Nationalsozialismus und Gottgläubigkeit

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Wehrmachtssoldat mit Weihnachtsbaum

Eine gängige Polemik gegen Nicht-Gläubige ist, dass sie ebenso gottlos seien wie die Nazis. Doch wie hielten es die Nazis wirklich mit Gott? Und gibt es tatsächlich historische Zusammenhänge zwischen rechter Gesinnung und Kirchenferne? Wolfgang Proske nähert sich diesen Fragen über eine historische Betrachtung des Begriffs "Gottgläubigkeit".

Was eigentlich heißt "gottgläubig"? "Gottgläubig" bedeute, so der Duden, lediglich "ohne Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft an Gott glaubend". Doch ganz so einfach ist es nicht. Laut Philosophischem Wörterbuch von 1943, herausgegeben vom langjährigen Monisten und Haeckel-Schüler Heinrich Schmidt, meint Gottgläubigkeit, "sich zu einer artgemäßen Frömmigkeit oder Sittlichkeit [zu bekennen], ohne konfessionell-kirchlich gebunden zu sein, andererseits aber Religions- und Gottlosigkeit [zu verwerfen]". Damit ist "Gottgläubigkeit" in die nationalsozialistische Weltanschauung eingeordnet, denn über das rassistische Wörtchen "artgemäß" blieb sie "Ariern" vorbehalten. Gleichzeitig befanden sich über die "Verwerfung" der "Religions- und Glaubenslosigkeit" Atheist*innen außen vor. Das alles beinhaltet eine Definition durch den damaligen Chef der Sicherheitspolizei, Gruppenführer Reinhard Heydrich. Der talentierte Nachwuchsnazi, 1942 vom tschechischen Widerstand zur Strecke gebracht, hatte "Gottgläubigkeit" am 15. Dezember 1936 pragmatisch als "kirchenfreie deutsche Religiosität" bestimmt.

"Gottgläubigkeit" ist also als religiöses und gleichzeitig nationalsozialistisches Bekenntnis ein Begriff aus der Lingua Tertii Imperii (Victor Klemperer). Das Wort tauchte erstmals 1907 auf, nachdem der Freidenker Jakob Stern im Vorwärts-Verlag Berlin ein 30-seitiges Büchlein unter dem Titel "Gott? Gottglaube oder Atheismus?" veröffentlicht hatte. 1919 im Zusammenhang mit Religionsfreiheit in der Weimarer Verfassung erstmals amtlich genannt, wurde "Gottgläubigkeit" formell durch Erlass des Reichsinnenministeriums vom 26. November 1936 auf den Melde- und Personalbögen der Ein­woh­nermeldeämter sowie den Perso­nalpapieren eingeführt. Auf viele Nazis übte sie eine starke Faszination aus, erlaubte sie doch politisch korrekte Religiosität über die Lehren der beiden Großkirchen hinaus. Von Adolf Eichmann etwa, dem Chef­logistiker des Holocausts, sind als letzte Worte vor seiner Hinrichtung über­liefert: "Gottgläubig war ich im Leben. Gottgläubig sterbe ich." Ähnliche Äußerungen wurden nach 1945 auch von anderen aus dem Kriegs­verbrechergefängnis Landsberg überliefert.

Anfänglich funktionierte das "amorphe Konzept einer allgemeinen Gottgläubigkeit" (Horst Junginger) recht gut. Auch Freigeister im weitesten Sinne konnten sich darin wiederfinden. Politisch wichtig war in NS-Zeiten aber auch, dass sich damit der "arische" Nichtchrist eindeutig von der ihm vielleicht unterstellten "Glaubenslosigkeit" zu distanzieren vermochte. Denn Atheismus hätte der vermeintlich durch sein "Blut" angeborenen deutschen Frömmigkeit widersprochen und sei überhaupt lediglich bösartige Irreführung durch "jüdisch" bzw. marxistisch verhetzte Elemente. Er hingegen hatte über sein Bekenntnis zur "Gottgläubigkeit" gar nichts zu tun mit von Glaubenslosigkeit befallenen Dissidenten, die zur Abschreckung bereits ab 1932 für anormal erklärt und ab 1933 in Konzentrationslager eingewiesen worden waren. Fernab vom Freidenkertum konnte er unbehelligt zusehen, wie man die Ungläubigen abholte und im Lager "durch Arbeit" umzuerziehen versuchte und, falls das nicht funktionierte, skrupellos liquidierte. Als "Gottgläubiger" bewies er durch praktisches Verhalten, dass er gewillt war, sich seiner Integration in die "Volksgemeinschaft" nicht zu widersetzen.

"Freiheit in der Religion" oder "Freiheit von Religion"?

Aus religionsgeschichtlicher Sicht war "Gottgläubigkeit" ein Zwischenschritt im Prozess der Loslösung von dogmatischer Religion und Zwischenergebnis im Prozess der generellen Säkularisierung seit 2000 Jahren. Der Katholizismus des Abendlandes war in vielen Schritten und von diversen Akteuren aus seinem Korsett befreit worden, beginnend mit häretischen Strömungen des 12. Jahrhunderts über Renaissance und Reformation bis hin zu Aufklärung und Kirchen- bzw. Religionskritik.

"Gottgläubige" Strömungen unterlagen wie alle Glaubenssysteme ständig einer komplizierten Dialektik des gesellschaftspolitischen Vorwärts oder Rückwärts. Im 18. und 19. Jahrhundert kam es in diesem grundsätzlich emanzipatorischen Prozess vielfach zu folgender denkerischer Weichenstellung: Soll man frei sein in der Religion oder darüber hinaus gleich frei werden von Religion? Anders ausgedrückt: Sollte der Befreiung von der Kirche im nächsten Schritt auch die Freiheit von religiösen Glaubensideen an sich folgen? Und wenn dies bejaht wird: Darf dieser Prozess bis in offenen Atheismus vorangetrieben werden? Die meisten deutschen "Dichter und Denker" von Wieland und Leibniz, Goethe und Schiller bis hin zu Lessing und Hölderlin wagten sich nur vorsichtig aus ihrer Deckung, anders als viele ihrer Kollegen in England oder Frankreich. Sie standen zwar den Dogmen des verfassten Christentums oft kritisch gegenüber, outeten sich aber nur selten als Atheisten wie später beispielsweise Ludwig Feuerbach. Vielmehr suchten sie im Regelfall in einem "deistischen" Sonderweg "Gott" in der sie umgebenden Natur. Sie entwickelten eine alles in allem "pantheistische" Religiosität des Wahren, Guten und Schönen. Andere blieben im Grunde Christen, suchten aber, mehr noch als traditionell Evangelische, den einen direkteren Zugang zu ihrem Gott ohne einen Supervisor als Mittler. Nach außen taten sie allerdings alle gemäß einer Maxime von Immanuel Kant so als ob: Auch wenn sie selbst in ihrer persönlichen Geistesfreiheit signifikant vorangekommen waren, schien es ihnen richtig, öffentlich ihr striktes Festhalten am Christentum zu beteuern. Nur so sei der Staat funktionsfähig bzw. das einfache Volk ordnungspolitisch bei der Stange zu halten. Frei zu denken sollte das Vorrecht von Adeligen und Gebildeten bleiben.

Die Variante "Freiheit in der Religion" fand sich insofern zwar in spürbarer Distanz zur Amtskirche, bald aber auch in einer Reihe mit unangepassten, aber rückschrittlichen Kräften. In diesem Sinne "freie Geister" wie Ernst Moritz Arndt, Joseph Freiherr von Eichendorff, Paul de Lagarde, Richard Wagner, Eduard von Hartmann oder auch Friedrich Nietzsche, die alle auf ihrem Recht auf individuelle Religiosität bestanden, schufen de facto "parachristliche Religiosität" (Hubert Cancik). Unter derartigen "Gottgläubigen", die diesen Begriff selbst allerdings noch nicht kannten, wurden ihre dichtenden Frontleute schon mal als "deutsche Künder starken Lebens" bzw. als Prediger einer "gottlosen Frömmigkeit" (so der Titel eines 1946 vom Hamburger Pastor Horst Schuelke veröffentlichten Buches über Nietzsche) verstanden und geschätzt.

Glauben um des Glaubens willen

Zum deistischen Sonderweg im deutschen Kulturraum gehörte, dass die vagabundierende, unbestimmt schweifende Frömmigkeit sich immer wieder – irgendwie, irgendwann und irgendwo – im konventionell Religiösen verfing, aus ihrem selbsterdachten denkerischen Labyrinth nicht mehr herausfand und am Ende der antimodernistischen Reaktion verfiel. Die betont unscharfe, den Getreuen viel Spielraum lassende "freie Religion" ermöglichte auch überdrehten Exo- und Esoterikern, völkischen Rassisten und dumpfen Antisemiten ihren Zugang. In solchen Kreisen wurde nun der Begriff der "Gottgläubigkeit" als Glauben um des Glaubens willen funktionalisiert. Ziel war die Beerbung, nicht die Über­windung des christlichen Staates. Aus der vormaligen "Nation" wurde das religiös aufgeladene "Volk". Garniert mit weiteren Attributen aus der Welt des Legenden und Mythen erreichte "Gottgläubigkeit" zunehmend ihren Höhepunkt innerhalb der Deutschtümelei. Georg Groh aus Schweinfurt etwa veröffentlichte ab 1928 eine Geschichte der germanischen Gottgläubigkeit. Der Herausgeber der SS-Zeitschrift Das Schwarze Korps, Gunter d’Alquen, forderte "nordische Gottgebundenheit" statt "artfremder, orientalischer" Religion inklusive ihrem Dogma der Gleichheit aller Gläubigen. Über die Thule-Gesellschaft und die Bündische Jugendbewegung schaffte die "Gottgläubigkeit" dann ihren Durchbruch auch bei der Deutschen Arbeiterpartei bzw. nach deren Umbenennung in der NSDAP.

Die Kategorie "Gottgläubigkeit" entstammt insofern der völkischen Theoriebildung. Ihre Einbindung in den Nationalsozialismus dürfte laut Ulrich Nanko am Ende ein politisches Zu­geständnis Adolf Hitlers an Ludendorff und seine Anhänger im Zuge ihrer Wiederannäherung 1936 gewesen sein. Man sollte dabei dennoch von einer gewissen Reserviertheit des "Führers" ausgehen, denn grundsätzlich lehnte Hitler "innere Religionsstreitigkeiten" als für die NSDAP schädlich ab. In Mein Kampf hatte er betont, die Aufgabe der NSDAP liege nicht in einer "religiösen Reformation", sondern in der "politischen Reorganisation unseres Volkes".

Welche konkreten Überlegungen also hinter der amtlichen Einführung der "Gottgläubigkeit" steckten, muss insofern noch näher untersucht werden. Allerdings kann die anschließende Entwicklung so verstanden werden, dass mit der Einführung einer "dritten Konfession" christentumskritische Teile der NSDAP einen Versuchsballon starteten. Ihnen wäre es um die Frage gegangen, ob eine religiöse Identifikationsformel jenseits der beiden Großkirchen bereits massentauglich genug sei. Es wäre ausprobiert worden, ob das wegen seines jüdischen Ursprungs bevorzugt denunzierte "Alte Testament" ohne Verluste und bei gleichzeitiger Beibehaltung der genehmen christlichen Elemente aus der künftigen neuen Staatsreligion abgelöst werden könne. Im Begriff der "Gottgläubigkeit" kulminiert insofern ihr Versuch, eine angeblich der "deutschen Wesensart" entsprechende zeitgemäße Religion zu verankern, die mit den zentralen Grundwerten der NS-Ideologie optimal korrespondiert. "Gläubigkeit" an sich war der mehr und mehr hervortretende Kern dieser neuen vom Nationalsozialismus gewünschten Religiosität. Sie entsprach einem vor allem aktionistischen Nationalsozialismus, der, so Wilhelm Frick 1933, das alles Entscheidende nicht in programmatischer Doktrin, sondern im "Willen" und der "Kraft zur Tat" sah.

Vertagung des Projekts "Gottgläubigkeit"

Nach einigen Jahren hatte die Einführung der "Gottgläubigkeit" allerdings nicht zum von den Nazis erwünschten Ergebnis geführt. "Gottgläubige" blieben über die Jahre im Reich eine überschaubare Minderheit mit geringer politischer Bedeutung. Das lag auch an ihren Protagonisten: Sie verstrickten sich untereinander in kaum nachvollziehbare Scharmützel, ganz so, wie Hitler das von Anfang an befürchtet hatte. In ihren Reihen traten viele Häuptlinge auf, aber wenige Indianer. Bis 1939 waren selbst in Hochburgen wie Berlin lediglich knapp über zehn Prozent der Bevölkerung formal "gottgläubig" geworden. Im "Großdeutschen Reich" waren es sogar nur 3,5 Prozent bzw. 2,7 Millionen bei einer Gesamtbevölkerung von 79,3 Millionen.

Auffallend ist, wie Adolf Hitler, der ebenso wie Joseph Goebbels nie aus der Kirche ausgetreten ist, um einen Burgfrieden mit den Christen buhlte. Dennoch gibt es, was den  "Kirchenkampf" betrifft, kein einheitliches Bild. Nach deutlichen Zugeständnissen an Katholiken und Protestanten (Reichskonkordat und Staatsverträge) outeten andererseits erklärte Christentumsgegner wie Alfred Rosenberg, Julius Streicher oder Martin Bormann in oft abstoßend-primitiver Weise verbotene Homosexualität unter Priestern, sexuellen Missbrauch von Kindern oder auch kirchliche Devisenvergehen. Andererseits aber wurden entsprechend antiklerikale Aktivitäten zunehmend von oben her schon im Ansatz unterbunden. Nicht nur christliche Nazis (über zwei Drittel der NSDAP-Mitglieder waren auch Kirchenmitglieder) sorgten sich um die Loyalität von mehr als 95 Prozent  der Bevölkerung, die noch wie ein Fels zu ihrer Kirche standen. Alles in allem respektierte die NSDAP die große Schnittmenge zwischen 75 Millionen Kirchenmitgliedern einerseits und neun Millionen NSDAP-Mitgliedern bis 1945 andererseits. Denn aus Naziperspektive war es am Wichtigsten, den Krieg zu gewinnen. Insofern wurde das – offensichtlich doch nur eine Minderheit bewegende – Problem der neuen religiösen Identitätsbildung in die Zukunft vertagt, den gottgläubigen Aktivisten andererseits aber der Abenteuerspielplatz in ihrer famosen Welt unter 3,5 Prozent  nicht verwehrt. Vielleicht käme ja doch noch etwas "Gleichwertiges" (so Hitler in Mein Kampf) heraus.

Gottgläubigkeit, Deutschgläubigkeit, freie Religion

Die religionspolitische Verortung der "Gottgläubigkeit" im Nationalsozialismus zeigt, dass sich rechtes Denken mit der deutschen Geistesgeschichte bestens verbinden ließ. Zahlreiche Vorläufer der Nazis wie beispielsweise Houston Stewart Chamberlain hatten publikumswirksame Zugänge eröffnet. Die Verklärung von Kunst, Kultur und Religion als schöpferische Leistung des germanischen Geistes in Verbindung mit der Rassenlehre erwies sich für viele als unwiderstehlich. Auch die Freireligiösen, 1848 eigentlich unter republikanischen Vorzeichen begründet, standen der Rechten nach den lokalen Verboten ihrer atheistischen Flügel nahe. Ausgehend von den südwestdeutschen Freireligiösen schickten auch sie ihre Vertreter, als der Tübinger Religionswissenschaftler Jakob Wilhelm Hauer am 29./30. Juli 1933 eine koordinierende Deutsche Glaubensbewegung initiierte. Eingeladen waren religiöse und weltanschauliche Vereinigungen des rechtskonservativen Spektrums, soweit sie das Bekenntnis der Nazis zum "positiven Christentum" (Programm der NSDAP von 1920, § 24) ablehnten. Neuester Anlass ihrer Empörung war jetzt die im Konkordat zwischen Deutschland und der römisch-katholischen Kirche gipfelnde religionspolitische Entwicklung, die sie keinesfalls gutheißen konnten. Unklar blieb allerdings bei aller Anti-Position der reale Gegenentwurf. Erst 1935 sah Hauer sich in der Lage, das deutschgläubige Bekenntnis zusammenfassend zu definieren: "Wir glauben an die Gottunmittelbarkeit des Menschen. (…) Wir glauben an das Gott-inne-sein der Welt, an die Gottgegenwärtigkeit der Geschichte. Darum wird uns die Wirklichkeit selbst zur Offenbarung. Wir glauben, dass uns Gott in dem Geschehen unseres Volkes begegnet. (…) Wir sind überzeugt, dass aus diesem Glauben eine neue germanisch-deutsche Sittlichkeit erwachsen wird." Doch weil er sich nach all den Unklarheiten erst 1937 für gefestigt genug hielt, um der NSDAP beizutreten, reichte es – neben der Tübinger Professur – im weiteren Verlauf innerhalb der längst aus "Alten Kämpfern" der NSDAP gebildeten NS-Hierarchie nur noch zum ehrenamtlichen Mitarbeiter für weltanschauliche Fragen im Amt VII ("Weltanschauliche Forschung und Auswertung") des Reichssicherheitshauptamtes.

Der rechte freireligiöse Flügel, bisher nicht verboten, aber immer unter dem Damoklesschwert eines möglichen Verbotes stehend, suchte sein Heil in einer Flucht nach vorn und kollaborierte jetzt offen mit den Nazis. Der 1922 ins Amt gekommene Pfarrer der Mainzer Freireligiösen, Dr. Georg Pick, behauptete beispielsweise vollmundig eine Identität von "Gottgläubigkeit" und "Deutschgläubigkeit". In Verballhornung der Philosophie Hegels vertrat er die Vorstellung einer fortschreitenden Bewusstwerdung des absoluten Geistes auf dem Weg zur Vollendung durch die Etablierung der im Volkstum wurzelnden deutschen Nationalkirche. De facto wurde so die Selbstgleichschaltung dieser Freireligiösen mit dem Nationalsozialismus vollzogen. Auch der NS-nahe Carl Peter, in drei politischen Systemen hauptamtlicher freireligiöser Geschäftsführer und schließlich in der DDR Mitglied der SED, befand seinerzeit, der Nationalsozialismus sei der "neue Glauben" für "uns Deutschreligiöse". 1939 wünschte er sich, "dass es nur eine Religion gäbe, eine artgemäße deutsche Volksreligion ohne fremdgläubige Einschläge". Pick ging darüber noch hinaus und erklärte am 6. September 1941 die nationalsozialistische Weltanschauung grundsätzlich zur Fortsetzung der freireligiösen Tradition: "Der Nationalsozialismus erstrebt vom Politischen her, was wir vom Religiösen her erstreben".1 Pick vertrat auch die Ansicht, dass den Freireligiösen gegenüber anderen Religionsgemeinschaften ein "höherwertiger, wesensgemäßerer Inhalt" zukomme.

Doch die wortradikale Selbstinszenierung unter Preisgabe der letzten Reste von aufklärerischer Tradition fand weiterhin mit wenig Publikum statt und nützte deshalb letzten Endes kaum. Außerhalb der eigenen Reihen interessierten sich wenige für diese merkwürdige Truppe. Der antiklerikale Flügel der NSDAP bzw. die einschlägig befassten Beamten des "Sicherheitsdienstes" SD ließen sich kaum überzeugen. Zwar unterstützten sie Konzepte zur "Gottgläubigkeit" gerne, wenn sie eindeutig innerhalb des Nationalsozialismus stattfanden, blieben aber skeptisch, wo sie sich daneben unter Wahrung eigenständiger Organisationsstrukturen bis hin zur Beibehaltung von Schutzmechanismen für "Nichtarier" zu etablieren versuchten. Die Freireligiösen standen deshalb immer wieder unter dem Verdacht, Trittbrettfahrer zu sein und letzten Endes doch ihren eigenen Ideen zu sehr verhaftet zu bleiben. Alles in allem ließ der SD gott- bzw. deutschgläubige Freireligiöse, da man sie immerhin auf einem guten Weg sah, gewähren, vielleicht zeitweise sogar mit einer gewissen Sympathie, nahm sie angesichts ihrer politischen Bedeutungslosigkeit aber niemals wirklich ernst.

Verblassende "Gottgläubigkeit" nach 1945

Die Einführung der religiösen Kategorie "Gottgläubigkeit" scheiterte letzten Endes an einer zu geringen Akzeptanz und Mitwirkung der Bevölkerung. Ursprünglich gemeint war sie wohl als vom Staat gewünschter sicherer Hafen für religiös Unangepasste mit "arischen" Wurzeln, vielleicht sogar als sozialplanerischer Modernisierungsimpuls in Zeiten einer noch stark konfessionell dominierten Wirklichkeit. Doch offensichtlich war das kirchenferne Segment der Bevölkerung in seiner Bedeutung überschätzt worden. Im Vergleich mit der späteren Kirchenaustrittsbewegung ab den 1960er Jahren lagen säkulare und nachchristliche Werte in einigen Großstädten des "Dritten Reiches" zwar durchaus schon in der Luft, befanden sich andererseits aber angesichts der geltenden autoritär-faschistischen Standards doch noch zu sehr in Kinderschuhen.

Wie wenig nachhaltig "Gottgläubigkeit" religionspolitisch blieb, belegt der historische Längsschnitt: "Gottgläubige" kehrten nach dem Ende der NS-Herrschaft in ihrer Mehrheit so schnell wie möglich in den Schoß der Kirchen zurück. Mit den steigenden Kirchenaustritten in der Bundesrepublik hatten letzte "gottgläubige" Mohikaner kaum zu tun. Unabhängig davon behielten im "freien" Mikrokosmos der 1950er und frühen 60er Jahre einige NS-belastete "Altgottgläubige" ihren Einfluss, der bisher allerdings kaum erforscht ist. Neben dem bis 1966 als freireligiöser Pfarrer amtierenden Dr. Georg Pick in Mainz waren das zum Beispiel Dr. Dietrich Bronder bei den Freireligiösen Niedersachsens, Walter Alexander in der Freireligiösen Gemeinde in München oder spätere NPD-Aktivisten wie Herbert Böhme, Dr. Herbert Grabert und Dr. Sigrid Hunke bei den Unitariern. Allerdings stießen sie, auch angesichts eigenen Unvermögens, nicht selten auf den Unmut der Linken und der Linksliberalen; zuletzt sind sie, abgesehen von den NPD-Anhängern, sang- und klanglos "ausgestorben", gelegentlich unter egoistischer Mitnahme von Organisationswissen und auch Besitztümern, deren Wegbrechen den Nachfolgenden Probleme bereitete.

Mittelfristig erwies sich die humanitäre 1848-Tradition mit Grundwerten wie Selbstbestimmung, aufklärende Religionskritik, Durchsetzung von Bürgerrechten und überhaupt Bekämpfung von Dogmatismen unter den bewussten Freireligiösen und Freigeistern als attraktiver und durchsetzungsstärker als die vermeintlich "artgemäße" Frömmigkeit. An dieser Entwicklung hatten die Aufbruchstimmung und der Wertewandel von 1968 (noch lange nachhallend) ihren kaum zu unterschätzenden Anteil. Von dieser zeitweisen progressiven Stimmung ist allerdings zu wenig geblieben. Obwohl es längst anstünde, fehlt es den insbesondere betroffenen freireligiösen Gemeinden im Südwesten und im Rhein-Main-Gebiet an ernsthaftem Willen, die eigene NS-Vergangenheit hinreichend aufzuarbeiten. Die pauschale Distanzierung von früherem Nazitum in den eigenen Reihen ersetzt nicht die wissenschaftliche Aufarbeitung der Verwicklung von "freier Religion" in gottgläubige Deutschtümelei bzw. handfesten Rechtsextremismus, schon gar nicht der auch nach 20 Jahren immer noch übliche Hinweis auf die teilweise schrägen Unterstellungen des damaligen Kritikers Peter Kratz.

"Gottgläubigkeit" hat nichts mit "Konfessionslosigkeit" zu tun

Im Ergebnis hat die frühere "Gottgläubigkeit" aus NS-Zeiten nichts mit der (…) atheistisch fundierten Konfessionslosigkeit zu tun. "Gottgläubigkeit" entstand zwar kirchenfern und gegen die Amtskirchen, ist in ihrem unbedingt gläubigen Habitus de facto aber eher das Gegenteil einer politisch verstandenen, kritisch zweifelnden Konfessionslosigkeit. Wirkliche Vorläufer heutiger organisierter Säkularer dürften vielmehr sogenannte "Glaubenslose" gewesen sein, die im "Dritten Reich" rigoros verfolgt wurden, bisher aber kaum als Opfergruppe verstanden oder gar in ihrem zu vermutenden Zusammenhang mit Resistenz und Widerstand untersucht worden sind. Momentan wissen wir nicht einmal genau, wie die vermutlich eher vereinzelten "Glaubenslosen" sich genau zusammensetzten und was sie bewegte. Als Anhaltspunkt existiert eine Zahl: Bei der Volkszählung 1939 waren cirka eine Million Menschen (1,5 Prozent  der Bevölkerung und damit mehr als es Mitglieder zum Beispiel bei den beiden Freidenkerverbänden gegeben hatte) als "glaubenslos" bezeichnet worden.

Die aktuelle "Gottgläubigkeit"

Heute ist "Gottgläubigkeit" bemerkenswerterweise nicht mehr außerhalb, sondern als gesellschaftlich wenig brisante Strömung innerhalb der konventionellen religiösen Matrix verortet. Heute haben "ökumenisch" bewegte christentumsnahe Zeitgenoss*innen den schillernden Begriff "Gottgläubigkeit" für sich entdeckt. Da wird ganz harmlos erzählt, wie schön es doch wäre, gäbe es offiziell die Einheit aller ihrem Gott verbundenen christlichen Gläubigen, wie sie de facto vor Ort oft doch schon längst bestehe. Erstrebenswert sei eine einzige Kirche inklusive dem einen Abendmahl für alle, zum Beispiel auch für Geschiedene. Abgesehen davon, dass hinter solchem Tratsch von zumeist tiefgläubigen Menschen altbekannte römische Herrschaftsinteressen durchschimmern, wird in quietschfideler Patchwork-Manier und naiver Oberflächlichkeit herausgegriffen, was zum Zeitgeist passt und ignoriert, was ihm zu sperrig wird. Die alten theologischen Fundamente scheinen an dieser Stelle besonders schnell zu verdunsten. Das Christentum in seiner ganzen Breite erscheint nur noch als bloße Kulisse. Meine These lautet, dass die unbedarft-frohgemute "Gottgläubigkeit", die heute diesen Begriff zumeist nicht einmal kennt, momentan die zeitgenössische Spielart von "Freiheit in der Religion" darstellt. Sie steht fernab der Orthodoxie, weiß nichts über ihre Vergangenheit und gibt sich betont tolerant, obwohl sie nach außen wie eh und je repressiv, ja totalitär agiert; außerhalb des grundsätzlichen "Gottglaubens" zu stehen ist in diesem Milieu weiterhin sanktionsbedroht. Nach innen hinein wird ein scheinliberales religiöses Sammelsurium geboten: für jeden und jede etwas, in der Symbolkraft gefühlt vergleichbar mit den Söderschen Allerweltskreuzen im Eingangsbereich von bayerischen Amtshäusern. Atheist*innen sollten bedenken, dass am interessantesten an solchen Vorgängen die primär erwünschte Außenwirkung bei paralleler Entfremdung von der kirchlichen Dogmatik ist. All dies darf als weiterer Beleg für eine zwar kompliziert verlaufende, oft das Hirn marternde, alles in allem aber voranschreitende Säkularisierung gewertet werden.

Der Text erschien (in zwei Teilen) ursprünglich in MIZ: Materialien und Informationen zur Zeit, Ausgaben 2/18 und 3/18. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Alibri-Verlags.