My Child Superstar 

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Getrimmt auf Höchstleistung: chinesische Schülerin
Getrimmt auf Höchstleistung

Zu den unveränderlichen Grundkonstanten des Menschseins scheint zu gehören, dass junge Eltern ihr Neugeborenes für das schönste und einmaligste Neugeborene halten, das je das Licht dieser Welt erblickt hat. Egal, ob es so aussieht, wie erträumt, egal überhaupt, ob es irgendwelchen Erwartungen und Vorstellungen entspricht. Und das ist auch gut so, schlimm für jedes Neugeborene, dessen Eltern nicht in grenzenlose Verzückung verfallen angesichts ihres kleinen Schreihalses.

Meist allerdings hält die begeisterte Unbedingtheit nicht sehr lange vor. Bald schon halten dieselben Eltern ihren Nachwuchs nur dann noch für ganz einmalig, wert weiterer Fürsorge und Zuwendung, wenn er sehr wohl und aufs Perfekteste den eigenen Erwartungen und Vorstellungen entspricht; wenn er, psychoanalytische Binsenlehre, just so ist, wie sie glauben, selbst eigentlich sein zu sollen.

Mit Hilfe eines reichhaltigen Instrumentariums pädagogischer Maßnahmen trimmen sie ihr Kind darauf hin, das Klischeebild zu erfüllen, das sie von einem "guten Kind" im Kopfe tragen. Dazu zählt in einer leistungsorientierten Gesellschaft, daß es Leistung zu erbringen habe, Bestleistungen am besten.

Zwei von drei Schulkindern in Deutschland, so das erschreckende Ergebnis der Studie "Young is beautiful?", die Mitte der 1990er durch sämtliche Medien ging, klagten über Erschöpfung und Stress. Die körperlichen Folgen des ständigens Leistungsdruckes, so eine zeitgleiche Untersuchung der Universität Bielefeld, nähmen immer mehr zu: Jeder zehnte Schüler bekämpfe zumindest einmal pro Woche seine Kopfschmerzen mit Tabletten. Zigtausende "hyperaktiver" Kinder würden regelmäßig mit Ritalin ruhiggestellt.

Und was hat sich seither geändert? Gar nichts. Im Gegenteil: Der irrwitzige Leistungsdruck, der längst über die Schule hinaus die gesamte Freizeitkultur umfasst, hat sich schleichend auch "nach unten" in den Vorschul- und Kindergartenbereich ausgeweitet. Schon Drei- und Vierjährige füllen die Praxen von Kinderärzten und Psychologen mit eindeutigen Stresssymptomen:  morgendliche Übelkeit, Bauch- und Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit, Ess- und Schlafstörungen; selbst ausgewachsene Depressionen sind bei Kleinkindern keine Seltenheit mehr.

10 Jahre hpd

Der Grund, letztlich systemimmanent, liegt im insofern kaum abdingbaren Drill, dem der Nachwuchs unterzogen wird, auf daß er klug, brav und fleißig den "Eltern recht viel Freude mache", wie es mit hörbar sarkastischem Untertone schon bei Wilhelm Busch heißt, und der vielfach bereits im Windelalter beginnt. Das klügste, bravste und fleissigste Kind zu haben ist Ziel tagtäglich und flächendeckend durchgeführter Dressurakte, gerne auch das niedlichste. Jedenfalls muß der eigene Sproß der an die gesellschaftlich herrschenden Vorstellungen bestangepasste sein, ein Mustersproß sozusagen, und zugleich beziehungsweise ebendarin einzigartig.

Das skurrilste wie auch abschreckendste Beispiel hierfür findet sich in den USA, wo quer durch sämtliche Staaten Wochenende für Wochenende auf sogenannten Young Beauty Peagants zwei-, dreijährige Mädchen um irgendwelche Little-Miss-Sowieso-Titel konkurrieren, von ihren Müttern zu lebenden Barbie-Puppen gestylt, mit hochhackigen Pumps und in bonbonfarbene Rüschchen-und-Tüll-Kleidchen gesteckt; darauf gedrillt, unter keinen Umständen loszuheulen, sondern stets tapfer lächelnd Kußhändchen ins Publikum zu werfen. Auch für Jungs gibt es derlei Horrorspektakel: ausstaffiert als Klein-Kens müssen sie den Catwalk auf und abparadieren und wahlweise wie Leonardo di Caprio oder Johnny Depp dreinblicken. Isn't he the cutest!

Nein, derlei offenkundigen Mißbrauch kleiner Kinder durch überambitionierte oder sonstig neurotisch gestörte Eltern, die, jedem außer ihnen selbst ersichtlich, eigenen Mangel durch entsprechende Dressur ihres Nachwuchses zu kompensieren suchen, gibt es hierzulande nicht. Allerdings ist der Unterschied nur graduell zu jenen Eltern, die Schlange stehen vor den Studios von RTL oder RTL2, um ihre Kinder für irgendwelche Fernsehshows casten zu lassen. Der vielgehörte Spruch: "Mein Kind macht das gerne und ganz freiwillig!" ist schlicht Unsinn

Entgegen aller Behauptung gibt es keine dreijährigen Klavier- oder Violinvirtuosen, die ganze Symphonien herunterspielen können, auswendig und fehlerfrei, ohne dahinterstehenden elterlichen Ehrgeiz. Ebensowenig vierjährige Tennisspielerinnen, die ein Turnier nach dem anderen gewinnen, ohne daß ein krankhaft ambitionierter Vater mit dem Rohrstock die Übungseinheiten überwachte. Ganz abgesehen davon, daß hinter jedem Kind, das es "erfolgreich" ins Rampenlicht schafft, tausende anderer stehen, die, genauso gedrillt von leistungsbesessenen Eltern, Lehrern und Trainern, im zweiten und dritten Gliede hängen bleiben: Hinter jedem Superstar ein Heer an Verlierern.

Was aber, wenn ein Kind sich wiederkehrend und hingebungsvoll, dazu mit offenkundigem Talent, einer Aufgabe oder Betätigung widmete, ohne daß irgendjemand aus seinem Umfeld es dazu aufforderte oder drängte? Wenn es weit über seinen Altersdurchschnitt hinausreichende Fähigkeiten aufwiese, etwa auf sprachlichem, technischem, musischem, kreativem oder auch psychomotorischem Gebiete? Sollen und müssen solche Begabungen nicht gefördert werden? Doch, selbstverständlich. Allerdings sollten diese Kinder ihre Begabung kindgerecht entwickeln dürfen, in spielerischer Form und nach eigenem Zeitmaß und Limit, ohne daß Erwachsene Übungseinheiten, Trainingspläne und zu erreichende Ziele für sie vorgäben und vor allem: ohne daß sie ihre Fähigkeiten öffentlich oder gar in Konkurrenz gegen andere Kinder vorführen müssten. Kindgerechte Förderung einer besonderen Begabung bedeutet insofern eine konsequente Abkehr davon, das Kind zur Mehrung von Ruhm und Ehre, gegebenenfalls auch zur Hebung des Familieneinkommens, zu Höchstleistungen auf dem Gebiete seines Talents zu nötigen. Behutsam fördern: ja, für die eigenen Bedürfnisse und Interessen ausbeuten: nein. Wer sein Kind, egal welchen Alters, auf  Höchstleistungen trimmt, deren Parameter es nicht selbst bestimmen kann, egal ob am Klavier, auf dem Tenniscourt oder in der Schule, macht sich schlicht des Kindesmißbrauches schuldig. Juristisch nicht angreifbar, aber an den überfüllten Wartezimmern in den Praxen von Kinderärzten und -psychologen deutlich abzulesen. In Japan, wo Kleinkinder schon mit zwei Jahren lesen und schreiben können, mit drei die Grundrechenarten und mit vier ein klassisches Musikinstrument, Grundzüge der Informatik und zumindest eine Fremdsprache beherrschen, beziehungsweise gesellschaftlicher Vorgabe zufolge zu beherrschen haben, ist die Suizidrate unter Schülern so hoch wie sonst nirgendwo auf der Welt.

Bezeichnend im übrigen, daß in der deutschen Sprache ein wirklich passender Begriff für derlei Gewalt gegen die freie Entfaltung und Integrität der kindlichen Persönlichkeit fehlt: als gebe es, im Gegensatz zum unerwünschten Mißbrauch einen wünschenswerten Gebrauch von Kindern und ihren Talenten.