Neuapostolische Kirche:

Keine Lust (mehr) auf Untergangsrhetorik

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Neuapostolische Kirche in Hannover
Neuapostolische Kirche in Hannover

Zeitenwende in der Neuapostolischen Kirche. Während andere Christen dubiose Selbstbestätigung für ihren Glauben im Ausbruch der COVID-19-Pandemie finden, erteilt der Leiter der Neuapostolischen Kirche (NAK), der größten Endzeitkirche in Europa, solcherlei Meinungen eine deutliche Abfuhr. Was selbst vielen Kirchenmitgliedern nur als eine Stellungnahme unter vielen scheinen mag, ist keine Selbstverständlichkeit für diese von Geburt an apokalyptische Gemeinschaft.

Es ist Ostersonntag, morgens halb 10 in Deutschland. Tausende neuapostolische Christen in der ganzen Republik warten an Fernsehbildschirmen oder mobilen Endgeräten auf einen historischen Augenblick: Ihr Oberhaupt, "Stammapostel" Jean-Luc Schneider, wendet sich erstmals via YouTube live an die weltweite Mitgliederschar. Aufregend – vor allem deshalb, weil das Coronavirus auch den Haushaltsplan der viertgrößten christlichen Konfession im deutschsprachigen Raum ordentlich durcheinandergewirbelt hat. Spätestens ab Mitte März hat sich das Gemeindeleben unter den behördlichen Restriktionen vollständig ins Internet verlagert. Spürbar, denn bei den Neuapostolischen stehen die Predigt, sakrale Handlungen und Musizieren in der Gemeinschaft im Mittelpunkt.

Dazu stellt sich dieser Tage für viele bibeltreue Christen die Frage, ob der Ausbruch der Pandemie nicht auch Wink einer göttlich vorherbestimmten Zukunft sei. Tatsächlich verspüren zahlreiche den "Tag des Herren" herbeisehnende Christen neues Selbstbewusstsein. Die 'leitende Körperschaft' der Zeugen Jehovas, die wohl bekannteste Endzeit-Sekte der Welt, betont mit abgebrühtem Stolz, dass sie vor solchen Geschehnissen hin zum drohenden "Armageddon" ja schon immer gewarnt habe. Mormonen und Adventisten reagieren da noch verhalten und versuchen, die erhöhte Aufmerksamkeit eher auf positive und für sie kennzeichnende Inhalte zu lenken. Ganz anders US-amerikanische Evangelikale wie Trump-Freund Robert Jeffress, der in Corona durchaus einen "Weckruf Gottes" zu Sühne und Umkehr erkennen will, bevor es zu spät sein könnte. Unter Landsleuten ist er damit nicht allein.

Die Entrückung bei der Wiederkunft Christi, das Ziel der neuapostolischen Christen; biblische Darstellung von Jan Luyken (1795) (public domain)

Die Entrückung bei der Wiederkunft Christi, das Ziel der neuapostolischen Christen; biblische Darstellung von Jan Luyken (1795) (public domain)


Die Rechnung ohne den Heiligen Geist gemacht

Der zweifellos charismatische Stammapostel Schneider lässt dann seine Zuhörenden nicht lange zappeln und geht nach wenigen Minuten zu solcherlei Meinungen auf Abstand. Dabei stellte er unmissverständlich und verbindlich fest, dass man die Pandemie nicht als "Zeichen der Zeit" sehe, die das Ende der Welt oder die Wiederkunft Christi voraussagen würde. Genauso wenig handle es sich dabei um eine "Strafe Gottes". Zwar argumentiert er zuerst hölzern, dass das Coronavirus schließlich auch nicht in der Bibel erwähnt sei. Danach wirft er aber seine gesamte Autorität als ranghöchster Apostel der Kirche Christi in die Waagschale: "Eine solche Aussage stammt nicht vom Heiligen Geist!". Die klare Sprache lässt aufhorchen.

Ganz unverhofft wie Manna aus heiterem Himmel kommen diese für neuapostolische Gläubige göttlichen Offenbarungen dann aber doch nicht. In den einheitlichen Predigtanleitungen vom November 2018 verlautbarte der Stammapostel bereits in Bezug auf diese Wiederkunft des Messias, den Dreh- und Angelpunkt der NAK-Lehre: "Es wird keine geschichtlich objektivierbaren Zeichen dafür geben." Unumwunden gestand er schon vier Jahre zuvor, während einer Predigt in Venezuela, mit der "neuapostolische(n) Tradition auf die Zeichen der Zeit zu achten", brechen zu wollen. Dafür erhielt er nun eine historische Gelegenheit, und die nahm er auch wahr.

Wie viele der Kirchenmitglieder Schneider damit trotzdem überrascht hat, bleibt aufgrund der relativen Zurückgezogenheit der Gemeinschaft noch ein Geheimnis. Eine neuapostolische Christin drückte in einer geschlossenen Facebook-Gruppe ihre Dankbarkeit für die Stellungnahme aus und schickte nach, sie wolle gar nicht wissen, wieviel an anders lautenden Bekundungen das Oberhaupt in den letzten Wochen wohl erhalten habe. Da das Innenleben mit der Online-Verschiebung jedoch transparenter wurde, waren durchaus Postings und Kettennachrichten zu vernehmen, welche Liedgut mit apokalyptischen Anklängen, Zusammenschnitte von filmischen Darstellungen der "Entrückung" (Gewinner der Goldenen Himbeere "Left Behind" lässt grüßen) oder besondere Ausdrücke der Hoffnung auf dieses "nahe Glaubensziel" kontextverständlich transportierten.

"Arche Noah der Neuzeit"

Dabei wäre eine solche Haltung vor dem Hintergrund neuapostolischer Dogmengeschichte nur folgerichtig. Denn das Wiedererkennen göttlicher Nachrichten im Weltgeschehen vor dem Ende ist geradezu ein Markenzeichen der NAK.

Zuerst in England formte sich in den 1820er Jahren eine illustre Gruppe von Laien und kirchlichen Würdenträgern, die unter dem Eindruck der napoleonischen Schreckenskriege Zeitzeichen wie den Höhepunkt des Antichristen für eine unmittelbare Wiederkunft Jesu Christi erfüllt sahen. Die erbetene "Ausgießung des Heiligen Geistes" und die Ernennung endzeitlicher Apostel kamen in schwärmerischen Zusammenkünften, wie man sie aus der modernen Pfingstbewegung kennt, ins Leben. Die katholisch-apostolische Bewegung war geboren. 1872 legte der spätere "Apostel" Friedrich Wilhelm Schwarz, ein wichtiger Vordenker der heutigen NAK, mit seinem Lebenswerk "Das Buch für unsere Zeit" eine epochale Auslegung der Johannes-Offenbarung vor, welche die Wiederkunft Christi – freilich noch zu seiner Lebzeit – in Zeitgeschehen und Religionsgeschichte insgesamt einordnete. Bis in den jüngsten neuapostolischen Katechismus von 2012 haben einige der dort aufgestellten Thesen zur Eschatologie überlebt.

Während die Endzeit-Euphorie in der Aufbruchsstimmung des wilhelminischen Kaiserreichs spürbar abkühlte, änderte sich das mit dem Beginn der Ersten Weltkriegs schlagartig. Stammapostel Hermann Niehaus, der zweite seiner Art, schwörte seine Anhänger auf einen patriotischen Kurs ein und sagte mit dem "Propheten" Ernst Schärtlein den Sieg der Mittelmächte voraus, auf den der Beginn der Herrschaft Jesu in einem tausendjährigen Friedensreich folgen würde.

"Der Sohn Gottes kommt zu meiner Lebzeit!"

Das Trauma der deutschen Niederlage brachte zwar neue Konflikte und Abspaltungen, doch kein Ende der Endzeitlust. Besonders in Fahrt kam diese mit dem dritten Stammapostel, Johann Gottfried Bischoff, der 1948 nach dem Zweiten Weltkrieg den kriegszermürbten Deutschen wortgewaltig die Bombennächte als Vorboten aus den Texten der Offenbarung vor Augen führte:

"Wir haben den Inhalt der siebten Zornschale kennengelernt, als sie über uns ausgegossen wurde und der zentnerschwere Hagel auf uns niederfiel."

Nur wenige Jahre später wird Bischoff derart weit gehen, dass er absoluten Gehorsam gegenüber seiner "Botschaft" einfordert. Diese besagte kompromisslos, dass er und alle ihm Getreuen noch zu dessen Lebzeit die Entrückung und damit die Überwindung des Todes erleben würden; auch Anzeichen eines neuen Weltkrieges atomarer Ausprägung hielten als Beweis dafür her. Ironisch, hatte doch Bischoff 1932 selbst, womöglich mit Bezug auf die wiederholten Debakel der Zeugen Jehovas, vor zeitlichen Bestimmungen des nahen Endes gewarnt.

Als Bischoff 1960 dann doch starb, erklärte die Kirchenführung dies mit einer kurzfristigen "Planänderung Gottes" und hielt den Kurs einer aus Nachrichten ablesbaren Endzeit noch für einige Jahre bei. Rückblickend eine Episode, die laut Berichten des Vereins "Licht nach dem Dunkel" (LINDD) e. V. – eine von Kirchengliedern gestartete Privatinitiative zur Aufklärung von körperlichem und geistlichem Missbrauch in der NAK – in zu vielen Gläubigen tiefe Narben hinterließ.

Hart in der Sache, pragmatisch im Ton

Eine Neuorientierung erfolgte schließlich um 1980. In Folge schwindelerregender Missionserfolge in der Dritten Welt fand die NAK zu neuem Selbstbewusstsein, was sie auch im weltweiten Boom repräsentativer Prachtbauten reflektierte. Da störte Pessimismus wohl eher, weshalb man nun mehr als je zuvor die "Suche nach dem letzten Schaf" innerhalb einer gottlos werdenden Welt zum Gebot der letzten Stunde erklärte.

Man blieb konsequent bei der Naherwartung, schwächte die Rhetorik aber ab. Richard Fehr, der das Steuer 1988 übernahm, trat sein Amt mit dem urchristlichen Ausspruch "Maranatha" an. Bei seinem Abgang 17 Jahre später mahnte er geradezu mit Lukas 12,40: "Seid auch ihr bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr's nicht meint." Trotzdem gab Fehr 1999 zur internationalen Apostelversammlung in Toronto offiziell den bedeutsamen "Dispensationalismus" auf – quasi die Lesart der Johannes-Offenbarung als verbindlichen Fahrplan bis zum Weltuntergang. Sein Nachfolger Wilhelm Leber wandte sich schon punktuell gegen fatalistische Endzeitrhetorik.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Die österlichen Botschaften des Franzosen Jean-Luc Schneider manifestieren folglich eine erkennbare Zeitenwende, die sich schon lange abzeichnete. Wenn auch viele Kritiker die Authentizität neuapostolischer Reformen bezweifeln, reiht sich der Rückzug von der Untergangssprache unter anderen neben der erklärten Abkehr vom Kreationismus und rigider Alltagseinschränkungen ein.

Natürlich, einem humanistischen Weltbild steht eine Gemeinschaft wie die Neuapostolische Kirche schon aus dem Selbstverständnis frontal gegenüber. Dennoch ist es ein Etappensieg der Aufklärung, wenn gerade solche Religionsgemeinschaften ihre Dogmen in den letztlich beliebigen Interpretationsspielraum biblischer Metaphern zurückziehen, statt mit alltagsbezogenen Drohbotschaften einen verbindlichen Takt zum nahen Ende vorzugeben, der anerkanntermaßen als Brandbeschleuniger für geistlichen Missbrauch und ekklesiogene Neurosen wirken kann.

Sicher ist dennoch auch: die Hoffnung, als "Brautgemeinde" von Christus in den Himmel entführt zu werden, wird in der NAK wohl zuletzt sterben. Dieses Selbstbewusstsein verdeutlichte Rüdiger Krause, apostolischer Filialleiter in Hamburg, treffend mit den Worten: "Wir glauben an den wiederkommenden Jesus Christus, auch wenn das vielen Menschen ein Rätsel ist."

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