestimmungsrechte hervorgeht."
=> Sachlich höchst fragwürdig. Weder ist Vielfalt generell stets eine Bereicherung (die Geschichte beweist vielmehr das Gegenteil) noch gibt es ein universelles Recht, sich völlig willkürlich und esoterisch selbst zu bestimmen, wenn es einen negativen Impakt auf die Gesellschaft hat.
45. "Seenotrettung ist eine humanitäre Verpflichtung."
=> Völlig triviale Aussage. Niemand bestreitet, dass man Menschen in Seenot zu helfen hat. In dem genannten Kontext geht es vielmehr darum, dass nicht jeder Schiffsbrüchiger auf diesem Planten nach Deutschland verbracht werden soll geschweigen denn kann.
47. "Die derzeitige Drogenpolitik ist illiberal, irrational und sozialschädlich. Konsumenten müssen entkriminalisiert werden."
=> Viel zu pauschale Behauptungen, die eher an den Anarcho-Flügel linker Parteien erinnern als die von Humanisten. Beim Thema Drogenpolitik gibt es gute Argumente auf beiden Seiten.
Marianne Schweizer am Permanenter Link
Noch ein paar Anmerkungen bzw. Fragen zu einigen Punkten:
4. "In Kitas und Kindergärten darf es keine frühkindliche Indoktrination geben." Ist es "Indoktrination", wenn in Kindergärten Weihnachten mit der christlichen Weihnachtsgeschichte gefeiert wird ?
24. "Blasphemiegesetze wie Paragraf 166 StGB gefährden den öffentlichen Frieden und müssen gestrichen werden." Da bin ich mir nicht so sicher, ich nehme an, dass eher Koranverbrennungen den öffentlichen Frieden gefährden.
45. "Seenotrettung ist eine humanitäre Verpflichtung." Mit der Rettung ist es nicht getan. Die wesentliche Frage, wohin die Geretteten gebracht werden sollen, bleibt offen.
46. "Soziale Sicherheit ist ein Menschenrecht. Die Schwächsten der Gesellschaft gegeneinander auszuspielen, ist perfide." Wie woll das "Menschenrecht auf soziale Sicherheit" für Migranten aussehen und wie soll es funktionieren?