Eröffnungsrede von Michael Schmidt-Salomon zum Deschner-Preis 2016

Der Mut zum aufrechten Gang

Offenkundig rechnete Saudi-Arabien zu diesem Zeitpunkt noch mit ernsthaften außenpolitischen Konsequenzen. Jedoch: Zu wirklichen Konsequenzen oder auch nur zur Androhung solcher Konsequenzen ist es danach nicht gekommen – ein fataler Fehler der internationalen, insbesondere auch der deutschen Politik. Statt klare Kante zu zeigen, verfielen die führenden Politiker zurück in den alten Kurs der Kuscheldiplomatie und fädelten Milliarden-Geschäfte mit einem Land ein, das den sunnitisch-wahhabitischen Terror seit Jahren maßgeblich unterstützt. Die verheerenden Menschenrechtsverletzungen, die Saudi-Arabien Tag für Tag begeht, wurden – wenn überhaupt – nur in Nebensätzen erwähnt, was die Gegenseite souverän überhören konnte.

Dabei hätte es durchaus anders laufen können. Bereits im Januar 2015 reichten die Bundestagsfraktionen der Grünen und der Linken Anträge ein, die darauf abzielten, den Druck auf Saudi-Arabien zu erhöhen. Die vorgeschlagenen Sanktionen waren wohlbegründet und hätten in der Bevölkerung zweifellos Rückhalt gefunden. Doch mit den Stimmen der CDU/CSU und der SPD wurden die Anträge zunächst in allen relevanten Bundestags-Ausschüssen und schließlich, Anfang dieses Jahres, auch im Parlament abgelehnt.

In den Medien hat man von diesem skandalösen Vorgang kaum etwas erfahren. Dabei bewies die im Januar 2016 vom Bundestag beschlossene Ablehnung jeglicher Sanktionen gegen Saudi-Arabien noch sehr viel mehr als die vieldiskutierte "Merkel-Erdogan-Böhmermann-Affäre", woran es der deutschen Politik mangelt, nämlich an Rückgrat. Auf dem Gebiet der Menschenrechte zeigt die Bundesregierung keinerlei Profil, sondern verfolgt eine rückgratlose Appeasementpolitik gegenüber Despoten, mit der sich die Werte der Freiheit und Gleichberechtigung aller Menschen nicht verteidigen lassen und gegen die wir mit aller Entschiedenheit protestieren müssen!

Meine Damen und Herren, das Verhalten des saudischen Botschafters im Januar 2015 hat gezeigt, dass Saudi-Arabien sehr wohl auf Druck von außen reagiert. Deshalb wäre es Aufgabe der Politik, diesen Druck durch Androhung von Sanktionen zu verstärken, die das Regime tatsächlich schmerzen bzw. die den fortschrittlicheren Kräften innerhalb des Regimes ein zusätzliches Argument verschaffen, um sich gegen die Hüter des Status quo durchzusetzen. Constantin Schreiber, der Raif Badawis Texte in deutscher Sprache herausgegeben hat, wies Anfang 2016 darauf hin, was Deutschland tun könnte, ja: tun müsste, falls Saudi-Arabien auf dem Gebiet der Menschenrechte im Allgemeinen und im Fall Badawi im Besonderen nicht einlenkt:

  1. Sofortiger Stopp aller Rüstungsexporte
  2. Einreisebeschränkungen für Saudis, insbesondere für die reisefreudige saudische Königsfamilie mit ihren über 10.000 Mitgliedern
  3. Konsequenter Verzicht auf saudisches Öl
  4. Aufkündigung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien, das auf deutsche Technologie in besonderem Maße angewiesen ist.

Zudem müsste endlich umgesetzt werden, was die Fraktion der Linken bereits im Januar 2015 forderte: So sollte sich die Bundesregierung nicht nur für die sofortige Freilassung von Raif Badawi einsetzen, sondern ihm Asyl anbieten und den deutschen Botschafter in Saudi-Arabien unverzüglich damit beauftragen, Raif regelmäßig im Gefängnis zu besuchen. Letzteres wäre nur ein kleiner Schritt für Deutschland, hätte aber für Raif große Bedeutung.

Würde die deutsche Politik tatsächlich eine solche Agenda verfolgen, könnte sie in der Welt sehr viel glaubwürdiger die Werte von Humanismus und Aufklärung vertreten, die die Grundlage des modernen Rechtsstaats bilden. Und sie könnte auf diese Weise auch sehr viel glaubwürdiger dafür werben, dass "Säkularismus" tatsächlich "die Lösung" ist, wie es Raif in seinem Brief aus dem Gefängnis formulierte. Denn so viel ist sicher: Ohne säkulare Gesellschaftsnormen, ohne Trennung von Staat und Religion, wird es in keinem Land der Erde Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit geben.

Es ist ein bemerkenswertes Phänomen, dass der Begriff "Säkularismus" vorwiegend bei Intellektuellen aus dem muslimischen Kulturraum auftaucht, während wir hier im Westen in der Regel die Passiv-Form "Säkularisierung" verwenden. Die Ablösung religiöser Deutungs- und Herrschaftsmuster durch weltliche Übereinkünfte im Rahmen einer freien Zivilgesellschaft – das scheint aus europäischer Perspektive ein Prozess zu sein, der irgendwie von selbst abläuft, ohne dass man sich dafür groß engagieren müsste. Dies jedoch ist ein Trugschluss, wie man nicht zuletzt daran ablesen kann, dass erschreckend viele Migrantenfamilien auch nach mehreren Generationen nicht wirklich in dieser Gesellschaft angekommen sind, was den Nährboden dafür bereitet, dass so viele junge Männer und Frauen den dumpfen Botschaften salafistischer Hassprediger auf den Leim gehen.

Wenn man etwas genauer hinschaut, erkennt man schnell, dass Säkularisierung alles andere als ein passiver Prozess ist, der einfach so geschieht. Denn Säkularisierung verlangt entsprechende Akteure, verlangt Säkularisten, die die absoluten Moralsetzungen religiöser Dogmatiker zurückweisen und die Idee des Gesellschaftsvertrags propagieren, in der die Normen des Zusammenlebens eben nicht religiös vorgegeben sind, sondern unter den Gesellschaftsmitgliedern frei ausgehandelt werden.

Raif Badawi und Ensaf Haidar hatten den Mut, unter den denkbar schwierigsten Bedingungen für die offene Gesellschaft einzutreten. Dadurch haben sie der starken, jedoch noch im Untergrund wirkenden Bewegung der Säkularisten in den muslimischen Ländern Stimme und Gesicht verliehen. Allein dies hat die Welt verändert. Würdigere Träger des Deschner-Preises kann ich mir nicht vorstellen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.