Das aktuelle Heft von "Aufklärung und Kritik" (AuK), der umfangreichen Vierteljahreszeitschrift der Gesellschaft für Kritische Philosophie Nürnberg, ist erschienen. Schwerpunkt des Hefte ist Martin Luther und die Reformation. Die Redaktion hat dem hpd wieder das Vorwort zu Verfügung gestellt.
"Luther hätte sich gut überlegt, was er twittert", behauptet Margot Käßmann, die EKD-Botschafterin der Luther-Dekade, im NN-Interview vom 20. Februar 2017. Diese Anspielung auf den amerikanischen Präsidenten als Parallele zur Nutzung der neuen Medien durch Luther gegen den Papst, in den Bauernkriegen und vor allem gegen die Juden muss wohl bezweifelt werden. Wie die Analyse seiner diesbezüglichen Schriften in dieser Ausgabe ergeben wird, konnte Luther ebenso vorurteilsbehaftet und rücksichtslos lospoltern, seine Schimpftiraden erscheinen alles andere als wohlüberlegt. Statt "America first" galt für ihn eben "Christus solus". Ausgrenzend wirken beide Devisen – und das ist auch ihre Absicht.
Aber natürlich hat der Reformator mehr zu bieten, und so will diese Ausgabe Leben und Werk, seine Verdienste und Wirkungen in den einzelnen Beiträgen ebenso vorstellen wie seine Schattenseiten. Luther polarisiert – bis heute, und das zeigt sich dann natürlich auch in den Beiträgen dieser Ausgabe, die jedenfalls viele wichtige Informationen dafür liefert, sich selbst ein eigenes Bild sowohl von der Person Luthers selbst als auch von dessen in dieser Form zunächst ganz unbeabsichtigter "Reformation" zu machen.
Dabei soll einerseits gezeigt werden, welche positiven Wirkungen von Luther und der Reformation hin zur Aufklärung und über diese hinaus ausgingen, wie ebenso seine Irrtümer und kontraaufklärerischen Einstellungen kritisch beleuchtet werden sollen. Dabei ist natürlich einerseits der zeitgeschichtliche Hintergrund zu berücksichtigen, dem Luther entstammt und dem er sich nicht entziehen konnte oder wollte, andererseits kann der Wandel in Ethik und Religion bis zu uns hin nicht unberücksichtigt bleiben: Wenn wir wissen wollen, was Luther und die Reformation heute für uns bedeuten können, lassen sich viele damals "gültige Wahrheiten" und Einstellungen nicht aufrecht erhalten, sondern müssen ganz im Gegenteil zurückgewiesen werden. Andererseits enthält die Reformation Keime und Anstöße, die den Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit erst ermöglicht und mitbewirkt haben und zum Teil bis heute prägend wirken.
Was wusste und was wollte Luther selbst? Wie kreuzte sich die Reformation mit ganz anderen Faktoren, also vor allem Politik und Ökonomie? Traten viele Folgen der Reformation nicht für den Urheber unbewusst oder gar gegen seine eigentliche Intention ein? Was haben die nachfolgenden Generationen jeweils daraus gemacht? Und wie schauen wir selbst heute darauf?
Natürlich lassen sich in einer Ausgabe unserer Zeitschrift nicht alle Aspekte eines Phänomens aufgreifen, zu dem die Literatur über die Jahrhunderte bis heute längst unüberschaubar ist. Für unsere Ausgabe konnte eine illustre Schar von Autoren gewonnen werden, bei denen sich die Redaktion und der Herausgeber herzlich für ihre Mitwirkung und ausgezeichnete Zusammenarbeit bedanken.
Was diese Ausgabe hoffentlich für unsere Leser interessant macht, könnte der Umstand sein, dass unsere Autoren die Person Luthers wie die Reformation selbst unter ganz unterschiedlichen Blickwinkeln und aus verschiedenen Einstellungen heraus betrachten, sodass sich die Leser ein eigenes Bild machen und ihre eigene Auffassung überdenken können.
In den ersten Beiträgen soll zunächst die Person selbst näher beleuchtet werden:
Die Kulturwissenschaftlerin Birgitta Meinhardt gibt einen Überblick über die Epoche und Luthers Lebensstationen, seine Lehren und sein Wirken; mit diversen Luther-Zitaten werden dessen Persönlichkeit und seine Lehrauffassungen vorgestellt.
Der Lutheride Herbert Erler kontrastiert in tabellarischer Form und zeitlicher Reihenfolge die diversen Krankheiten Luthers mit seiner riesigen Produktivität: Die schriftlichen Werke, seine Predigt- und Reisetätigkeit als Reformator zeigen eine erstaunliche Lebensleistung angesichts seiner diversen physischen und psychischen Leiden, wobei der Autor einen Zusammenhang zuwischen letzteren und seiner genialen Schaffenskraft vermutet.
Eine weitere Annäherung an Luthers Person und gleichzeitig ein wichtiges Faktum der Reformation selbst bringt Horst Herrmann mit seinem Beitrag "Luther und die Frauen": Durch seine Heirat und die Vorbildwirkung dieser Familie hat sich auch die Rolle der Frau jedenfalls in den protestantischen Ländern verändert, was sicher nicht zuletzt auch der selbstbewussten und lebenstüchtigen Katharina von Bora zu verdanken ist, die Luther den Rücken freihielt und "ihm die Augen öffnen half für das Leben".
Der nächste Beitrag eröffnet den kritischen Blick auf die Reformation insgesamt und natürlich speziell auf Luther.
Es freut uns sehr, dass Gabriele Röwer – mit Genehmigung des Rowohlt Verlages, bei dem wir uns auch an dieser Stelle für die Abdruckgenehmigung herzlich bedanken – für diese Ausgabe die Ausführungen unseres verstorbenen Mitherausgebers Karlheinz Deschner in seiner "Kriminalgeschichte des Christentums" zur Reformation und Luther bearbeitet und zusammengefasst hat. Der Fokus ("von unten, von den Opfern klerikaler und weltlicher (Macht-) Politik her") liegt hier, wie es für diesen Autor kennzeichnend ist, auf den problematischen Aussagen und Folgen des Wirkens von Luther, insbesondere, wenn er die Bauern, "Hexen" und Juden für des Teufels erklärt, und so unbarmherzig das Wort seines Gottes (und seine Interpretation desselben!) über das Leiden seiner Mitmenschen stellt. Es war uns ein Anliegen, dieser unverwechselbaren Stimme, die am Leiden der jeweils Lebenden so vehement Anteil nimmt, in dieser Ausgabe nochmals Gehör zu verschaffen: Wie von Luther damals wird doch auch heute noch allzu leichtfüßig über die Leiden von lebendigen Wesen, ob Mensch oder Tier, hinweg gegangen, wird das Lebende einem angeblichen Absoluten, in Wirklichkeit aber ureigenen Interessen aufgeopfert.
Mit der (im Ergebnis bejahten) Fragestellung: "Martin Luther, ein Bibelfundamentalist?" untersucht Anton Grabner-Haider die Lehre und das Wirken Luthers und gibt einen Überblick über den Werdegang der Reformation; dabei werden sowohl die geschichtlichen Fakten berücksichtigt wie ebenso auch die Verdienste Luthers angesprochen – kritisch wird aber vor allem auf die Verteufelung der Juden durch Luther, auf dessen Verhältnis zu Erasmus von Rotterdam wie auch auf sein Menschenbild eingegangen – und so ambivalent der Autor Luther selbst sieht, so zwiespältig stehe es auch um seine Wirkungsgeschichte.
Unser Mitherausgeber Hubertus Mynarek untersucht in seinem ersten Text kritisch die Theologie Luthers, die er auf die Irrationalität und Ambivalenz des subjektiven Lutherschen Gottesbildes zurückführt; dessen Schrecknisse würden heute einerseits der Öffentlichkeit vorenthalten, führten aber auf Seiten protestantischer Theologen subjektiv im eigenen Glaubensleben wie objektiv in der Glaubensverkündigung zu erheblichen Problemen.
In seinem zweiten Beitrag zeigt er Luthers Ablehnung der Philosophie und Vernunft auf: Der Primat des Glaubens über die Vernunft ist nicht nur "gut katholisch", sondern gerade durch und mit Luther auch unabdingbare "evangelische Tradition": "sola fide".
Die folgenden Beiträge sind vor allem dem bei Luther so wichtigen Thema der Freiheit gewidmet.
Zunächst schildert Armin Pfahl-Traughber den Beitrag, den Luther als politischer Denker und Kommentator für die Moderne geliefert hat. Ausgehend vom bekannten Freiheitsparadox (Freiheit in der religiösen Sphäre, Unfreiheit im Diesseits) wird diese für Luther und seinen Standpunkt so wichtige Scheidung klar gegliedert demonstriert und sowohl das Fortschrittliche an Luthers Lehre einerseits, vor allem aber auch der Rückschritt in der politischen Sphäre herausgearbeitet, der Sklavenhalter und Tyrannen mit dem Neuen Testament legitimiert.
Thomas Rießinger untersucht in seinem Beitrag ebenfalls den Freiheitsbegriff Luthers und zeigt nicht nur die Widersprüche darin auf, sondern vor allem auch die Eigenart Luthers, die Deutungsmacht über die Grenzen von Logik und Bibelauslegung stets argumentfrei für sich selbst zu reklamieren. Der Autor geht die einschlägigen Schriften Luthers durch und kommt zu dem Schluss, dass es mit dessen so oft hochgepriesener "Freiheit" nicht weit her sei, es sich vielmehr nur um eine spezielle Form religiöser Knechtschaft handele.
Matthias Koßler wendet sich in seinem Beitrag der oft als Hauptereignis der Lehre Luthers und der Reformation bezeichneten "Befreiung des Individuums" zu, indem er die Frage nach der Willensfreiheit und Selbstbestimmung unter philosophiehistorischem Blickwinkel bei Luther stellt. Dazu geht der Beitrag ausführlich auf den Streit zwischen Luther und Erasmus über die Willensfreiheit ein, bezieht die Lehre des Augustinus sowie die für Luther wichtige Trennung von Glaube und Vernunft bei Ockham ein. "Die Trennung von Vernunft und Glauben verbindet Luther mit der neuzeitlichen Aufklärung, und er teilt mit ihr die Forderung der Freiheit von Autoritäten in religiösen und ethischen Fragen, deren wirkungsmächtigster Vorkämpfer er zweifellos war." Allerdings führe der Primat des Glaubens zu widersprüchlichen Konstruktionen Luthers hinsichtlich Ethik und Selbstbestimmung.
Gerhard Engel will in seinem Beitrag Luther mit einer konstruktiven Lesart gegenübertreten; seine These lautet: "Martin Luther verdanken wir entscheidende und wirkmächtige Weichenstellungen in Richtung auf Individualismus, Freiheit und Wohlstand." Denn das Wirken der Reformation sei – ob als Nebenwirkung oder gar gegen die Absichten von deren Urhebern – für die Entwicklung eines freien Individuums ebenso wie für die Entwicklung eines freien und innovativen Marktes segensreich gewesen.
Mit den in dieser Hinsicht besonders bedeutsamen Schweizer Reformatoren – machen doch gerade auch die Differenzen zwischen ihnen und Luther dessen Auffassungen nochmals besonders deutlich – befassen sich die beiden folgenden Texte: Harald Seubert kontrastiert, von einer zusammenfassenden Beschreibung der Kernpunkte der Lutherschen Lehrauffassung ausgehend, diese mit den Besonderheiten der Schweizer Reformationsbestrebungen. Die Hauptgesichtspunkte Zwinglis und Calvins und ihre Differenzen zu Luther werden herausgearbeitet, dabei verbleibe "ein tiefes Ungenügen, dass der Lehrfanatismus, das juridische Festhalten am Buchstaben, ein Rechthaben, das sich nicht mehr bewusst war, aus der Wahrheit zu leben, sondern das um jeden Preis Recht haben und bekommen wollte, die Einheit des Christlichen überlagerte. Das Zeugnis einer Liebesreligion wurde gründlich gestört."
Das Doppeljubiläum der beiden Reformatoren Luther und Calvin nimmt Gerd Lüdemann zum Anlass, zunächst die gewaltsame Umdeutung des AT auf Christus hin zu kritisieren. Gegenüber Luthers doch lebenszugewandterer Art hebt er die "herbe Strenge" von Calvins Gottesbild hervor, der denn auch ausdrücklich die Lehre von der "doppelten Vorherbestimmung" vertrat. Seine Betrachtung schließt er: "Noch lange haben er und seine Nachfolger alles dafür getan, diesen Geist zu unterdrücken und zu bekämpfen. Dass sich gegen Gottes Ehre, Bibel und Bekenntnis am Ende doch Toleranz, Glaubensfreiheit und Menschenwürde als verbindliche Werte durchsetzten, haben die reformatorischen Eiferer indes nicht verhindern können."
Die drei nächsten Beiträge befassen sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit dem wohl finstersten Kapitel bei Luther, seiner Stellung zu den Juden, die er mit der gleichen Härte und Konsequenz vertrat, die sonst als seine "Standhaftigkeit" so positiv hervorgehoben wird.
Dazu gibt unsere Ausgabe – was in diesem Zusammenhang selten genug der Fall ist – den davon Betroffenen das Wort: Hellmut G. Haasis geht zunächst auf die antijüdischen Schriften Luthers ein, um diese sodann mit Josel von Rosheim zu kontrastieren. Dieser war seit dem Augsburger Reichstag der vom Deutschen Kaiser berufene Verteidiger jüdischer Gemeindebelange beim Reichstag und an deutschen Fürstenhöfen; mit seiner unermüdlichen Aktivität setzte er sich effektiv für die Belange der Juden ein und konnte beim Kaiser immer wieder Schutzmaßnahmen durchsetzen. Luther hingegen, den Josel in Wittenberg aufsuchte, verweigerte ihm gegenüber, den er vor Jahren noch als "Bruder" bezeichnet hatte, jeden Kontakt.
Wulf Kellerwessel unterzieht die üble Judenschrift des späten Luther einer eigenen Analyse "unter besonderer Berücksichtigung der Fragen, welches Bild Luther von den Juden zeichnet, welche Wertungen er damit verbindet, welche Konsequenzen er daraus zieht und welcher rhetorischer Mittel er sich dabei bedient." Diese Schrift habe, so der Autor, viel zum Unglück der Juden in den protestantischen Ländern beigetragen, wo es ihnen oft noch ärger erging als in katholischen Gegenden. Insgesamt wird eine strukturelle Affinität Luthers zum Antisemitismus festgestellt, die es späteren Antisemiten leicht gemacht habe, sich auf Luther zu berufen.
Die letztere Frage untersucht im Näheren der Beitrag von Armin Pfahl-Traughber, der den Antisemitismus von Martin Luther und den Antisemitismus der Nationalsozialisten vergleicht. Mit ausgezeichneter Präzision werden dafür zunächst die Begrifflichkeiten geklärt und sodann die verschiedenen Einstellungen Luthers und deren jeweiliger Wandel bis hin zum Judenhass erörtert. Diesen werden Ideologie und Praxis in der NS-Zeit gegenübergestellt, Übereinstimmungen und Unterschiede herausgearbeitet mit dem Fazit, dass das Ziehen einer direkten Linie von Luther bis Hitler einseitig bis falsch wäre. Jedoch habe der Reformator ein Hassbild geschaffen, das zur Legitimation und Umsetzung der Vernichtung beitrug.
Die folgenden Beiträge befassen sich damit, wie sich in der Folgezeit die sich ändernden geistigen Strömungen zur Reformation und zu Luther stellten.
Dies schildert Volker Mueller zunächst für die Zeit der Aufklärung, als deren Vorlauf die Reformation ja durchaus auch gesehen werden kann. Diesen Zusammenhang, aber auch die Gegensätze zwischen Reformation und Aufklärung arbeitet der Betrag heraus: An d’Alembert, Diderot, Kant, Friedrich II. und Hegel wird beispielhaft der neue Umgang der Aufklärer mit dem Verhältnis von Vernunft und Religion/Reformation aufgezeigt. Hegel gar zieht eine direkte Linie: Mit der lutherischen Reformation sei die "Hauptrevolution" eingetreten.
Dies sieht der Hegelschüler Ludwig Feuerbach, dem der nächste Beitrag gewidmet ist, nicht von ungefähr ganz ähnlich: Helmut Walther zeichnet nach, welch große Bedeutung die Luthersche Reformation für dessen Denken hatte bis dahin, dass sich Feuerbach selbst als "Luther II." bezeichnete, der die mit "Luther I" begonnene Bewegung der Vermenschlichung der Religion vollendet habe. Erst mit der intensiven Beschäftigung mit Luther bei der Vorbereitung der zweiten Auflage seines "Wesen des Christentums" sind Feuerbach die wesentlichen Gehalte seiner eigenen Philosophie aufgegangen. Dass er dabei Luthers Lehren "objektiviert", anders interpretiert als von Luther intendiert, liegt auf der Hand. Aber haben nicht fast alle weiterführenden Wirkungen der Reformation sich gegen die eigentlichen Lutherschen Vorstellungen, quasi als Nebenfolge, eingestellt?
An nächster Stelle hätte ein Beitrag von Joachim Kahl folgen sollen: "Die Reformation im Lichte eines weltlichen Humanismus". Leider ist dieser nicht rechtzeitig fertig geworden, sodass er in der Juli-Ausgabe 2017 erscheinen wird.
Der abschließende Beitrag von Jörn Sack schreitet noch einmal im historischen Überblick den Weg der Reformation bis zu uns hin ab. Eines der Hauptübel in den christlichen Religionen findet der Autor von Anbeginn an in der Verquickung von Macht und Religion, von Konstantin bis hin zu den protestantischen Landesherren, mit all den schlimmen Folgen dieser unseligen Verbindung, die er auch heute noch nicht beendet sieht. "Gereinigt, aber weiter auf falschem Weg", ist deshalb sein Fazit.
Lassen Sie mich zuletzt zu Luther zurückkehren, dem dieser Band gewidmet ist: Auch Luther wusste weder genau, was er tat, noch was dieses Tun an kurz- und langfristigen Folgen zeitigen würde (unter anderen äußeren Umständen wäre er wohl einfach ebenfalls verbrannt worden ...). Und auch für ihn gilt: menschlich und oft allzumenschlich – ja, was denn sonst?! Zum Ersteren zählen vor allem seine Bemühungen um Sinnsuche und Individualität, um Überzeugungsarbeit, Duldsamkeit und Gerechtigkeit, zu Letzterem seine fehlende Skepsis sich selbst gegenüber, seine Selbstüberzeugung (das "Ass Gottes"), seine Intoleranz im Dienst des "Absoluten" – ganz zu schweigen von seinem Aberglauben an Teufel und Hexen: Ein Lehrbeispiel für die Dualität zwischen Glaube und Vernunft – und für die fatalen Folgen, wenn der Glaube die Oberhand gewinnt und die Vernunft in seinem Sinn instrumentalisiert. Seine unbarmherzigen Schlussfolgerungen (gegen die Bauern, Juden, Hexen und Ketzer) sind (theo-)logisch konsistent und konsequent: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders" gilt auch hier.
Und doch andererseits: Warum wird – von beiden Seiten, Apologeten und Anklägern, – so selten versucht, dem Phänomen Luther gerecht zu werden, statt ihn entweder zum "reformatorischen Genie" hochzujubeln oder ihn in Bausch und Bogen zu verdammen? Es kommt doch nicht von Ungefähr, dass sich durchaus weltgeschichtliche Wirkungen mit seiner Person verknüpft haben – deren Aufklärung uns bis heute beschäftigt und ein Ziel dieser Ausgabe ist: Die Hauptwirkungen Luthers waren ihm selbst seinerzeit keinesfalls bewusst (teilweise sogar gegen seine eigene Intention) – insofern war er tatsächlich nur "Werkzeug", so wie ein Buddha oder Jesus auch ... Geschichte entfaltet sich eben immer über Individuen, wie auch sonst? Und diese können notwendig nichts anderes als "Werkzeug" sein – "Werkzeuge" übrigens, die in Bezug auf ihre "Werkzeugnatur" ohne wirkliche Selbstreflexion sein müssen (bzw. sich hierin missverstehen), sonst hätten sie genau diesen offenbar notwendig-möglichen "Auftrag" der kulturellen Evolution innerhalb der Menschheitsgeschichte nicht erfüllen können (so weit hatte dies schon L. Feuerbach gesehen). Wenn sie aber diesen "Auftrag" selbst reflektieren (wie etwa auch Luther selbst), sehen sie ihn grundfalsch und stranden im Allzumenschlichen, fehlt in der Überschätzung des Auftrags die Demut gegenüber den Mitmenschen. Andererseits ist ohne diese Verwechslung die Wirkfähigkeit solcher Ausnahme-Individuen wohl nicht möglich (z.B. findet sich genau dies etwa auch bei Nietzsche, der sich als "Mundstück der Inspiration" empfand). Letztlich entscheidet ja doch die "normative Kraft des Faktischen" (eben die kulturelle Evolution und deren verschiedene zeitbedingten Umstände): Kairós und Individuum müssen sich an solchen Umbruchstellen finden, und die Tradition hängt sich an sie ...
Viele der heutigen Feiern tun Luther selbst zu viel der Ehre – aber das ist dem Wesen des menschlichen Tradierens geschuldet –, und seine Ankläger tun ihm auch zu viel oder zu wenig Ehre. Was in diesen Fällen dasselbe ist: Er tat, was er konnte, was sonst?
Das Vorwort soll Ludwig Feuerbach abschließen, der allzuleicht und vordergründig sich empörende Kritik so abfertigte: "Eine Reformation kommt nie in optima, juris forma (in bester Rechtsform), sondern stets nur auf originelle, extraordinäre, illegitime Weise zustande. Wer den Geist und Mut zu einem Reformator hat, der nur hat das Recht dazu. Jeder Reformator ist notwendig ein Usurpator, jede Reformation eine Gewalttat des Geistes."
Bezug der Ausgabe über die Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg via Internet: www.gkpn.de (Schutzgebühr 12,00 EUR zuzügl. 1,50 EUR Verp. u. Porto).
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