Offener Brief an meine katholische Familie

Ist es typisch, dass in katholischen Familien nicht über Religion gesprochen wird? Das Katholizismus in ihnen praktiziert aber nicht diskutiert wird? Dass die grundlegenden Fragen unseres menschlichen Selbstverständnisses an die "Experten" der Religion abgetreten werden?

Dabei ist uns doch völlig bewusst, dass Religion nichts erklären kann. Selbst für uns ist sie längst vom Erklärenden zum zu Erklärenden geworden. Formuliert mit den Worten Scott Atrans: "Die Vorstellung von einer transzendenten Kraft, die das Universum oder die Geschichte lenkt oder darüber bestimmt, was richtig und gut ist – und deren Existenz sich der Vernunft grundsätzlich entzieht und immun gegen eine logische oder empirische Falsifikation ist -, ist das einfachste, eleganteste und wissenschaftlich verblüffendste Phänomen, das ich kenne. Ihre Macht und Absurdität sorgen für mächtige Aufregung und haben eine sorgfältige wissenschaftliche Untersuchung verdient. In einer Zeit, in der viele der explosivsten und offensichtlich am wenigsten lösbaren Konflikte heilige Ursprünge haben, sind wissenschaftliche Kenntnisse darüber, wie man am besten mit dem Thema umgeht, von so entscheidender Bedeutung wie nie zuvor" (2014: 34).

Nie habe ich dieses "Outsourcen" existenzieller Fragen deutlicher und unerträglicher empfunden als in einem Gespräch mit meiner Mutter über ihre unheilbare Krankheit wenige Wochen vor ihrem Tod. Jede religiöse Andeutung wäre in diesem Gespräch ein Signal gewesen, dass ich über das Thema nicht sprechen will oder kann. Wenn alles von uns abfällt, wir nichts mehr vorgeben, spielen, bewirken und verteidigen müssen, oder gefasst mit einem Begriff von Karl Jaspers: in Grenzsituationen, können wir auch das religiöse Spiel nicht aufrechterhalten. Wir können uns religiöse Geschichten anhören. Aber sie bleiben für uns ein Fremdkörper. Wir können diese Sprache nicht übernehmen, wenn wir authentisch, aufrichtig und ehrlich reden wollen. Wir können uns das verbale Gefiederkleid, das sich Theologie nennt, nicht umhängen ohne Gefühle der Unredlichkeit, Scham und Schuld.

Priester und Theologen mögen sich die religiöse Sprache als Handwerkszeug angeeignet haben, das sie für ihren Job benötigen. Anders als wir empfinden sie keine Scham und keinen Skrupel, wenn sie von Göttern reden, als redeten sie von Kühen, Bergen oder Fahrrädern. Für uns bleibt die Differenz zwischen realen und fantasierten Dingen, die wir ohne Skrupel nicht verwischen können, wenn wir uns in Grenzsituationen befinden, in denen wir nicht fähig sind zu tricksen, zu täuschen, zu betrügen, zu manipulieren und zu lügen.

Durch unser Aufwachsen im Katholizismus konnten wir vieles, das für uns heute die Kraft der Gewissheit hat, mit den Worten Francois Jacobs ausgedrückt, zur "Tagwissenschaft" zählt, nur in mühsamen, oft quälenden Prozessen der "Nachtwissenschaft" herausarbeiten (1988: 367). "Die Nachtwissenschaft ist ein blindes Irren. Sie zögert, stolpert, stößt an, kommt ins Schwitzen, schreckt auf. An allem zweifelnd, sucht sie sich, befragt sich, setzt unaufhörlich neu an. Sie ist eine Art Werkstätte des Möglichen, in welcher der künftige Baustoff der Wissenschaft ausgearbeitet wird. In der die Hypothesen bloße Ahnungen, dunkle Vorgefühle bleiben. In der die Phänomene erst Einzelerscheinungen sind, unter sich durch nichts verbunden. In der das Denken verschlungene Wege geht, windungsreiche Sträßchen, die sich meist als Sackgassen herausstellen. Dem Zufall ausgeliefert, irrt das Denken durch ein Labyrinth, in einer Flut von Hinweisen, auf der Suche nach einem Zeichen, einem Wink, einem unerwarteten Begegnis. Es kreist wie ein Gefangener in seiner Zelle, sucht einen Ausgang, einen Lichtschein. Ohne je zum Einhalt zu kommen, schöpft es Hoffnung und wird wieder enttäuscht, gerät von äußerster Erregung erneut in tiefe Melancholie. Nichts lässt darauf schließen, dass die Nachtwissenschaft je das Tagstadium erreicht" (Jacob 1988: 367).

Als "geborene Katholiken" kennen wir den Katholizismus besser als jeder andere – wir haben ihn mit der Muttermilch aufgesogen. Wir haben uns diese "verhängnisvolle Affäre" mit ihm nicht ausgesucht. Unsere Eltern haben sie für uns arrangiert, wodurch sie Teil unserer Geschichte geworden ist. Wir waren bereits getauft, bevor wir wissen konnten, was sie vorhatten. Unsere Eltern haben es gut gemeint.

Wir haben mit der Taufe kein Schweigegelübde abgelegt und sind keine Verpflichtung eingegangen uns nur affirmativ zur Religion zu äußern oder gar nicht. Unsere Beteiligung am Katholizismus kann sich nicht auf die gebetsmühlenartige Wiederholung von Priestern vorformulierter Phrasen in Heiligen Messen beschränken. Eine Religion, die über uns verfügen konnte, als wir Kinder und Jugendliche waren, muss uns auch als Erwachsene ertragen, die durch Erfahrung und Wissen möglicherweise zu anderen Einsichten gelangen als ihre Priester.

Das Argument, wir dürften uns nicht kritisch zu Religion äußern, weil wir die Gefühle anderer Menschen verletzen könnten, fordert von uns nichts anderes, als schweigend zusehen, wie Religion Unrecht begeht, Menschenrechte missachtet und uns mit den absurdesten Geschichten an der Nase herumführt. Wenn wir nicht über Religion reden, machen wir uns schuldig durch Schweigen.

1. Glaubenszumutungen:

Der Katholizismus verlangt uns einiges ab, mit dem, was zu glauben er uns aufbürdet:

Maria Himmelfahrt

1950 verkündete Papst Pius XII das Dogma von der leiblichen Aufnahme der "Gottesmutter" Maria in den Himmel. Ein Dogma ist eine Aussage, die unter Berufung auf die göttliche Offenbarung als wahr zu gelten hat. Wenn Priester uns fragen, ob wir das glauben, könnten wir diplomatisch antworten wie Anton J. Carlson, dass wir leider nicht bei dem Ereignis anwesend waren und darauf hinweisen, dass die "Gottesmutter" beim Erreichen der Stratosphäre aufgrund des Sauerstoffmangels ohnmächtig geworden sein müsse (Wilson 2015: 165). Wir können ihnen aber auch klar und deutlich antworten, was wir davon halten: "Erzählt uns nicht so einen Blödsinn!".

Konklave

Wenn uns nach einem Konklave verkündet wird, dass ein neuer Stellvertreter Gottes durch das Wirken des Heiligen Geistes bestimmt werden konnte, dann ist uns völlig klar, was hinter verschlossenen Türen wirklich geschah: der Kampf der Funktionäre einer Organisation um die Macht. Das "Hauen und Stechen" der unterschiedlichen Flügel und Interessengruppen, wie wir es von jeder politischen Partei kennen. In früheren Zeiten wurde dem Heiligen Geist auch schon mal durch Bestechung, Erpressung und Gift auf die Sprünge geholfen.

Transsubstantiation

In jeder Messe soll während der Eucharistiefeier die sogenannte Transsubstantiation stattfinden, die Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu Christi. Wir müssen keinen Chemiker beauftragen um festzustellen, dass die chemische Zusammensetzung von Brot und Wein nach der Wandlung unverändert ist. Was uns Priester hier weiszumachen versuchen, ist vergleichbar mit den Tricks und Täuschungsmanövern bei den Initiationsriten des Volkes der Baktaman in Neuguinea oder Beti in Kamerun, die Pascal Boyer beschreibt (2011: 299-302).

2. Warum wir Katholizismus mitspielen?

Wir spielen Katholizismus schon lange nicht mehr mit, weil die Geschichten, die uns Priester erzählen, so plausibel, glaubwürdig und überzeugend sind, d. h. nicht, weil es gute Belege für den Realitätsgehalt ihrer Geschichten gibt. Auch nicht, weil wir dem Terror ihrer Heiligen Inquisition ausgesetzt sind, wie es unsere Vorfahren einst waren und noch heute Millionen von Menschen in anderen Staaten, die der Gewalt der Religionen ausgesetzt sind. Wir spielen Katholizismus aus pragmatischen Gründen mit:

  • weil uns seine operettenhaften Zeremonien zu unseren Familienfesten und Weihnachten gefallen;
  • weil seine Räumlichkeiten ein schönes Ambiente für Hochzeiten liefern;
  • weil seine Priester reden können, wenn uns die Trauer am Grab eines Menschen den wir geliebt haben, verstummen lässt;
  • weil wir den örtlichen Priester als Menschen schätzen, seine Offenheit, seine Empathie, sein Engagement für das Gemeinwesen und weil wir ihm glauben, dass auch er häufig an dieser Kirche leidet;
  • weil uns der Staat nicht schützt vor Diskriminierung am Arbeitsplatz in all den Einrichtungen, die staatlich finanziert werden, sich jedoch in kirchlicher Trägerschaft befinden;
  • weil unsere Verwandtschaft verärgert wäre, thematisierten wir die Widersprüche und Absurdität des Katholizismus

3. Familienspaltung

Religionen spalten nicht nur Gesellschaften, sie spalten auch unsere Familien. Darin sind sich Religionen in der ganzen Welt sehr ähnlich, unabhängig davon, ob es sich um Mun-Sekte, Scientology, Christentum oder Islam handelt.

Im Oktober 2015 entschuldigten sich katholische deutsche Bischöfe für das, was sie ledigen Müttern, unehelich geborenen Kindern und unverheirateten Paaren angetan haben mit den Worten: "Im falsch verstandenen Bemühen, die kirchliche Lehre hochzuhalten, kam es in der Pastoral immer wieder zu harten und unbarmherzigen Haltungen, die Leid über Menschen gebracht haben, insbesondere über ledige Mütter und außerehelich geborene Kinder, über Menschen in vorehelichen und nichtehelichen Lebensgemeinschaften, über homosexuell orientierte Menschen und über Geschiedene und Wiederverheiratete. Als Bischöfe bitten wir diese Menschen um Verzeihung" (Deutsche Bischofskonferenz 2015).

Für die Bischöfe sind es heute zwei Sätze. Für die betroffenen Menschen war es nicht selten ein ganzes Leben in Scham und gesellschaftlicher Ausgrenzung, das ihnen die Religion durch ihre Verurteilung bereitet hat.

Bis in die 1960er Jahre wurden in den USA Ehen zwischen Menschen der "falschen" Rasse durch Anti-Mischehen-Gesetze verboten und religiös mit der göttlichen Kreation unterschiedlicher Rassen begründet.

In Indien müssen Paare vor ihren religiösen Familienangehörigen versteckt und beschützt werden, weil sie sich in einen Menschen verliebt haben, der der "falschen" Kaste angehört.

Muslimische Frauen werden immer wieder von ihren religiösen Familienangehörigen ermordet, weil sie sich in einen Partner mit der "falschen" Religion verliebt haben.

Familien zerbrechen, weil religiöse Eltern ihren Kindern nicht verzeihen können, wo es zu verzeihen nichts gibt: weil sie sich in einen Partner des "falschen" Geschlechts verliebt haben und Priester den Eltern erzählen ihre Kinder widersprächen der göttlichen Schöpfungsordnung.

In afrikanischen Staaten wie Nigeria verstoßen Eltern ihre Kinder, weil obskure Priester ihnen erzählen, die Kinder seien verhext. Diese Kinder vegetieren danach in der Dorfgemeinschaft, die tatenlos zusieht, wie sie schließlich an Hunger oder Krankheit sterben. Die Bilder und Berichte über diese sogenannten "Hexenkinder", die oft bereits im Alter von drei Jahren von ihren Eltern verstoßen werden, sind unerträglich und gehören wohl zu den entsetzlichsten Zeugnissen davon, was religiöser Wahn bewirken kann.

Religionen präsentieren sich gern als Beschützer und Förderer der Familie. Doch tatsächlich konkurrieren sie um die Loyalität eines Menschen wie es auch andere totalitäre Ideologien tun. Sie fordern eine Loyalität, die höher stehen soll als Familienbande und ihnen widerspricht (vgl. Pinker 2012: 544).

Im Matthäus-Evangelium (10: 34-37) sagt Jesus: "Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig".

Können wir Jesus etwas anders entgegnen, als dass wir es unter diesen Bedingungen vorziehen, seiner nicht würdig zu sein?

Wenn Priester unsere geschiedenen wiederverheirateten Familienmitglieder als Sünder beschimpfen, sie zur öffentlichen Brandmarkung von der Kommunion ausschließen und ihnen mit ewiger Verdammnis in der Hölle drohen, müssen wir ihnen deutlich und öffentlich widersprechen. Wo Priester Sünde und Verdammnis sehen, sehen wir die menschliche Beziehung, Liebe und Glück, das wir jedem unserer Angehörigen von ganzem Herzen wünschen: einen neuen Partner zu finden, mit dem sie oder er ein gemeinsames Leben führen möchte.

4. Reden wir über Gott?

Wir sollten uns stets im Klaren darüber sein, dass wir nicht über Gott sprechen, wenn wir über Katholizismus diskutieren. Wir sprechen immer nur über Vorstellungen, die Priester und Theologen von Gott entwickelt haben. Denn eines ist so sicher wie das Amen in der Kirche: kein Priester hat Gott je gesehen. Alles, was sie uns über Gott und das Jenseits erzählen, entspringt ihrer Fantasie. Woher wir das wissen? Die Priester und Theologen, die uns berichten, leben. Wer lebt ist nicht tot. Wer aber tot ist, berichtet uns nicht mehr. Auch der selbsternannte Stellvertreter Gottes auf Erden hat seinen "Chef" noch nie gesehen oder gesprochen. Wollen wir etwas über Gott und das Jenseits erfahren, könnten wir genauso gut unseren Frisör befragen. Er hat den exakt gleichen Kenntnisstand wie Priester. Der einzige Unterschied wäre vielleicht, dass er uns die Hölle nicht ausmalen würde wie Dantes Inferno. Priester entwickeln diesbezüglich viel mehr Fantasie.

Weshalb sollte ein Gott sich verstecken, Priester der unterschiedlichsten Religionen schicken, uns rätseln und gewaltsam darum kämpfen lassen, welcher der von den Religionen angebotene Gott der "richtige" sein könnte? Und uns mit ewiger Verdammnis in der Hölle bestrafen, wenn wir auf "das falsche Pferd gesetzt haben"? Die fiesen Götter, die uns Priester ausmalen, kann es gar nicht geben. Sie sind ein Verkaufstrick der Priester, mit dem sie uns dazu bringen wollen, nur ihre Götterkreation abzukaufen. Das ist in etwa so, als würde McDonald mit der Aussage "werben": "Wenn ihr unsere Burger nicht esst, werdet ihr alle in der Hölle landen!"

5. Wie die Vögel am Himmel?

Religion profitiert in hohem Maße von unserem Kurzzeitgedächtnis. Wir vergessen zu leichtfertig die entsetzlichen Einzelschicksale, die mit religiös legitimierter Gewalt und Unrecht verbunden waren und sind.

Im 16. Jahrhundert erhoben sich unsere Vorfahren in den Bauernaufständen gegen die von der Kirche gepredigte "göttliche Ordnung". Danach gehörte es zu unseren gottgegebenen Aufgaben Aristokratie und Klerus "durchzufüttern". Unsere Vorfahren haben sie wegen der Auflehnung gegen diese "göttliche Ordnung" hinrichten lassen. Ganz ähnlich geschieht dies noch heute in islamischen Staaten mit Menschen, die sich gegen die Symbiose von weltlichen Herrschern und Klerus auflehnen und die Durchsetzung von Menschenrechten fordern.

Noch heute zahlt unser Staat den Bischöfen aus Steuergeldern ein monatliches Gehalt von 9.000 bis 12.000 Euro. Zusätzlich finanziert er ihnen einen Dienstwagen mit Fahrer und eine Dienstwohnung. Bei Kritik an diesen Zahlungen verweisen die Bischöfe darauf, dass ihnen das Geld zustehe als Entschädigung für Vermögen, das der Kirche vor 200 Jahren vom Staat weggenommen wurde.

Die Zahlungen sind eine ungerechte Privilegierung der Kirche. Millionen von Menschen haben ihr Vermögen in den Weltkriegen verloren ohne dass es ihnen vom Staat ersetzt wurde.

Darüber hinaus sollten wir die Bischöfe daran erinnern, dass es sich bei ihrem damaligen Vermögen um das Geld handelte, dass sie unseren Vorfahren durch den Betrug des Sündenablasshandels aus der Tasche gezogen haben.

Warum leben Bischöfe nicht, wie es in der Bibel geschrieben steht: wie die Vögel des Himmels, die nicht säen, nicht ernten, nicht sammeln und darauf vertrauen, dass der himmlische Vater sie doch ernährt (Matthäus 6: 26)? Wenn es um ihre eigene Versorgung geht, vertrauen die Funktionäre der Kirche dem Steuerzahler offensichtlich mehr als dem himmlischen Vater.

6. Geschichte

Wenn der Katholizismus uns als Ebenbild Gottes darstellt, schneidet er uns ab von unserer wahren Geschichte. Er schneidet uns ab von unserer ununterbrochenen historischen Kontinuität, die uns mit unserer Vergangenheit, mit unseren nicht menschlichen Vorfahren verbindet und die vor 3,5 Mrd. Jahren mit der Bildung von Biomolekülen aus unbelebter Materie ihren Anfang nahm.

Religion ist ein Phänomen, das sich im Laufe der Geschichte entwickelt hat. Vielleicht entstanden religiöse Vorformen wie Animismus bereits vor 2 Mio. Jahren mit dem ersten Auftreten der Gattung Homo. Oder sie entstanden vor 200.000 Jahren mit dem Erscheinen des Homo sapiens. Wahrscheinlich ist Religion eng mit der Sprachentwicklung und der Entstehung der Kunst verbunden. "Alle heutigen größeren Religionen entstanden nach der Neolithischen Revolution, erst vor ca. 4.000 Jahren, als es zur Bildung von Städten und Staaten kam, zu Arbeitsteilungen und einem enormen Machtgefälle" (Paul 2013: 179).

Der Katholizismus versetzt uns in seine Kunstwelt, die er aus den Fantasien seiner Priester und Theologen erschaffen hat. Dabei versucht er sich selbst geschichtslos zu machen, indem er die Evolution als die Schöpfung seines Gottes darstellt. So schreibt die katholische Kirche Evolutionsbiologie in ihre "theistische Evolution" um, in der ein Gott die Entwicklung des Lebendigen plant und steuert. Was in George Orwells "1984" das "Ministerium für Wahrheit" ist, ist in der katholischen Kirche die Inquisition, die seit 1965 Glaubenskongregation heißt.

Religion nutzt unsere Schwäche in Zeiträumen zu denken, die sich unserem Erfahrungsbereich entziehen (vgl. Carroll 2008: 31) und den Umstand, dass Evolution nicht direkt sichtbar ist sondern sich allenfalls (re-)konstruieren lässt (vgl. Zrzavy u. a. 2013: VIII). Sie dockt an unsere intuitiven Schlussfolgerungen und kognitiven Vorlieben an. Sie nutzt das unserer Denkweise eigene Universalmedium "Sinn", mit dem wir alles belegen, und dem wir uns nicht entziehen können. Sie vertraut darauf, dass unser Denken den Weg des geringsten Aufwands nehmen wird und behauptet die theistische Evolution mit der lenkenden Hand Gottes.

Aber durch die Molekularbiologie haben wir heute Zugang zu einer zuverlässigen Quelle, in der die Geschichte des Lebendigen niedergeschrieben ist: die DNA. "Jeder DNA-Strang in jeder unserer Zellen ist eine uralte Aufzeichnung biologischer Geschichte, die in einem einfachen Code geschrieben und von Generation zu Generation weitergegeben wurde. eine Geschichte, die physischen Ausdruck gefunden hat und während unzähliger Erdzeitalter langsam vom erbarmungslosesten aller Phänomene geformt und angehäuft wurde: von der natürlichen Selektion" (Ward und Kirschvink 2016: 12).

"Mithilfe eines einzigen Gens können wir den Familienstammbaum aller eukaryotischen Organismen mit einer Genauigkeit rekonstruieren, die sogar die wildesten Träume von Fossiliensammlern übertrifft" (Lane 2013: 120).

"Die Molekularbiologie hat dem Jahrhunderte aufrecht erhaltenen Schöpfungsmystizismus ein Ende gesetzt, sie hat vollendet, was Galilei begann. Wenn wir schon eine Begründung unserer Ideen finden wollen, so sollten wir diese in der letzten Stufe, nämlich beim Zentralnervensystem des Menschen, suchen, denn hier ist der Ursprung aller Ideen, auch der von der göttlichen Durchdringung unsers Seins" (Manfred Eigen in: Monod 1971: XV).

Wir können unsere menschlichen Merkmale und Verhaltensweisen nur verstehen, wenn wir sie im Kontext unserer realen Geschichte als ein Produkt der Evolution begreifen und erforschen. Evolution jedoch ist kein "Weltgeist", "kein allgemeines Prinzip, das über das Schicksal der Welt herrscht, sondern eine allmähliche Lösung der momentanen Probleme, mit denen die Organismen konfrontiert werden" (Zrzavy u. a. 2013: 25).

7. Evolution

Als Bauernfamilie sollten wir ein gutes Verständnis von Evolutionsprozessen besitzen. Schließlich gehört das, was Charles Darwin "Zuchtwahl" nannte, die künstliche Selektion, zum Alltag in der Landwirtschaft. Warum lassen wir Kühe künstlich besamen und achten sehr genau darauf, welcher Eber die Sau deckt? Weil wir bestimmte Eigenschaften in Kälbern und Ferkeln erzielen wollen. Unsere Hunde zeigen, was wir aus einem Wolf machen können: vom Chiwawa bis zur Bulldogge.

Künstliche Selektion funktioniert. Eine signifikante Korrelation zwischen Gebeten und gutem Erntewetter konnten wir dagegen nie feststellen.

Wenn wir einen Text wie die "Salzburger Erklärung" (2015) lesen, ist es geradezu verblüffend und zugleich empörend, dass Priester und Theologen noch heute solche Texte schreiben. Dort heißt es: "Wir bezeugen und bekennen mit dem biblischen Schöpfungszeugnis, dass der Mensch als Ebenbild Gottes und als Mann und Frau geschaffen ist", und weiter: "Der Mensch ist von Gott als »Krone der Schöpfung« bestimmt. Diese schöne und tiefe Wahrheit ist exemplarisch in Psalm 8 ausgedrückt" in dem es heißt: "Du (Herr, unser Herrscher) hast ihn (den Menschen) wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan: Schafe und Rinder allzumal, dazu auch die wilden Tiere, die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer und alles, was die Meere durchzieht."

Man könnte annehmen, der Text enthielte einen Tippfehler: wo "Fantasie" stand, tippte der Schreiber irrtümlich "Wahrheit". Denn alles, was wir heute als Fakten über die Evolution des Menschen und die Entstehung des Kosmos wissen, erscheint hier wie ausgelöscht. Aussagen, die in totalem Widerspruch zu unserem heutigen Wissen stehen. Ist dieser Text also eine Zeitreise zurück in die Denkweise des Mittelalters? Die Verlautbarung einer esoterischen Sekte? Ein Täuschungsversuch von Priestern und Theologen? Es geht nicht darum, etwas anderes zu glauben, es geht darum, dass wir Fakten und Wissen nicht einfach ignorieren können. Es geht darum, dass die zahllosen Belege, die wir gewonnen haben, indem wir sie immer wieder an der Realität überprüft und korrigiert haben, "genauso wie unzählige Pixel, aus der richtigen Entfernung betrachtet, ein schlüssiges Bild ergeben" (Lane 2013: 340).

Wir wissen, dass der Mensch, wie alle anderen heute lebenden Organismen auch, in einer ununterbrochenen Generationenfolge mit dem Ursprung des Lebens auf unserer Erde vor 3,8 Mrd. Jahren verbunden ist. Wir wissen, dass die Zelle die Elementareinheit aller Lebewesen darstellt und nur durch die Teilung einer bereits existierenden Zelle neu entstehen kann. Es gibt keine Neubildung von Zellen aus dem Nichts. Es ist keine Ausnahme bekannt (vgl. Penzlin 2016: 23; 83).

Mehr noch: Darwins Theorie der sexuellen Selektion ersetzt Gottvater als den allwissenden Schöpfer, der jedes Tier in seiner ihm zugewiesenen Nische gedeihen lässt. Sie ersetzt ihn durch die walnussgroßen Gehirne von einander begehrenden "niederen" Tieren, die ihr ganzes Leben der Suche nach Sexualpartnern widmen. Ersetzt ihn durch die sexuellen Launen weiblicher Tiere, die durch die Auswahl ihrer Sexualpartner den Verlauf der Evolution beeinflussen können (vgl. Miller 2010: 59).

8. Evolution: Fortschritt?

Das Verständnis von Evolution als eine Art Stufenleiter der Natur ist noch immer verbreitet: die Evolution als eine Abfolge kontinuierlich fortschreitender Entwicklungen, wobei ein Tier ein anderes ersetzt, wenn es einen fortschrittlicheren Evolutionsgrad erklimmt (vgl. Foley 2000: 68). Ein Verständnis, das seine Attraktivität nicht zuletzt dadurch gewinnt, weil es sich mit der religiösen Vorstellung vom Menschen als Höhepunkt und Abschluss der evolutionären Entwicklung so gut vereinbaren lässt.

Aber es gibt keinen der Evolution inhärenten Fortschrittsmechanismus. Neue Merkmale von Organismen und die Entstehung neuer Arten resultieren vielmehr aus Anpassungen an die jeweiligen Anforderungen der Lebensräume und des Nahrungsangebotes. "Verschiedene Arten verkörpern alternative Antworten auf die vielfältigen Umweltbedingungen" (Foley 2000: 70). "Der zentrale Punkt bei der Evolution ist nicht der «Fortschritt», sondern das Hervorbringen verschiedenartiger Formen" (Foley 2000: 75). Selbst eng verwandte Arten weisen Variationen ihrer gemeinsamen Grundmerkmale auf und ermöglichen dadurch die Nutzung ihrer Fähigkeiten zur optimalen Bewältigung spezifischer Bedingungen der Umwelt und zur Anpassung an völlig verschiedene ökologische Nischen.

Erst die natürliche Selektion bewirkt, dass die besser angepassten Individuen aufgrund der optimaleren Nutzung der begrenzten Ressourcen mehr Nachkommen hinterlassen als die weniger gut angepassten, wodurch sich die Zusammensetzung der Population entsprechend verändert.

Aber die Stellung des am besten Angepassten ist heikel: sie ist vorübergehender Natur, kein dauerhafter Zustand (vgl. Carroll 2008: 38; 67). Die natürliche Selektion wirkt nur in der Gegenwart, auf Dinge, die hier und jetzt nützlich sind. Sie plant nicht und schaut nicht voraus. "Das Leben im Hier und Jetzt hat einen gefährlichen Nachteil: Wenn die äußeren Umstände sich so schnell ändern, dass keine Anpassung möglich ist, wenn also nicht schnell genug ein neuer Geeignetster entstehen kann, sind Populationen und Arten in großer Gefahr" (Carroll 2008: 38).

In längeren Zeiträumen betrachtet ist der Wandel der Umweltbedingungen die Regel, nicht die Ausnahme. Das Aussterben der Dinosaurier ist nur ein Beispiel für die katastrophalen Folgen, die ein abrupter Wandel der Umwelt für eine Spezies haben kann.

"Der tatsächliche Evolutionsablauf besteht aus einer endlosen Entwicklung und Bereitstellung neuer Möglichkeiten, um bestimmte Dinge zu tun, Alternativen und neue Strategien zu erproben, wenn die äußeren Bedingungen schwanken und sich ändern; all das wird durch die natürliche Selektion vorangetrieben. Die Scheuklappen unserer retrospektiven Sichtweise bewirken, dass wir in diesen Vorgängen ein Muster beständigen Fortschreitens erkennen wollen, gleichsam wie ein Pfeil, der nur in eine Richtung durch die Zeit fliegt. Der zentrale Punkt bei der Evolution ist nicht der »Fortschritt«, sondern das Hervorbringen verschiedenartiger Formen" (Foley 2000: 74f).

9. Evolution: Ziel und Zweck?

Einige der bemerkenswertesten Erkenntnisse, die uns das Verständnis der Evolution vermittelt, sind Einsichten darin, was Evolution nicht ist oder tut, weil ihre Mechanismen und Ergebnisse unserer Denkweise und unserer Intuition so sehr zuwiderlaufen:

  • sie plant nicht, das heißt sie ist nicht vorausschauend
  • sie ist nicht geradlinig, das heißt sie verläuft nicht in eine einzige Richtung
  • sie hat kein Ziel, das heißt es gibt keine Entität, die Ziele setzen könnte

"Evolutionsereignisse treten wegen der Lebensbedingungen ein, mit denen Organismen in ihrer jeweiligen Umgebung zurechtkommen müssen. Sie sind nicht »auf dem Weg nach irgendwohin«, sondern sie passen sich an" (Foley 2000: 77). Nichts hindert Evolutionsprozesse daran (abgesehen von entwicklungsbiologischen Zwängen und Barrieren (vgl. Zrzavy u. a. 2013: 352), "sich einfach umzukehren, wann immer die unstete Umwelt dies begünstigt" (vgl. Tattersall 2002). "Der Mensch ist weder das Ziel noch der Endpunkt der Evolution. – Die Zukunft ist offen" (Penzlin 2016: 34).

"Das Leben hat ohne Sinn begonnen. Die ersten Organismen auf der Erde, die wir identifizieren können, waren Bakterien. (…) Ein Bakterium vermehrt sich nicht, weil es ein Verlangen danach hat. Es kann nicht anders als das zu tun, was in seinem DNS-Programm steht. Und dieses Programm beginnt zu laufen, sobald eine neue Zelle geboren ist. (…) Die enorme Vielfalt dessen, was wir um uns herum sehen, ist komplett aus einfachen Dingen entstanden. Komplexere Lebewesen wie Delfine und Menschen haben sich nicht aus einem bestimmten Grund entwickelt. Das Leben ist nichts als die Konsequenz einer bemerkenswerten Abfolge von molekularen Interaktionen" (Moore 2014: 78).

"Die belebte Welt, so wie wir sie heute ringsum erblicken, (ist) nur eine unter vielen möglichen (…). Ihre gegenwärtige Zusammensetzung ist ein Resultat der Erbgeschichte. Sie hätte auch ganz anders aussehen können, ja es hätte sehr wohl sein können, dass es sie nie gegeben hätte!" (Jacob 1984: 27)

Der Religion entziehen diese Erkenntnisse die Existenzgrundlage, so dass kreative Theologen der katholischen Kirchen das pseudowissenschaftliche Konzept der "theistischen Evolution" erfunden haben. Danach leben wir in einer Welt, die von einem Geist durchwirkt ist und von diesem Geist auf ein bestimmtes Ziel hin in rechter Weise geordnet wird.

Tatsächlich ist Evolution, wie oben beschrieben, aber "nur die Lösung momentaner Probleme, die sich daraus ergeben, dass sich die Umwelt ändert" (Zrzavý u. a. 2013: 448). Dabei verwendet Evolution immer "das, was ihr zur Verfügung steht, denn etwas anderes kann sie nicht" (Zrzavý u. a. 2013: 448; vgl. Coen 2012: 67-71).

Francois Jacob verglich Evolution deshalb mit einem Bastler: "Im Gegensatz zum Ingenieur schafft die Evolution nichts, was komplett neu wäre. Sie bedient sich des bereits Vorhandenen, indem sie ein System entweder so umwandelt, dass es eine neue Funktion erhält, oder mehrere Systeme so kombiniert, dass ein komplexeres System entsteht. Wenn wir einen Vergleich ziehen wollen, haben wir es hier nicht mit Ingenieursarbeit, sondern mit einer Bastelei oder mit Flickwerk zu tun . Während der Ingenieur mit Rohstoffen und Werkzeugen arbeitet, die genau zu seinem Projekt passen, arbeitet der Bastler mit allem möglichen Krimskrams … Er nimmt, was er vorfindet, alte Pappstücke, Schnurenden, Holz- und Metallabfälle, um irgendein Objekt zusammenzustoppeln, das die Aufgabe erfüllt. Der Bastler sucht sich ein Objekt, das sich zufällig in seinem Besitz befindet, und verleiht ihm eine überraschende Funktion. Aus einer alten Autofelge baut er einen Ventilator und aus einem kaputten Tisch einen Sonnenschirm" (1982, zitiert nach Kandel 2014: 258 f).

Jacobs Bastler-Analogie zeigt jedoch, wie schwer es für uns ist, Evolutionsabläufe zu beschreiben, ohne dabei Anthropomorphismen einzustreuen: Evolution hat kein handelndes Subjekt, weder einen Bastler noch einen Ingenieur. Fast scheint es, als gerieten wir an die Grenzen unserer sprachlichen Ausdrucksfähigkeit, weil die Sprache selbst uns aufgrund ihrer Subjektbezogenheit ständig nötigt schiefe Ausdrucksweisen zu verwenden. "Die Sprache handelt von Subjekten. Alle Verben setzen voraus, dass bekannt oder doch erkennbar ist, auf wen oder was sie sich beziehen. Viele Verben, deren Gebrauch wir weder vermeiden können noch vermeiden wollen, verweisen ihrem Alltagsverständnis nach auf einen bewusstseinsfähigen Träger der Operation" (Niklas Luhmann, in: Berghaus 2011: 35).

Evolution "verwendet denselben Baukasten von Genen immer und immer wieder auf leicht abgewandelte Weise. Ihr Vorgehen beruht darauf, dass sie die vorhandenen Bedingungen verändert, dass sie Zufallsmutationen der Genstruktur durchprobiert, Mutationen, die modifizierte Spielarten eines Proteins erzeugen oder die Verwendung dieses Proteins in den Zellen verändern. Die meisten Mutationen sind neutral oder abträglich und bewähren sich nicht im Test der Zeit. Nur die seltenen Mutationen, die dem Überleben und der Reproduktionsfähigkeit eines Organismus zuträglich sind, werden in der Regel beigehalten" (Kandel 2014: 258).

"Nüchtern betrachtet ist die Evolution in dieser Hinsicht ein sehr unvollkommenes System, das unaufhörlich Kompromisslösungen zusammenschustert" (Foley 2000: 84). "Oft können wir uns eine »bessere« Lösung vorstellen als die von den Organismen tatsächlich umgesetzte, aber was wir uns vorstellen oder nicht vorstellen können, spielt hier keine Rolle. Die Organismen haben bei der Auswahl der Lösungen nicht die notwendige Freiheit, eben weil sie die historische Kontinuität nicht unterbrechen können, die sie mit ihrer Vergangenheit, also mit ihren Vorfahren verbindet" (Zrzavý u. a. 2013: 25; vgl. Carroll 2008: 198).

Richard Dawkins vergleicht dass, was Evolution leisten muss, mit dem Umbau eines propellergetriebenen Doppeldeckers zu einem Jumbojet, wobei während des Umbaus die funktionelle Kontinuität niemals unterbrochen werden darf. "Das heißt, das Flugzeug müsste stets fliegen können, so wie alle aufeinanderfolgenden Mitglieder eines Evolutionsprozesses stets lebensfähig sein müssen" (Zrzavý u. a. 2013: 345).

Evolution durch natürliche Selektion ist ein zweistufiger Prozess. Die erste Stufe, die Entstehung genetischer Variation durch Mutation (Kopierfehler bei der Replikation) ist rein zufällig. "Der Weg der Evolution wird den Lebewesen, diesen äußerst konservativen Systemen, durch elementare Ereignisse mikroskopischer Art eröffnet, die zufällig und ohne jede Beziehung zu den Auswirkungen sind, die sie in der teleonomischen Funktionsweise auslösen können. So mancher ausgezeichnete Geist scheint auch heute noch nicht akzeptieren oder auch nur begreifen zu können, dass allein die Selektion aus störenden Geräuschen das ganze Konzert der belebten Natur hervorgebracht haben könnte" (Monod 1971: 149). Es ist die "vollständige Unabhängigkeit zwischen den Ereignissen, die in der Replikation der genetischen Botschaft einen Fehler hervorrufen können, und dessen funktionalen Auswirkungen" (Monod 1971: 143). "Der reine Zufall, nichts als der Zufall, die absolute, blinde Freiheit als Grundlage des wunderbaren Gebäudes der Evolution" (Monod 1971: 141). "Von allen Erkenntnissen aller Wissenschaften ist es diese, die einen jeglichen anthropozentrischen Standpunkt am stärksten trifft und die für uns als stark teleonomisches Wesen gefühlsmäßig am wenigsten annehmbar ist" (Monod 1971: 142).

Am Beginn der Evolution der Organismen steht somit die Unvollkommenheit ihrer Erhaltungsmechanismen (vgl. Monod 1971: 146). Erst die zweite Stufe der natürlichen Selektion zeigt durch den relativen Fortpflanzungserfolg welche Organismen die geeigneteren Organismen für die jeweiligen Umweltbedingungen sind. Die zweite Stufe ist also nicht zufällig. Durch die reproduktiv erfolgreicheren Organismen verändert sich die Zusammensetzung des Genpools der Population. "Wenn eine Mutante nur ein Prozent mehr Nachkommen hervorbringt als ihre Konkurrenten, steigt ihr Anteil an einer Population in knapp über 4000 Generationen von 0,1 auf 99,9 Prozent" (Pinker 2012: 207; vgl. Coen 2012: 37).

10. Menschwerdung

In der Salzburger Erklärung (2015) heißt es, dass "das biblische Schöpfungszeugnis vom Menschen als Fundament einer »Ökologie des Menschen«" dienen soll und dass der Mensch von Gott als "Krone der Schöpfung" bestimmt ist.

Für uns dagegen ist selbstverständlich: die "Menschwerdung" ist "das »normale« Produkt der üblichen Evolutionskräfte – die den Menschen nur zu einer von vielen hunderttausend einzigartigen biologischen Arten machen" (Gamble u. a. 2016: 46). Es geht um eine technisch-sachliche Frage, die Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung ist – es geht nicht um Philosophie, Theologie oder Glaubensfragen (vgl. Foley 2000: 20).

Es geht um die Erklärung, warum die Hominidenstammlinie auf diesem Planeten zu einer ganz bestimmten Zeit an einem ganz bestimmten Ort entsteht (vgl. Foley 2000: 123). Warum zweigte eine ganze Population von der Stammlinie der Gorillas und Schimpansen ab? Das ist zunächst vor allem die Frage danach, welche Veränderung der Habitate afrikanischer Menschenaffen vor ca. 6 Millionen Jahren zu Verhaltensänderungen von Individuen hinsichtlich ihrer bevorzugten Fortbewegungsweise führte: die dominierende vierfüßige Fortbewegungsweise mischte sich zunehmend mit der zweibeinigen. Nach der Ausbildung der entsprechenden neuen anatomischen Strukturen führte sie schließlich zum aufrechten Gang (vgl. Foley 2000: 98; 85). Der aufrechte Gang ist wahrscheinlich der elementare Ausgangspunkt für alle weiteren Eigenschaften, die uns zu Menschen machen. Er eröffnete den Hominiden ein ganzes Spektrum neuer Möglichkeiten, die sie in verschiedenen ökologischen Zusammenhängen weiter ausbildeten. "Einer dieser Pfade führte zur Gattung Homo, der Spielart mit den großen Gehirnen" (Foley 2000: 74).

Die durch die natürliche Selektion angetriebenen evolutionären Entwicklungen gehen aus der Anpassung an die jeweiligen Anforderungen der verschiedenen Lebensräume hervor. Deshalb ist es völlig verfehlt, darin eine Hierarchie beständigen Fortschritts, eine Stufenleiter der Natur zu sehen (Foley 2000: 68).

Uns (Homo sapiens, anatomisch moderne Mensch, Jetztmensch) als "Krone der Schöpfung" zu bezeichnen, ignoriert die Tatsache, dass andere Hominidenarten wie die Australopithecinen sehr "erfolgreich" waren und über mehrere Millionen Jahre existierten. Wir sind dagegen noch immer die "Newcomer", die gerade einmal seit 200.000 Jahren existieren. Und zu häufig entsteht der Eindruck, dass vor allem Religionen fleißig daran arbeiten, dass wir auch schnell wieder verschwinden. Leben kann sehr wohl ohne uns existieren. Immerhin entstand es auf der Erde bereits vor 3,5 Milliarden Jahren. Die Primaten, jene biologische Ordnung, der wir Menschen angehören, entwickelte sich erst vor 60 Millionen Jahren. Wir sind also buchstäblich erst in der letzten Sekunde auf der Bildfläche erschienen. Ob unsere Spezies "erfolgreich" sein wird, ist hinsichtlich der Zeitprobe noch lange nicht entschieden (vgl. Foley 2000: 47; 108).

Uns sollte zu denken geben, dass die Evolution Adaptionen, die große Überlebensvorteile mit sich bringen, typischerweise mehrfach in verschiedenen Abstammungslinien entwickelt (sog. Konvergenzevolution) (vgl. Miller 2010: 29; Carroll 2008: 36; 149). Das große Gehirn, das für unsere Spezies so charakteristisch ist, blieb dagegen bislang einzigartig und ist erst vor kurzer Zeit entstanden. Sind wir am Ende gar die Zukurzgekommenen?