NÜRNBERG. (hpd/gkpn) Das aktuelle Heft von "Aufklärung und Kritik", der umfangreichen Vierteljahreszeitschrift der Gesellschaft für Kritische Philosophie Nürnberg, ist erschienen. Die Redaktion hat dem hpd wieder das Vorwort zu Verfügung gestellt.
Arthur Schopenhauer ist im In- und Ausland einer der meistgelesenen deutschen Philosophen. Seine Willensmetaphysik schlägt in der europäischen Philosophie einen ganz neuen Ton an. Anders als fast die gesamte philosophische Tradition sieht Schopenhauer Wesen und Grund der Wirklichkeit nicht mehr in einem vernünftigen Prinzip oder einem göttlichen Geist, sondern in einem blinden, unvernünftigen Lebenswillen. Aber auch Schopenhauers Qualitäten als Stilist haben seine Rezeption weit über die akademische Welt hinaus erheblich gefördert. Wie jedoch sein komplexes Werk in seinem Grundanliegen richtig zu verstehen und philosophiegeschichtlich zu verorten ist, ist eine durchaus offene Frage. Üblich ist es, Schopenhauer als Vorläufer Nietzsches und als Wegbereiter der Lebensphilosophie zu verstehen. Auch seine Rolle als Entdecker des Unbewussten und als Vorreiter der Psychoanalyse wird häufig ebenso hervorgehoben wie seine Verdienste um die Aufnahme und Vermittlung der indischen Philosophie. Doch gerade wegen dieser Wirkung wird Schopenhauer nicht selten eine Abkehr vom rationalistischen Weltbild und vom Rationalismus überhaupt bescheinigt und sein Werk in die Tradition des philosophischen Irrationalismus eingereiht.
Vernachlässigt wird jedoch häufig die enge Beziehung, die Schopenhauers Denken zur Aufklärung hat. Schopenhauer schreibt die klare, pointierte, satirisch bissige Prosa des 18. Jahrhunderts, und er hat – in Gegnerschaft zu den Philosophen des Deutschen Idealismus – der lange vorherrschenden theologisch inspirierten Metaphysik endgültig den Garaus gemacht. Er sah sich als Erbe Voltaires, Humes und Kants. Es ist deshalb eines der Anliegen des vorliegenden Sonderbandes, auch den oftmals verdeckten Spuren nachzugehen, die Schopenhauer mit dem kritischen Impuls der Aufklärung verbinden, wie sie u.a. in seiner rationalen philosophischen Grundhaltung, in seiner Kritik der Religion und traditionellen Metaphysik, in seinen engen Bezügen zum Materialismus, in seiner sozial und ökologisch orientierten Ethik und in seinen Ansätzen zu einer rationalen Klugheitslehre sichtbar werden. Schopenhauer mag sich vom rationalistischen Weltbild, wie es zur Zeit der Aufklärung noch weit verbreitet war, abgewandt haben. Er tat dies allerdings in einer rationalen und kritischen Art und Weise, die ihn gerade in die Tradition aufklärerischen Denkens stellt. Eine wiederkehrende These der folgenden Beiträge besteht denn auch darin, dass Schopenhauer, im Gegensatz zu seinem verbreiteten Image, kein Gegner der Aufklärung und einer kritisch-rationalen Grundhaltung war, sondern ein der Aufklärung verpflichteter "Rationalist des Irrationalen", der sich um die Offenlegung der unbewussten, triebhaften und negativen Kräfte und Tendenzen in Natur und Geschichte bemüht hat.
In seinem autobiographisch gehaltenen Beitrag erläutert der Ehrenvorsitzende der Gesellschaft für kritische Philosophie, Hans Albert, wie er Schopenhauers Werk kennengelernt und welche Rolle es in seinem Denken gespielt hat. Positiv würdigt er Schopenhauers Erkenntnistheorie und Religionskritik, doch distanziert er sich von dessen Apriorismus und Pessimismus. Von besonderem Interesse ist das freimütige Bekenntnis, dass der Terminus "Münchhausen-Trilemma", den Albert für die Begründungsproblematik geprägt hat, sich einer unbewussten Reminiszenz an seine Schopenhauer-Lektüre verdankt.
In seinem einleitenden, biographisch und geistesgeschichtlich orientierten Beitrag weist Robert Zimmer auf die vielfältigen aufklärerischen Wurzeln in Schopenhauers Denken hin. Verdeutlicht wird, wie durch seine Herkunft aus einem republikanisch-aufklärerischen Elternhaus sowohl die Grundlagen für seine spätere kosmopolitische Haltung als auch für seine lebenslange Vorliebe für die Literatur der Aufklärung und ihre englischen, französischen und deutschen Hauptvertreter gelegt wurde. Der Philosoph Schopenhauer erscheint dabei nicht nur in seiner radikalen Religions- und Metaphysik-Kritik als Fortsetzer des kritischen Programms der Aufklärung. Gezeigt wird, dass auch seine Willensmetaphysik, die die irrationalen Seiten der Welt und des Menschen herausarbeitet, eine aufklärerische Funktion hat. Ein weiterer, bisher wenig beachteter Anknüpfungspunkt an die Aufklärung wird nach Zimmer in den Aphorismen zur Lebensweisheit sichtbar, die in der Tradition der aufklärerischen Popularphilosophie stehen.
Auch im Beitrag von Matthias Koßler wird deutlich, dass sich bereits beim jungen Schopenhauer eine Rückwendung von der Romantik zur Aufklärung feststellen lässt. Thematisiert wird dazu der philosophische Begriff der Besonnenheit, auf den der junge Schopenhauer die Möglichkeit einer Befreiung vom Willen stützt. Der Autor verfolgt, wie der Begriff der Besonnenheit von Schopenhauer zunächst als Gegensatz zur Vernunft und schließlich als Wesensmerkmal der Vernunft gedacht wird. Außerdem wird die These untermauert, dass Schopenhauers Denken, trotz seiner strikten Ablehnung des Fortschrittsoptimismus der Aufklärung, gerade durch die Aufdeckung der irrationalen Bedingungen und der instrumentellen Rolle der Vernunft (als Werkzeug des triebhaften Willens) einen genuin aufklärerischen Zug hat.