Neuapostolische Kirche

"Nicht denken, nicht meinen, nur glauben!" (Teil 1)

johann_gottfried_bischoff.png

Johann Gottfried Bischoff (geboren 2. Januar 1871, verstorben am 6. Juli 1960), dritter und nach eigener Prophetie letzter Stammapostel der Neuapostolischen Kirche (NAK)
Johann Gottfried Bischoff

Vor 60 Jahren starb ein Religionsführer, der über seinen Tod hinaus Hunderttausende in seinen Bann zog. Johann Gottfried Bischoff, 30 Jahre lang Anführer der Neuapostolischen Kirche (NAK), bekundete mit seiner "Botschaft" nicht nur seine Überwindung des Todes, sondern versprach diese allen, die sich bedingungslos an ihn hielten. Auch wenn er die Geister, die er damit rief, nicht mehr zurückzuhalten vermochte, verantwortet er letztlich Exzesse frommer Gewalt mit, deren Ausmaße bis heute im Verborgenen liegen. In drei Teilen wird der Autor für den hpd Verlauf, Entstehung und Aufarbeitung dieses beispiellosen Religionsdramas nachzeichnen.

"Robert erkannte die hünenhafte Gestalt am Kopf des langen, schwarzen Zuges, der sich unten auf die Altarbühne zubewegte, sofort. Immer wieder hatte er sie auf Bildern in der 'Familie' studiert. […] Als er Achims Blick spürte, schämte er sich, rang er um Fassung  – aber wohin er auch blickte: Überall sah er Taschentücher auf- und abfahren, vernahm er Schnäuzen und Husten im fortwogenden Gesang, tief aufgewühlt von den Grundströmen seelischen Verlangens: Ein sicherer Ort winkte da mächtig herüber, jenseits aller Sorgen und Plagen dieser Welt…" (Auszug aus "Gefangen" von H. E. Gabriel)

Nur ansatzweise können Leserinnen und Leser der zitierten Passage aus Robert Wegners biografischer Erzählung erahnen, was in der Psyche jener neuapostolischen Gläubigen vor sich ging, als sich zu Beginn des Jahres 1958 "der Sohn Gottes selbst im geliebten Stammapostel" im Kuppelsaal zu Hannover niederließ.

"Kein sterblicher Mensch mehr"

Der Stammapostel? Das war schon damals und ist noch heute der oberste Geistliche der Neuapostolischen Kirche (NAK), ihres Zeichens oft als "größte Freikirche Europas" bezeichnet und nicht nur in Deutschland jahrzehntelang als rigide oder gar gefährliche Weltuntergangs-Sekte verschrien. Der Grund dafür liegt nicht unwesentlich in genau jenen Tagen begründet. Denn der damalige Stammapostel an der Spitze des "Erlösungswerks des Herren", der 87-jährige Johann Gottfried Bischoff, hat zu diesem Zeitpunkt das Schicksal der drittgrößten Religionsgemeinschaft Deutschlands unauflöslich mit einem angeblichen Versprechen von Jesus Christus verknüpft. Wer an Bischoffs Offenbarung glaubt und den mit "Macht gegen Hölle und Tod" ausgestatteten neuzeitlichen Aposteln glaubensgehorsam nachfolgt, wird mit ihm dem Tod trotzen. Diese ging als "Botschaft" in die Geschichte seiner Kirche ein und wurde über weniger als zehn Jahre zur alles bestimmenden Richtschnur für hunderttausende Mitglieder auf der ganzen Welt. Bischoffs Tod vor genau 60 Jahren wurde für zu viele von ihnen zu einem erschütternden Mahnmal für fromme Gewalt im nicht immer so aufgeklärten Deutschland.

Doch was genau war die "Botschaft"? Sie war und ist angebliche Offenbarung, Dogma, Lebensabschnitt und Mythos zugleich. Fragt man heute Angehörige der Glaubensgemeinschaft, hört man wohl, die "Botschaft" sei eine Glaubensbekundung von Bischoff gewesen, welche er seinem Kirchenvolk Weihnachten 1951 erstmals bekundete und der zufolge Gott ihn habe wissen lassen, dass die in der Bibel angekündigte Wiederkunft Jesu Christi trotz hohen Alters noch zu seiner Lebenszeit eintreten werde.

Trost aus einer trügerischen Hoffnung

Falsch ist daran nichts und doch alles. Denn obwohl diese tatsächliche Begebenheit zum Markstein des religiösen Dramas wurde, handelte es sich aus heutiger Quellenlage keinesfalls um eine urplötzlich vermittelte Offenbarung, sondern um ein sich über Jahre vervollständigendes Mosaik in der Psyche eines Mannes, das zu Beginn noch Bilder der verzweifelten Hoffnung für die kriegszermürbten Deutschen transportierte. Bis zu seinem Tod eskalierte das zu nichts weniger als Psychoterror verstörenden Ausmaßes.

Anfangs stand die fast harmlose Überzeugung, dass die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs biblische Vorboten der Endzeit seien. Dadurch schien den Neuapostolischen ihr Kernglauben eines dem Zeitgeschehen entnehmbaren Fahrplans zur Apokalypse bestätigt. Doch als ab 1950 ein erbitterter Streit um Kirchenführung, Finanzverhältnisse und Nachfolge des betagten Stammapostels ausbrach, wich die unverfängliche Zeitdeutung – erst dem konkreten Versprechen auf Überwindung des Todes für eine ganze Generation, spätestens ab 1954 einer religiösen Drohgebärde. Zitate legen nahe, dass es von da an bei der "Botschaft" immer weniger um Zukunftsvisionen als vielmehr um eine scharfe Freund-Feind-Rhetorik gegen all jene ging, die dem NAK-Oberhaupt mit ihren Zweifeln "Glaubensgehorsam" verweigerten. Bildlich vorstellbar, wie zahlreiche Mitglieder infolgedessen Hab und Gut verschenkten, ihre Felder nicht mehr bestellten oder in großer Zahl ihre Ausbildung aufgaben.

Bischoff macht ernst mit der "Botschaft": Ton-Auszug aus einer Predigt am 20. Juni 1954 in Berlin:

Nachfolge oder ewiger Tod

Und wer zum Treuebeweis für die "Botschaft" derart weit ging, blieb natürlich nicht unberührt davon, wenn andere nicht gleichsam spurten. Besonders in Westdeutschland, den Niederlanden, der Schweiz und gar Südafrika war die Stimmung bald so aufgeheizt, dass es zu unterdrückerischem Denunziantentum kam. Eskalationen wie erzwungene Gottesdienstabbrüche mit Polizeieinsatz und Prügeleien am Rande solcher waren da nur noch zweitrangige Kollateralschäden. Ob man Predigern die Anzahl der Erwähnungen der "Botschaft" vorhielt, Schwangere für den Erwerb eines Kinderwagens oder andere langfristig angelegte Mutterfürsorge anging, oder sogar den Trausegen unter den Vorbehalt der gehorsamen Zusage stellte – die Neuapostolischen wurden zugleich Täter und Opfer eines Systems, das Kritik an diesem Tabu-Dogma mit Exkommunikation, Amtsenthebung und Eucharistiebann bestrafte. Am Ende standen zahlreiche Abspaltungen von der Kirche, tausende zerrissene Familienbande, stigmatisierte und kollektiv geächtete Ex-"Geschwister". Aus ihrer Haltung machte die geistliche Leitung damals schon kaum einen Hehl:

"Der Stammapostel allein ist die geoffenbarte Liebe Gottes. Wer sich von ihm trennt, hat sein eigenes Todesurteil unterschrieben". (Amtsblatt (Neuapostolische Kirche), Jahrgang 1952)

Selbst Jahrzehnte nach dem Scheitern der "Botschaft" erwies sich immer wieder – ob in einschlägigen Bucherscheinungen, Aussteiger-Selbsthilfegruppen oder Erfahrungsberichten der Privatinitiative für Missbrauchsaufklärung "Licht nach dem Dunkel e. V.": Das historische Trauma und die durch den Tod Bischoffs verursachte Gewissensnöte blieben die Mutter aller neuapostolischen Glaubenskämpfe. Just zu jenem Zeitpunkt waren es schon viele, die seelsorgerische Beratung bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) oder deren Gründer Kurt Hutten suchten. Doch entgegen deren Erwarten ging die NAK nicht unter. Nicht trotz, sondern genau wegen der Einforderung bedingungslosen Glaubens, so der bekannte Konfessionskundler und Historiker Helmut Obst, hat die Kirche überlebt. Selbst geplatzte Prophezeiungen bleiben eben psychisch attraktive Mythen, wenn eben nicht die Rechtfertigung einer solchen, sondern die alle Zweifel trotzende Identifikation mit dem Propheten im Vordergrund steht.

Glauben heißt, keine Fragen zu stellen

Auch die spätere Haltung, die keine Zweifel zuließ und den Tod Bischoffs als unergründliche "Planänderung Gottes" überdauerte, wurde schon davor eingefädelt. Im Frühjahr 1960 war es sein Sohn Friedrich, der dem Kirchenvolk in Essen mit einem Vergleich zum Ostergeschehen die Notwendigkeit vor Augen führte, offene Fragen – gerade auch um die "Botschaft" – unangetastet zu lassen bis zum "Tag des Herren", an dem Gott schließlich alles aufklären würde. Die "Abrahams-Gesinnung": benannt nach jenem biblischen Vorbild, der ohne Gegenfrage auf Gottes Geheiß seinen Sohn Isaak ermordet hätte. Demgegenüber stellte er die Gesinnung des Judas, der sich mit seinem rastlosen Fragen um seine Erwählung und sein Leben gebracht habe. Der unverhoffte Nachfolger des angeblich letzten Stammapostels, Walter Schmidt, drückte es 1954 prägnanter aus: "Nicht denken, nicht meinen, nur glauben!"

Haben einige neuapostolische Funktionäre damals zur Verbrennung kritischer Literatur aufgerufen, um Fragen nach Entstehung und Hintergründen der "Botschaft" unter dem Deckel zu halten, wollen wir hier nächste Woche aufklärerische Abhilfe schaffen. Dann gehen wir im zweiten Teil forensisch der Motivlage nach.


Quellenliste (Auszug):

Unterstützen Sie uns bei Steady!