Offener Brief an meine katholische Familie

Pinker zitiert dazu aus dem Comic Calvin und Hobbes den Tiger Hobbes, der von Calvin gefragt wird, warum die Menschen nie mit dem zufrieden sind, was sie haben: "Du willst mich wohl auf den Arm nehmen! Eure Fingernägel sind ein Witz, ihr habt keine Reißzähne, ihr könnt nachts nichts sehen, eure rosige Haut ist zum Lachen, eure Reflexe sind gleich null und ihr habt noch nicht einmal einen Schwanz! Natürlich sind die Menschen nicht zufrieden!" (2012: 236).

Dem ließe sich hinzufügen: wir können nicht fliegen, verglichen mit Hunden haben wir einen verkümmerten Geruchssinn, wir können uns nicht wie die Fledermaus durch Echoortung ein Bild von unserer Umwelt machen, wir können nicht wie der Mäusebussard den ultraviolett leuchtenden Mäuseurin sehen, wir können uns nicht wie Vögel mit Hilfe des Magnetismus orientieren und nicht wie Haie Elektrizität wahrnehmen. "Das Problem bei unseren typisch menschlichen Fähigkeiten ist, dass sie nicht die Standardeigenschaften von Adaptionen für das Überleben aufweisen – Konvergenz, adaptive Radiation und einen offensichtlichen Nutzen für das Überleben" (Miller 2010: 30).

11. Zweigeschlechtlichkeit

Der Katholizismus behauptet, dass der Mensch von Gott als Mann und Frau geschaffen wurde.

Leider gibt es keinen Hinweis darauf, dass wir als Homo sapiens unsere Zweigeschlechtlichkeit von Gott erhalten haben, so wenig, wie es Hinweise darauf gibt, dass der Donner den Zorn Gottes ausdrückt.

Belegen lässt sich dagegen, dass wir unsere Zweigeschlechtlichkeit als ursprüngliches Merkmal (sogenannte Plesiomorphie) von den Organismen erhalten haben, aus denen wir uns entwickelt haben. Die mit der Zweigeschlechtlichkeit verbundene sexuelle Fortpflanzungsmethode, hat sich erst vor einigen hundert Millionen Jahren bei immer mehr Arten durchgesetzt und die bis dahin vorherrschende klonale, d. h. asexuelle Fortpflanzung verdrängt. Durch die Vermischung der DNA von zwei Individuen schafft sexuelle Fortpflanzung verbesserte Möglichkeiten zur Elimination schädlicher Mutationen und zur Bekämpfung von Parasiten. Außerdem führt sie zu erhöhter genetischer Variabilität, wodurch Organismen sich besser an veränderte Umweltbedingungen anpassen können. Klonen kann dagegen nur genetisch identische Nachkommen hervorbringen (vgl. Zrzavy u. a. 2013: 62; Miller 2010: 119; Pinker 2012: 572; Lane 2013: 172).

Dass die katholische Kirche Gender-Mainstreaming, also die Gleichstellung der Geschlechter, die Vermeidung von Ungleichbehandlungen und Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts, als Bedrohung erlebt, sollte uns nicht überraschen. Schließlich sind in ihrer Organisation alle Führungspositionen mit Männern besetzt. Die Diskriminierung der Frau gehört zu ihrem Kernprogramm.

Doch für uns gehört Gender-Mainstreaming längst zu unseren moralischen Grundüberzeugungen.

Und wenn wir nicht in die von Priestern fantasierten göttlichen Geschlechterkästchen passen, ist das bedauerlich – für ihre Kästchen. Für unser Leben hat es keine Bedeutung. Immer wenn wir genauer hinschauen, können wir ohnehin nicht sagen, was das sein soll "männlich" oder "weiblich". Für jede Zuschreibung finden wir fast so viele Ausnahmen wie Bestätigungen. Starre Geschlechterrollen braucht kein Mensch. Vielleicht ist die Varianz innerhalb der Geschlechter ähnlich groß wie zwischen ihnen.

Die Aussage von Priestern, Gott habe den Menschen als Mann und Frau erschaffen, können wir als religiöse Fantasie, Fiction, Märchen, Mythologie oder Kunst akzeptieren. Sie ist gleichwertig mit der Aussage eines Hindu-Priesters, dass Gott Brahma aus einer Lotusblume geboren wurde und danach das Universum erschaffen habe.

Sie ist aber nicht gleichwertig mit unserem Wissen, das wir durch Untersuchungen, Beobachtungen und Experimente, durch wissenschaftliche Erkenntnis gewonnen haben. Priester und Theologen brauchen keinen Bezug zur Realität, keine Realitätskontrolle. Wissenschaft braucht diesen Bezug. Deshalb ist Wissenschaft für uns der Weg zu Erkenntnis. Sie kann nicht ausschließen, dass wir uns irren. Aber durch das ständige Hinterfragen ihrer Annahmen bleiben wir bereit falsche Annahmen zu revidieren.

Unsere Neigung gerne Recht zu haben, unsere Vorliebe für die Bestätigung unserer Ansichten, müssen wir dabei stets "einpreisen". Wir müssen Thomas Henry Huxleys Mahnung beherzigen: "Die Wissenschaft ist mir eine Warnung, vorsichtig zu sein, wenn ich eine Ansicht übernehmen soll, die meine vorgefassten Meinungen bestätigt; für solche Ansichten verlange ich stichhaltigere Belege als für jene, denen ich anfangs feindlich gegenüberstand" (in: Carroll 2008: 46).

12. Sexualität

Evolutionsbiologie lässt uns verstehen, welche zentrale Rolle die Sexualität im Leben jedes sich sexuell fortpflanzenden Organismus spielt. Alles in der Evolution ist letztlich auf Fortpflanzung ausgerichtet. Organismen investieren enorme Anstrengungen, Zeit und Energie in die Partnerwerbung, die nicht selten extravagante und bizarre Formen annimmt. Sexualreize können ausgehen von langen Schwanzfedern, farbenfrohen Mustern, Gesang, Tanz, Imponiergehabe, Geschenken, kunstvollen Lauben, Sandburgen, Duft- und Leuchtsignalen. Die Vielfalt der von Organismen eingesetzten Mittel zum Anlocken von Sexualpartnern scheint nahezu grenzenlos (vgl. Zahavi und Zahavi 1998: 57).

Doch angetrieben wird Sexualität nicht von der Absicht oder der Erfüllung einer Verpflichtung zur Fortpflanzung. Angetrieben wird Sexualität vom Begehren, von Lust, dem Verlangen nach körperlicher Nähe, der Aufrechterhaltung und der Überprüfung der sozialen Bindung zwischen Partnern (vgl. Zahavi und Zahavi 1998: 367).

"Damit sich Organismen fortpflanzen, müssen sie etwas davon haben. Dem Menschen, und offensichtlich nicht nur ihm, bringt zum Beispiel Sex Wohlbehagen (…) Die wenigsten Organismen "wollen" sich fortpflanzen, denn ihnen sind die Folgen ihrer sexuellen Aktivität sicherlich nicht klar. Die Nachkommen entstehen meistens versehentlich, weil wir Sex mögen. Und wenn die Jungen dann einmal da sind, fangen wir an, sie zu ernähren und zu erziehen, denn wir können nicht umhin, uns um sie zu kümmern. Ein Nebenprodukt unseres Wohlbehagens ist dann das Erfüllen des ultimaten Ziels, nämlich die Erhaltung unserer Allele." (Zrzavy u. a. 2013: 19)

Menschen müssen den Zusammenhang zwischen Sex und Fortpflanzung nicht verstanden haben, um sich fortzupflanzen – die Lustsuche allein reicht zur Fortpflanzung aus. "Einige australische Einheimische oder zumindest Angehörige einiger Stämme, verstanden bzw. kannten die Beziehung zwischen Geschlechtsverkehr und Empfängnis nicht. Sie wussten nicht, dass der Mann beim Koitus die Frau befruchtet …Weil also der Geschlechtsverkehr mit der Kinderzeugung nicht in Zusammenhang gebracht wurde, betrachteten die ursprünglichen Australier den Beischlaf nicht als etwas, das von wesentlicher Bedeutung für die Erhaltung des Klans wäre, sondern als eine angenehme Unterhaltung, Freude, die sie sich im möglichst größten Maße und so lange gönnen wollten, wie es ihnen die Gesundheit erlaubt" (Miloslav Stingl, zitiert nach Zrzavy u. a. 2013: 20)

Bestrebungen zur Indienstnahme der Sexualität für alle möglichen Zwecke hat es schon immer gegeben, nicht nur von Religionen. Aber ein Blick auf das desolate deutsche Rentensystem, das dringend neue Beitragszahler braucht, pumpt kein Blut in die Schwellkörper des Penis und erregt keine Klitoris. Auch das Wissen um das dringend erforderliche Bevölkerungswachstum israelitischer Stämme der Bronzezeit oder das Streben ethnischer Gruppen nach zahlenmäßiger Überlegenheit leisten das nicht.

Die Verknüpfung von Sexualität und Fortpflanzung, die dem katholischen Verständnis von Sexualität zugrunde liegt, reduziert Sexualität auf ihre Fortpflanzungsfunktion. Wenn Priester von Sexualität reden, könnte man meinen wir hätten es mit Klempnern zu tun: der Penis als Leitungsrohr für den zur Zeugung bestimmten Samentransport.

Aber der Penis ist ein Produkt der weiblichen Selektion, das sich als taktiles Stimulans während der kopulatorischen Partnerwerbung im Lauf der Evolution entwickelt hat. "Wenn dies nicht so wäre, hätten sich die Männer niemals mit der Entwicklung eines so großen, schlaffen und bluthungrigen Organs abgegeben. Unsere weiblichen Vorfahren brachten die Männer dazu, weil ihnen solche Penisse gefielen" (Miller 2010: 268). Der für Primaten ungewöhnlich große menschliche Penis wurde von Frauen wegen des Vergnügens, das er bei der Kopulation bereitete selektiert, wegen der gemeinsamen Erlebnisse, die er verschaffen konnte. Er ist nicht nur ein physisches Organ, das ins Körperinnere vordringt sondern ein quasi psychologisches Organ, das in das Vergnügungszentrum eines anderen Individuums vordringt (vgl. Miller 2010: 270).

Sexuelle Lust braucht keinen Zweck außerhalb der Lust. Sie ist eine eigenständige Adaption. Sie sucht nur das Vergnügen, die Verlängerung, die Intensivierung und schließlich die Befriedigung im Orgasmus. Zwischen erwachsenen Menschen liegen die moralischen Grenzen dort, wo sie bei jedem anderen Verhalten auch liegen.

Der Katholizismus betrachtet die Ehe als eine von Priestern ausgestellte Berechtigungsbescheinigung für Sexualität. Doch wir brauchen ihre Bescheinigung nicht. Wir brauchen sie so wenig, wie wir ihre Sündenablassbriefe gebraucht haben. Ob ein Paar verheiratet ist oder nicht, ist die persönliche Entscheidung des Paares und für uns so bedeutungslos wie die Schuhgröße, die uneheliche Geburt, die sexuelle Orientierung oder die Augenfarbe.

Sexuelles Erleben durchzieht das ganze menschliche Leben in einer fast grenzenlosen Vielfalt, gleichgeschlechtlich oder heterosexuell: beim ersten Verliebtsein von Jugendlichen, in Paarbeziehungen mit oder ohne Trauschein, in kinderlosen Beziehungen, in Beziehungen von alten Menschen außerhalb des reproduktionsfähigen Alters, in Phantasien bei der Selbstbefriedigung. Sexualität ist kein monolithischer Block. Was Menschen mit sexuellen Signalen, Reizen, Genuss und Befriedigung verknüpfen, die individuelle Struktur des Begehrens, ist untrennbar verbunden mit ihrer Lebensgeschichte und ergibt sich nicht aus einer biologischen Funktionalität (vgl. Schmidt 2014: 68).

Der Entwertung und dem Verbot der nicht mit Fortpflanzung verbundenen Sexualität sowie der Verwehrung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung durch Religionen, müssen wir entschieden entgegentreten, gerade weil wir um die Bedeutung der Sexualität wissen. Sie verletzen das Menschenrecht auf Partnerwahl und Partnerwerbung.

13. Ehe

Die katholische Kirche behauptet, die Ehe sei uns als lebenslange monogame Beziehung zwischen Mann und Frau von Gott gegeben worden oder wie Kardinal Müller es formuliert: "Die Ehe ist eine Idee Gottes, die er selbst kraft der Schöpfung und Erlösung in die zweigeschlechtliche Natur des Menschen und in sein gnadenhaftes Gottesverhältnis real eingeprägt hat" (Müller 2016). Priester und Theologen, die uns das heute erzählen, sind die "Experten", die uns einst erzählten, dass die Sonne um die Erde kreise und uns mit dem Scheiterhaufen drohten, als wir das nicht mehr glauben wollten.

Durch die Evolutionsbiologie wissen wir, dass wir das "normale" Produkt der Evolutionskräfte sind und das stammesgeschichtliche Erbe unserer Vorfahren, auch das der Menschenaffen, in uns tragen. Auch Kardinäle haben Zugang zu diesem Wissen, so dass man sich fragen muss: "Gilt für Kardinäle das Achte Gebot nicht?"

Der entscheidende Faktor bei der Formung des Paarungsverhaltens der Primaten ist die Verteilung der Nahrung in ihren Lebensräumen. Weitläufig verteilte Nahrung führt dazu, dass Weibchen mit ihren Jungen die Nahrung allein suchen, sich zerstreuen. Die Männchen folgen den zerstreut lebenden Weibchen, wodurch eine Tendenz zur monogamen Paarbildung entsteht.

Konzentriert sich das Nahrungsangebot in einem Gebiet, nutzen die Weibchen die Vorteile der Gruppenbildung. Ist die Gruppe relativ klein wird ein einzelnes Männchen versuchen andere Männchen vom sexuellen Kontakt abzuhalten, wodurch ein Haremssystem entsteht. Der daraus resultierende Selektionsdruck "formt" größere, stärkere und aggressivere Männchen.

Ist die Gruppe der Weibchen zu groß um von einem einzelnen Männchen kontrolliert zu werden, entstehen komplexe Gruppen mit vielen Weibchen und vielen Männchen. Unsere hominiden Vorfahren haben vermutlich in solchen Gruppen gelebt (vgl. Miller 2010: 210; Foley 2000: 125). "Die Verteilung und die Qualität der Ressourcen beeinflussen die Struktur der sozialen Gemeinschaften und somit auch das Evolutionsmuster" (Foley 2000: 128). Einmal entwickelt, entfalten Evolutionsphänomene eine Eigendynamik und können kaum mehr rückgängig gemacht werden (vgl. Zrzavý u. a. 2013: 345).

Aufschluss über das in den komplexen Gruppen der Hominiden vorherrschende Paarungsverhalten, das unsere Verhaltensdispositionen und Gefühle entwicklungsgeschichtlich gesehen geprägt hat, liefert der Vergleich unserer relativen Hodengröße mit denen der anderen Primaten. "Die Männchen polygamer Arten haben im Verhältnis zur Körpergröße sehr große Hoden, bei monogamen Arten dagegen sind sie sehr klein" (Gamble u. a. 2016: 99). Je mehr Samenzellen das Männchen einer polygamen Art bei der Kopulation in das Weibchen einbringt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit einer Befruchtung. Das Volumen des Ejakulats korreliert mit der Hodengröße. Der Indikator Hodengröße legt nahe, dass die Homo sapiens nicht so monogam wie die Gibbons sind aber auch nicht so polygam wie die Schimpansen. "Die ausschließliche Monogamie ist eine evolutionäre Sackgasse – durch sie wird eine Art offensichtlich weniger flexibel, zumindest was ihr Sozialsystem betrifft. Und ein Verlust von Flexibilität ist kein Rezept für Evolutionserfolg. Wenn das stimmt, gab es möglicherweise deshalb keine wirklich monogamen Homininen, weil alle Evolutionsexperimente in dieser Richtung unter den Bedingungen des fortgesetzten Klimawandels, der unsere Vorfahren in den letzten 2 Mio. Jahren heimsuchte, sehr schnell zum Aussterben führten" (Gamble u. a. 2016: 101).

Polygynie, d. h. ein Paarungsverhalten, bei dem sich besonders "attraktive" Männchen mit zwei oder mehr Weibchen paaren und dadurch mehr Nachkommen als weniger "attraktive" Männchen hervorbringen, ist die Voraussetzung für die Variation des Fortpflanzungserfolgs und macht evolutionäre Entwicklungen erst möglich (vgl. Miller 2010: 92; 182; 215).

Andererseits ist anzunehmen, dass es bei unseren Vorfahren auch einen Selektionsdruck zu festen Beziehungen gab, zumindest für einen gewissen Zeitraum der Fortpflanzung und Aufzucht der Nachkommen. Enge, mit intensiven Gefühlen verknüpfte Beziehungen der beiden Geschlechter erhöhten die Überlebenschance der Nachkommen.

Sexuelle Verhaltensweisen sind Anpassungen, die von der natürlichen Auslese auf maximalen Reproduktionserfolg selektiert wurden (vgl. Junker 2008: 63). Sexualität ist konflikthaft und störungsanfällig weil sie keine perfekte Anpassung sondern ein Design-Kompromiss einander widersprechender Selektionsrichtungen ist (vgl. Junker 2008: 64; Miller 2010: 377).

"In den christlichen Gesellschaften Europas wurde seit dem Mittelalter die monogame Ehe zur religiösen und gesetzlichen Norm; die Machthaber allerdings scharten oft immer noch viele Mätressen um sich Wer von uns in europäisch geprägten Kulturen aufgewachsen ist, hält den Menschen eher für monogam; tatsächlich war das Paarungsverhalten unserer Spezies aber stets mäßig polygyn" (Miller 2010: 92). "Historisch gesehen akzeptierten die Menschen lebenslange Ehen erst, seit sie nicht mehr von dem, was das Land hergibt, leben können, seit für das Überleben der Kinder ererbter Besitz entscheidend wurde und seit Eheleute ökonomische Gründe haben, auch dann noch zusammenzubleiben, wenn sie sich schon lange nichts mehr zu sagen haben" (Miller 2010: 218).

Zusammenfassend lässt sich also feststellen: mit Gott hat die Ehe zwischen zwei Menschen so wenig zu tun wie die wirklich monogamen "Ehen" der Gibbons, Albatrosse oder Präriewühlmäuse.

Was sich am Beispiel der Ehe zeigt, ist das typische Vorgehen der Priester und ihrer Religionen, das Maximilien de Robespierre so formulierte: "Wenn sie Gott anrufen, tun sie es um unsere Welt an sich zu reißen". Sie vereinnahmen die Ehe als die Idee ihres Gottes und leiten daraus ihr Recht ab zu bestimmen, wer heiraten darf, wer nicht heiraten darf und unter welchen Bedingungen Ehepaare sich trennen dürfen. Ginge es nach der Religion, hätten wir noch heute kein akzeptables Ehescheidungsrecht. Dass unsere Gesellschaft gleichgeschlechtlichen Paaren die rechtliche Gleichbehandlung noch immer verweigert, ist pures Unrecht.

14. Kernfamilie

Für Menschen ist die Entwicklungsgeschichte der Säugetiere auch ein Teil ihrer Geschichte. "Bei fast allen Säugetieren und allen Primaten versorgen die Weibchen den Nachwuchs nahezu ohne Hilfe der Männchen. Im Gegensatz zu den Weibchen können sich Männchen nie sicher sein, welche Nachkommen tatsächlich Träger ihrer Gene sind. Wegen dieser Unsicherheit investieren die meisten männlichen Säugetiere eher in neue sexuelle Möglichkeiten als in das Versorgen fraglicher Nachkommen. Wie bei allen anderen Primaten bildete die Mutter mit ihren Kindern auch bei unseren Vorfahren die soziale Grundeinheit" (Miller 2010: 219).

Priester beschwören die Kernfamilie, also Vater, Mutter und Kinder, als die gottgegebene, natürliche, schon immer existierende Lebensform, die die unverzichtbare Keimzelle jeder Gesellschaft sei. Ethnologische Berichte über Frauen aus heutigen Jäger- und Sammler-Gesellschaften liefern jedoch ein völlig anderes Bild des Zusammenlebens. "In den Augen dieser Frauen bedeuten viele Männer mehr Mühe als sie wert sind. Wenn die Männer herumlungern, essen sie meist mehr, als sie selbst heranschaffen, und erwarten mehr Zuwendung, als sie selbst den Kindern zukommen lassen. Wenn sie über eine sehr hohe Fitness verfügen, können ihre guten Gene, guter Sex und gute Unterhaltung ihre Nachlässigkeit und Faulheit kompensieren. Sind sie aber nur durchschnittlich, verursachen sie aufgrund ihrer potenziellen sexuellen Eifersucht und Gewalttätigkeit mehr Nachteile als Vorteile" (Miller 2010: 220).

Im Pleistozän war eine Hominidin in einer Gruppe oder Horde viel sicherer aufgehoben als mit nur einem Mann in einer Kernfamilie. Hominidinnen hatten wahrscheinlich mehrere Sexualpartner zur gleichen Zeit. Väterliche Fürsorge dürfte bei unseren hominiden Vorfahren eher ein Akt der Partnerwerbung als der elterlichen Fürsorge gewesen sein. Also ein Verhalten, um Zugang zu Frauen und Sex mit ihnen zu erlangen (vgl. Miller 2010: 378). Mütter wählten ihre Sexualpartner auch im Hinblick darauf, dass sie sich ihren Kindern gegenüber freundlich verhielten und von ihnen gemocht wurden. So prägten kindliche Präferenzen indirekt die Evolution erwachsener Männer (vgl. Miller 2010: 222).

Heutige Väter bauen in der Regel enge emotionale Beziehung zu ihren Kindern auf und verbringen viel Zeit mit ihnen – auch ohne sexuelle Absichten bezüglich der Mutter. Die Erklärung, wie eine Verhaltensadaption durch sexuelle Selektion entstanden sein könnte, sagt nichts darüber aus, welche Bedeutung sie für das Individuum im heutigen Leben hat. Die ursprüngliche Verknüpfung zwischen Motivation und Verhalten kann zu einer komplexen, vollwertigen Adaption geführt haben, die nun von der ursprünglichen Verknüpfung völlig unabhängig existiert (vgl. Miller 2010: 306; 294). Miller weist darauf hin, das Sigmund Freud diese Unterscheidung fälschlicherweise nicht vorgenommen hat (2010: 309).

15. Die Schöpfung Gottes

Als Kind habe ich mich gefragt, warum Gott erst vor 2.000 Jahren aufgetaucht ist. Was ist mit all den Menschen, die vorher gelebt hatten und zur Hölle verdammt waren, da sie Götzen anbeteten, das aber nicht wissen konnten, da der "richtige" Gott sich noch nicht gezeigt hatte? Und warum ist Gott nicht zuerst nach Amerika gegangen? War Gott ein Rassist, dem am Seelenheil der "Indianer" nichts lag? Als die "Frohe Botschaft" dann endlich 1.500 Jahre später durch die Europäer nach Amerika kam, war ihr Erscheinen mit der Auslöschung des größten Teils der indigenen Bevölkerung und mit der Zerstörung ihrer Kultur verbunden. Die Menschen starben an den von den Europäern eingeschleppten Infektionskrankheiten gegen die sie keine Immunität besaßen oder wurden von den Konquistadoren ermordet.

Religionen sind natürlich historische Phänomene. Sie kommen und gehen. Unzählige Religionen sind gegangen, und wenn es keine schriftlichen Aufzeichnungen gab und mündliche Überlieferungen verloren gegangen sind, wissen wir heute nichts mehr von ihnen.

Doch wodurch wurde die Schaffung von Göttern möglich? Unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen und Gorillas und damit wohl auch unser letzter gemeinsame Vorfahr, haben keine Götter geschaffen – sie glauben nur, was sie sehen.

Wurde die Schaffung von Göttern möglich durch eine unserer spezifisch menschlichen Fähigkeiten, die sich nach der Abspaltung der Schimpansen von unserer Abstammungslinie entwickelte und die uns von den anderen Menschenaffen unterscheidet: die Sprache? Sprache ermöglichte es Menschen "Dinge zu erörtern, die nicht in Sichtweite waren. ... Der Haken ist, dass die verbale Sprache keine Komponente enthält, die ihre Verlässlichkeit garantiert. Mit Worten lässt sich leicht lügen" (Zahavi und Zahavi 1998: 372). Sprache könnte die "Technik" sein, die es uns erlaubte Götter zu schaffen und Priestern ein Betätigungsfeld eröffnete.

Die Täuschungsanfälligkeit von Sprache ergibt sich also dadurch, dass sie auf "verlagerten Referenzen" angewiesen ist, auf Dinge, die zeitlich oder räumlich entfernt sind (vgl. Miller 2010: 393). Weil in der Natur jeder Informationsaustausch von Täuschung und Manipulation bedroht ist, beschränkt sich bei Tieren wahrheitsgemäße Kommunikation weitgehend auf Fitnessindikatoren, die durch das "Handicap-Prinzip", also die Kosten, die der Signalisierende auf sich nimmt, gegen Fälschung und Manipulation gesichert werden (vgl. Miller 2010: 392; vgl. Zahavi und Zahavi 1998: 16; 112; 150). Die menschliche Sprache benutzt Wörter, also Lautmuster, denen als Symbole eine bestimmte Bedeutung zukommt. Sie hat jedoch keine Komponente, die Zuverlässigkeit garantieren und Täuschung ausschließen kann.

Der Motor der Sprachentwicklung war nicht das Bedürfnis "Informationen von einem Geist auf den anderen zu übertragen" (Miller 2010: 393). D. h. nicht die natürliche Selektion bzw. Nützlichkeitsselektion sondern die sexuelle Selektion bzw. Signalselktion (vgl. Zahavi und Zahavi 1998: 82) dürfte die Sprachentwicklung angetrieben haben. Sprache ausschließlich als Mittel der Informationsweitergabe, verschafft dem Zuhörer mehr Vorteile als dem Sprecher. Schweigendes aufmerksames Zuhören wäre egoistischer Luxus und ununterbrochenes Reden ein altruistischer Akt. Tatsächlich konkurrieren wir aber vor allem darum, wer reden darf. Als hochgradig soziale Wesen nutzen wir Sprache vor allem zur Beeinflussung dessen, was im Kopf unseres Gegenübers vorgeht.

16. Religion und Politik

Die von Priestern angebotenen religiösen Dienstleistungen weisen eine Besonderheit auf, die sie von denen anderer Anbieter unterscheidet. "Spezialisierte Handwerker haben oft keinerlei Schwierigkeiten, Alleinanbieter zu bleiben, entweder weil andere ihre gefährlichen und schmutzigen Arbeiten nicht machen wollen oder weil diese Arbeiten Fachkenntnisse und eine lange Lehrzeit erfordern . Religiöse Spezialisten hingegen bieten etwas an – nämlich Rituale sowie die Garantie, dass sie erfolgreich mit übernatürlichen Akteuren verkehren können -, das mühelos auch von Nichtmitgliedern ihres Verbandes geliefert werden könnte lokale Medizinmänner, Heilkundige, Schamanen, heilige Männer und erfahrene Stammesälteste" (Boyer 2011: 334).

Die leichte Ersetzbarkeit und Entbehrlichkeit der von Priestern angebotenen Dienste, bewirkt ihre prinzipiell unsichere Stellung in den jeweiligen Gesellschaften. Das ist einer der Gründe, warum Priester versuchen möglichst viel politischen Einfluss zu erhalten. Dadurch können sie ihre Position stabilisieren und ihren religiösen Verband davor bewahren als marginale Sekte zu enden.

Boyer weist darauf hin, dass nur wenige religiöse Verbände den politischen Prozess so umfassend kontrolliert haben, wie es die christlichen Kirchen jahrhundertelang in der europäischen Geschichte getan haben (vgl. 2011: 335).

Wie Politik und Religion zum beiderseitigen Vorteil zusammenarbeiten, lässt sich zurzeit in Russland beobachten. Putin nutzt die orthodoxe Kirche und profiliert sich als Garant für traditionelle Werte, der gegen den drohenden "Werteverfall" kämpft, der von der westlichen Welt ausgehe. Die russische Regierung hat drakonische Blasphemie-Gesetze erlassen, um Kritiker der orthodoxen Kirche zum Schweigen zu bringen. Die orthodoxe Kirche nutzt die Nähe zur Regierung, die ihr größeren Einfluss verschafft und unterstützt Putin beim Ausbau seiner autokratischen Herrschaft.

Politik wird auf Religion nicht verzichten – dafür ist sie zu nützlich. Und genau so sucht die katholische Kirche die Allianzen mit Autokraten und Diktatoren, wenn sie ihr nützlich sind: in Italien mit Mussolini, in Spanien mit Franco oder mit den zahlreichen Diktatoren südamerikanischer Staaten. Heute verhält sie sich ähnlich in Afrika. Dort konkurriert sie mit den an Einfluss gewinnenden Evangelikalen. Sie pflegt die Nähe zu Diktatoren wie Robert Mugabe, die ihre Länder seit vielen Jahren im Interesse der herrschenden Oligarchie ausbeuten, Menschenrechte missachten und jede demokratische Entwicklung verhindern.

17. Erklärungsansätze der Religion

Scott Atran weist im obigen Zitat darauf hin, wie notwendig ein wissenschaftliches Verständnis von Religion ist, gerade heute, angesichts der weltweiten Konflikte, in denen Religion eine Rolle spielt. Zwei Ansätze möchte ich kurz erörtern.

Sabine Paul beschreibt die Ähnlichkeiten zwischen Kunst und Religion, die sich beide auf das Reich der Fantasie beziehen und die Funktion der Gemeinschaftsbildung, der Synchronisation divergierender Interessen haben (2013: 179; Junker und Paul 2010: 165-185). Religion bezeichnet sie als die "unsympathische Schwester" der Kunst, weil Religion, im Gegensatz zur Kunst, mit psychischem Zwang, Drohungen, Vorschriften, Geboten und Verboten arbeitet und auf ihrem Realitäts- und Wahrheitsanspruch beharrt. "Religion dient der Gemeinschaftsbildung vor allem in hierarchischen Systemen Man könnte daher die Religionen als »Zwangskunst hierarchischer Systeme« bezeichnen, die zur Absicherung der asymmetrischen Machtverhältnisse genutzt und missbraucht werden kann" (Paul 2013: 180).

Eine Studie des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena und der Universitäten in Auckland und Wellington, die eine große Anzahl historischer Kulturen im pazifischen Raum im Hinblick auf rituelle Menschenopfer analysiert, untermauert Pauls Thesen. Demnach trug das religiös begründete Morden in vielen Fällen dazu bei, dass sich Hierarchien und Herrschaftsstrukturen verfestigten. "Die Opfer hatten typischerweise einen niedrigen sozialen Status, sie waren beispielsweise Sklaven, während die Initiatoren der Menschenopfer normalerweise zu den gesellschaftlichen Eliten gehörten, wie zum Beispiel Priester oder Häuptlinge. Dabei zeigte sich, dass die Kulturen mit den am stärksten ausgeprägten Hierarchien am ehesten Menschenopfer praktizierten. Menschenopfer boten ein besonders effektives Mittel der sozialen Kontrolle, da sie eine übernatürliche Rechtfertigung für die Bestrafung lieferten. Herrscher, wie Priester und Häuptlinge, galten oft als Gesandte der Götter und die rituelle Tötung eines Menschen war die ultimative Demonstration ihrer Macht" (Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte 2016).

Einen evolutionsbiologischen Erklärungsansatz liefert Geoffrey F. Miller. Er betrachtet die sexuelle Selektion, nicht die natürliche Selektion, als die Hauptantriebskraft der Evolution des menschlichen Geistes und damit auch der Entstehung der Religionen (vgl. 2010: 32). Religion ist als "sexualspezifischer Schmuck", als Fitnessindikator entstanden, mit dem Individuen einen höheren sozialen Status zu erlangen suchen. Veranschaulichend könnte man sagen: Priester und Theologen sind die Jungs, die im Sommer mit ihren Autos, tiefergelegt und mit abgesägtem Auspuff, die lokale Eisdiele umkreisen, um die Aufmerksamkeit ihrer Artgenossen zu erlangen und um sie zu beeindrucken. Nicht anders als bei Tieren, ist ein Großteil menschlicher, insbesondere männlicher Verhaltensmuster darauf ausgerichtet, die eigene Fitness anzupreisen. Was beim Pfau der beeindruckende Schwanz ist, ist in der Theologie das verbale Gefiederkleid. Doch dieses angeberische, verschwenderische, riskante und machtbesessene Imponiergehabe führt häufig zu sozialen Belastungen. Moralische Normen haben sich auch deshalb herausgebildet, um diese Belastungen zu minimieren (vgl. Miller 2010: 159). Moralische Normen schützen Menschen damit auch vor den übelsten Auswirkungen der Religion.

Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Pfauenschwanz und dem verbalen Gefiederkleid der Theologie. Der Pfau kann seinen Fitnessindikator nicht vortäuschen – das Handicap macht ihn zu einem zuverlässigen Signal (vgl. Miller 2010: 147). Sprache dagegen, besitzt diese Garantie auf Zuverlässigkeit nicht – sie ist, ganz im Gegenteil, anfällig für Täuschung (vgl. Miller 2010: 470).

18. Moral

Wir können Priestern und Theologen vieles nachsehen. Ihre theistische Evolution, Kreationismus und all die absurden Geschichten mit denen sie uns an der Nase herumführen, können wir ihnen verzeihen. Dass Religion und Wissen nicht vereinbar sind, haben wir längst erkannt. Wir haben uns damit arrangiert: wir lassen Priester erzählen und denken uns schweigend unseren Teil. Schließlich verändert sich der Lauf der Planeten nicht dadurch, dass wir glauben die Sonne kreise um die Erde. Wir nutzen Wissenschaft zur Erkenntnisgewinnung – nicht Theologie.

Was uns aber wirklich an Religion enttäuscht, ist ihr Versagen im Hinblick auf Moral. Dass sie Moral missbraucht für den Betrieb ihrer religiösen Organisation, können wir ihr nicht verzeihen.

So groß ist die Enttäuschung, dass es uns noch immer schwer fällt zu realisieren, dass Religion und Moral nicht zusammenfallen. Dennoch: wenn Priester sagen, sie verkündeten uns die "Frohe Botschaft", ist unsere erste Frage angesichts ihrer Vergangenheit und unserer Erfahrungen mit ihnen schon heute: "Frohe Botschaft für wen?" Für Menschen, die bereit sind Andersgläubige zu ermorden (Dtn 17: 2-5)? Für Sklavenhalter (Lev 25: 44-46)? Für Menschen, die die Todesstrafe für sexuelle Untreue fordern (Lev 20: 10)? Für Homophobe (Lev 20: 13)? Für Männer, die Frauen als ihr Eigentum betrachten und ihren Gehorsam fordern (Ex 20: 17 / Eph 5: 22-24)? Für Eltern, die ihre Kinder prügeln (Spr 13: 24)?. Für Eltern, die bereit sind ihre Kinder zu töten, wenn es ihr Gott befiehlt (Gen 22: 1–10)?

Wir tun nicht, wozu uns die Bibel auffordert, weil es mit unseren Werten, mit unseren Moralvorstellungen, mit unserem Sinn für Gerechtigkeit und mit den Menschenrechten nicht vereinbar ist.

Wieso dürfen wir von unserer Religion nicht fordern, dass sie ihre Grundlagentexte den Werten einer zivilisierten Gesellschaft anpasst, die auf Menschenrechte gründen und hinter die wir nicht zurückgehen können und wollen? Eine Religion, die uns als erstes die Religionsfreiheit nimmt (Ex 20: 3), ist mit dem Menschenrecht auf Religionsfreiheit nicht vereinbar. Wieso sollten wir von unserer Religion also nicht erwarten dürfen, dass sie die Zehn Gebote korrigiert? Dass sie die Aufforderung zur Ermordung Andersgläubiger streicht und die Aufforderung zur Ermordung untreuer Ehepartner. Auch sollten wir es ihren Priestern und Theologen nicht durchgehen lassen, dass sie die Aufforderung zur Ermordung gleichgeschlechtlich liebender Menschen noch immer für zitierfähig halten.

Das sich Priester und Theologen als "Experten" empfehlen, die uns sagen: "Ihr braucht uns! Wir picken euch die 'richtigen' Stellen aus der Bibel heraus und liefern euch die 'richtige' Gesamtschau", verbessert leider gar nichts.

Hat die katholische Kirche wirklich aufgearbeitet, inwieweit der von ihr bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs geschürte Antisemitismus den Nährboden für den Zivilisationsbruch des Holocaust bereitet hat?

Ein Auszug aus einem Bischofsbrief des Primas der polnischen katholischen Kirche, der im Jahr 1936 von den Kanzeln verlesen wurde, gibt einen Eindruck von der damaligen Haltung der katholischen Kirche gegenüber Menschen jüdischen Glaubens: "It is a fact that the Jews are fighting against the Catholic Church, persisting in free-thinking, and are the vanguard of godlessness, Bolshevism and subversion. It is a fact that the Jewish influence on morality is pernicious and that their publishing houses disseminate pornography. It is a fact that Jews deceive, levy interest, and are pimps. It is a fact that the religious and ethical influence of the Jewish young people on Polish young people is a negative one” (Law 2011: 103).

Priester und Theologen nutzen immer wieder die Strategie der Schutzgelderpressung für den Betrieb ihrer religiösen Organisation: sie konstruieren Bedrohungen, und bieten sich selber als Beschützer und Retter an. In der Salzburger Erklärung warnen sie vor der "Bedrohung der menschlichen Geschöpflichkeit" und den "zerstörerischen Konsequenzen unabsehbaren Ausmaßes", die von der Gleichstellung von Mann und Frau und von der rechtlichen Gleichbehandlung heterosexueller und gleichgeschlechtlicher Ehen ausgingen.

Mit der gleichen "Offenbarung", mit der Priester und Theologen einst Kreuzzüge, die Sklaverei, die "Hexen"-Verbrennung, die feudale Gesellschaftsordnung oder die Verfolgung von Menschen jüdischen Glaubens begründeten und rechtfertigten, wenden sie sich heute gegen die Gleichstellung der Geschlechter, gegen die rechtliche Gleichbehandlung gleichgeschlechtlicher Ehen in Europa und unterstützen die Diskriminierung, Kriminalisierung und Verfolgung von homosexuellen Menschen in vielen Ländern Afrikas.

Wenn Gott es nötig hätte, müssten wir ihn vor Priestern und Theologen beschützen, angesichts dessen, was sie Gott in den vergangenen 2000 Jahren in den Mund gelegt haben.

Ein Buch, das uns auf Seite 3 auffordert, unsere Eltern zu lieben, (was wir schon taten, bevor wir das Buch gelesen hatten) und auf Seite 5 auffordert, unseren Nachbarn zu töten, weil er einen anderen Gott anbetet, taugt nicht als Moralgrundlage.

Wir sollten uns endlich eingestehen, dass Religion nicht die Quelle unseres Moralempfindens ist.

Zahavi und Zahavi erläutern dies am Beispiel des Inzesttabus. "Auch Tiere vermeiden gewöhnlich den Inzest. (…) Graudroßlinge beispielsweise vermeiden es, sich mit Individuen zu paaren, bei deren Aufzucht sie mitgeholfen haben oder die schon damals zu ihrer Gruppe gehörten" (1998: 352). "Menschen, die als Kleinkinder nebeneinander groß geworden sind, finden sich in der Regel später im Leben nicht sexuell attraktiv" (Zrzavy u. a. 2013: 93). Diese unbewusste Paarungshemmung hat sich durch natürliche Selektion herausgebildet (sogenannter "Westermarck-Effekt") und wird durch rechtliche und religiöse Verbote lediglich verstärkt (vgl. Pinker 2012: 565).

Wenn katholische Priester und Theologen von Moral sprechen, beziehen sie sich auf das Textsammelsurium der Bibel mit ihren widersprüchlichen, unklaren und, wie wir wissen, häufig falschen Aussagen. Ihre Moral erfüllt in keiner Weise die Minimalvoraussetzungen eines Moralsystems. Ihnen fehlen klare und stimmige Grundannahmen, transparente und funktionierende Entscheidungsverfahren sowie deren Begründbarkeit und Plausibilität (vgl. Edmüller 2015: 76).

Dadurch wird die "christliche Moral" zur normativen Beliebigkeit, mit der sich, wie oben beschrieben, fast alles rechtfertigen lässt. Es macht keinen Sinn anzunehmen, man müsse "nur »richtig« an die Sache herangehen" um die wahre christliche Moral zu erkennen (Edmüller 2015: 47). "Es gibt keine christliche Moral, weil unter Bezug auf christliche Werte und Gebote so ziemlich jede Handlung begründet werden kann – eine abscheuliche so gut wie eine anständige" (Edmüller 2015: 22). Aufgrund ihrer moralischen Beliebigkeit ist das Christentum in Fragen der Moral und Gerechtigkeit nicht kompetenter als in Fragen der Kosmologie und Kernphysik (vgl. Edmüller 2015: 23).

So wird verständlich, warum unser Moral- und Gerechtigkeitsempfinden so häufig in völligem Widerspruch zu den Forderungen der katholischen Kirche steht und warum Religion immer wieder der Ausgangspunkt und Verstärker für Hass ist, für die Spaltung unserer Familien und gesellschaftlicher Konflikte.

Religion benutzt Moral in gleicher Weise wie sie Wissen benutzt: als "Treibstoff". Vor Priestern und Theologen ist im Prinzip nichts sicher. Sie greifen nach allem, was anschlussfähig ist, was sich für die Konstruktion ihrer Göttergeschichten verwerten lässt. Moral und Wissen sind für sie, anders als für uns, nicht substanziell bedeutsam, sondern nur insoweit von Interesse, wie sie sich nach ihren systemeigenen Regeln für die Religion verwerten lassen. Religion kreist um Religion, nicht um Wissen und nicht um Moral.

Die Entwicklung unseres Moralempfindens können wir nicht mit Religion erklären. Vielleicht lässt sich Moralempfinden als Anpassung an ein Leben in komplexen sozialen Beziehungen begreifen. Eine Anpassung, die sich wie alle anderen typisch menschlichen Eigenschaften im Pleistozän (vor 1,6 Millionen Jahre bis 10.000 Jahren) entwickelte. Die Epoche, in der wir in überschaubaren Gruppen ohne die ausgeprägten Hierarchien der sich im Holozän entwickelnden Kulturen zusammenlebten. Diese Epoche bestimmte 99 Prozent unserer Evolutionsgeschichte.

Evolution begünstigt keinen selbstlosen Altruismus. Moral ist eine menschliche Konstruktion, kein Faktor in Evolutionsprozessen. Deshalb macht es keinen Sinn von "Morallosigkeit" zu sprechen, wenn die Gottesanbeterin dem Männchen noch beim Geschlechtsakt den Kopf abbeißt. Den verborgenen Vorteil freundlichen, hilfsbereiten und großzügigen Verhaltens müssen wir im reproduktiven Bereich suchen. Zahavi und Zahavi beschreiben altruistisches Verhalten der in Gruppen lebenden Graudroßlingen als ein Handicap, das den sozialen Status der Individuen verbessert (vgl.: 377). Moral als ein System sexuell selektierter Handicaps – vielleicht ist das ein Schlüssel zum Verständnis (vgl. Miller 2010: 360).

19. Weltbildrevision

Die Anpassung unseres Weltbildes und unseres Selbstverständnisses an das was wir wissen, ist überfällig.

Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Natur ein "Projekt" verfolgt oder ein Ziel anstrebt und keinen Hinweis darauf, dass wir nicht das Zufallsprodukt der Evolution sind: entstanden wie alle anderen Organismen auch, durch nicht gelenkte Mutation und natürliche Selektion.

Unsere Verantwortung verbietet es uns zu glauben, das heißt uns Priestern und Theologen zu unterwerfen, die für sich einen privilegierten Zugang zur Wahrheit reklamieren, der auf "Spökenkiekerei" beruht. Die Basis unseres Handelns und unserer Entscheidungen sollten Informationen sein, die auf Fakten beruhen, nicht auf Mythen, Märchen oder Offenbarung. Daraus ergibt sich, "dass selbst das angeblich offenbarte Wort Gottes vor den Theorien zurücktreten muss, die wir durch Prinzipien wie Beobachtung, Induktion, Deduktion und Schluss auf die beste Erklärung gewonnen haben" (Boghossian 2015: 75).

Die Freiheit der Religion müssen wir jedoch verteidigen wie die Freiheit jeder anderen Kunst auch. Menschen haben die Freiheit den Kaffeesatz zu lesen, das Orakel zu befragen, dem Stand der Planeten Bedeutung für das eigene Leben zuzuweisen, sich in die Gedankenwelt des Nostradamus oder Ron Hubbard zu versteigen oder Texten aus der Bronzezeit Relevanz für das eigene Leben zuzuschreiben. Religiöse Freiheit endet jedoch dort, wo die Freiheit des anderen beginnt.

Zur Freiheit der Religion gehört auch, dass wir uns einen ganz persönlichen religiösen oder spirituellen "Cocktail" aus den unterschiedlichsten Religionen und Philosophien mixen können, der mit unseren Werten, unserem Moralempfinden und mit den Menschenrechten vereinbar ist. "Du sollst keine Kreatur und kein lebendes Geschöpf verletzen, missbrauchen, unterdrücken, versklaven, kränken, quälen, foltern oder töten." Bringt dieses Zitat aus dem Jainismus unsere Überzeugungen nicht viel besser zum Ausdruck als die Bibelzitate der Salzburger Erklärung?

Wir schulden Priestern, Bischöfen, Kardinälen und Päpsten keinen Gehorsam. Unser Vertrauen müssen sie sich verdienen. Kraft ihres Amtes als Geschichtenerzähler kommt es ihnen gewiss nicht zu. Mit Leuten, die von sich behaupten, sie seien die Stellvertreter eines Gottes auf Erden, können wir uns nicht ernsthaft auseinandersetzen. Wir können Ihnen entgegnen: "Und ich, bin der Kaiser von China". Damit sollte die Sache für uns abgehakt sein.

Spannend und aufregend sind für uns die atemberaubenden Windungen in der Evolution des Lebendigen. Zum Beispiel die Frage danach, wie es Cyanobakterien geschafft haben Wasser aufzuspalten. Ein Prozess, der das "Abfallprodukt" Sauerstoff freisetzt, wodurch das Leben auf der Erde "revolutioniert" wurde. Oder die Frage, wie vor 2 Mrd. Jahren aus den einfachsten uns bekannten lebenden Systemen, den erzkonservativen, unveränderlichen Bakterien und Archaeen, der ultimative Speed-Junkie, der sich ständig verändernde Eukaryot entstand, die erste komplexe Zelle, aus der sich schließlich Pflanzen und Tiere entwickeln konnten (vgl. Lane 2013: 130), (ich bin mir der Anthropomorphismen bewusst).

Die Standardantwort von Priestern und Theologen zu solchen Fragen kennen wir bereits aus ihrer Erklärung des Gewitters: "Gott war es!" Für uns aber gilt: "Das Fehlen von Verständnis für etwas ist kein Beweis für Gott, es ist ein Beweis für das Fehlen von Verständnis" (Lawrence M. Krauss).

Eine der bemerkenswertesten Erkenntnisse, die wir aus der Evolutionsbiologie gewinnen, ist die zentrale Bedeutung der Verschiedenartigkeit der Individuen. Sie steht in krassem Gegensatz zur religiösen Sichtweise, die den Menschen zum Klon der von Priestern fantasierten Göttergestalten macht: "Wir bezeugen und bekennen mit dem biblischen Schöpfungszeugnis, dass der Mensch als Ebenbild Gottes und als Mann und Frau geschaffen ist" (Salzburger Erklärung 2015).

"Die durch die sexuelle Reproduktion erzeugte Verschiedenheit der Individuen einer menschlichen Population wird selten als das gesehen, was sie ist: als eine der Hauptantriebskräfte der Evolution, als ein natürliches Phänomen, ohne das es uns nicht gäbe" (Jacob1984: 92). "Jeder von uns ist ein genetisch einzigartiges Individuum, das es vorher nie gab und in der Zukunft nie mehr geben wird" (Zrzavy u. a. 2013: 286). Lebewesen lassen sich zusammenfassend nur in statistischen Begriffen beschreiben. "Aber Durchschnittswerte sind nur statistische Abstraktionen; Realität haben einzig die Individuen, aus denen die Population besteht" (Mayr 2005: 112).

Vielleicht ist unser menschliches Selbstverständnis noch immer hin- und hergerissen zwischen mythischen Vorstellungen von einer vorhandenen, wenn auch verborgenen Absicht im Universum und unserem Wissen um unsere Entstehung aus Bakterien, weil wir die Botschaft, die uns die Evolution mitteilt, noch immer nicht in ihrer ganzen Reichweite akzeptiert haben: "dass allein die Selektion aus störenden Geräuschen das ganze Konzert der belebten Natur hervorgebracht haben könnte" (Monod 1971: 143).

Dennoch, das verbale Gefiederkleid der Theologie können wir uns schon heute nicht mehr umhängen.


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