Wie Papst Franziskus die "Kapitalismuskritik" entsorgt

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Nun gibt es auch noch einen Film von Wim Wenders mit Franziskus. Bei einem Regisseur, dem ein Ehrendoktortitel in Theologie verliehen wurde, ist das wenig verwunderlich. Aber auch bei vielen, die sonst eher kaum Positives an der katholischen Kirche entdecken können, genießt Franziskus Sympathie. Demgegenüber lautet die These dieses Artikels: Vorbehalte, die Papst Franziskus gegenüber der kapitalistischen Wirtschaft formuliert, sind nicht mit Gesellschaftskritik zu verwechseln. Er meint sie anders: Als Erinnerung daran, dass die Welt nie der Boden des Glückes sein kann, der Christenglaube aber schon.

Negative Phänomene des Kapitalismus gelten Papst Franziskus als Folge einer falschen Orientierung, die "das Materielle" dem Glauben vorzieht. "Das eigene Glück darin zu suchen, materielle Dinge zu besitzen, ist ein sicherer Weg, um nicht glücklich zu sein." (Papst Franziskus via Twitter am 15.09.13) "Fragen wir uns, ob unser Leben wirklich von Gott erfüllt ist. Wie viele Dinge ziehen wir ihm tagtäglich vor?" (via Twitter am 17.05.13) "Die Logik der Welt treibt uns zum Erfolg, zur Herrschaft und zum Geld; die Logik Gottes zur Demut, zum Dienen und zur Liebe." (via Twitter am 02.06.13) "Das Reich Gottes gehört jenen, die ihre Sicherheit in die Liebe Gottes setzen und nicht auf materielle Dinge." (via Twitter am 22.11.13)

Zwar heißt es in "Evangelii Gaudium, Apostolisches Schreiben des Heiligen Vaters", veröffentlicht am 24.11.13: "Diese Wirtschaft tötet. Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht. Es ist nicht mehr zu tolerieren, dass Nahrungsmittel weggeworfen werden, während es Menschen gibt, die Hunger leiden. Das ist soziale Ungleichheit." Viele Linke können sich vor Freude über den Satz "diese Wirtschaft tötet" nicht mehr einkriegen und verhalten sich wie der Fisch zum Köder.

Den Kapitalismus begreift Papst Franziskus als Resultat einer Einstellung zu ihm: "Um einen Lebensstil vertreten zu können, der die anderen ausschließt, oder um sich für dieses egoistische Ideal begeistern zu können, hat sich eine Globalisierung der Gleichgültigkeit entwickelt. Fast ohne es zu merken, werden wir unfähig, Mitleid zu empfinden gegenüber dem schmerzvollen Aufschrei der anderen, … noch sind wir daran interessiert, uns um sie zu kümmern, als sei all das eine uns fernliegende Verantwortung, die uns nichts angeht. Die Kultur des Wohlstands betäubt uns, und wir verlieren die Ruhe, wenn der Markt etwas anbietet, was wir noch nicht gekauft haben" (Evangelii Gaudium, Apostolisches Schreiben des Heiligen Vaters, veröffentlicht am 24.11.13).

Für die kapitalistische Ökonomie und ihre Notwendigkeiten macht Papst Franziskus einen "Lebensstil" und eine "Kultur" verantwortlich. Kapitalismus als ein System, in dem bestimmte Widersprüche die fortdauernde Akkumulation des Kapitals erforderlich machen, kommt hier nicht vor. Dabei besteht eine zentrale Besonderheit der kapitalistischen Sorte des Wirtschaftens in Folgendem: Die Steigerung der Produktivität in ihr führt zu Problemen und diese wiederum zu einer innerhalb des Kapitalismus unentrinnbaren Steigerungslogik ("mehr desselben"). (Wer die nun folgende kurze Begründung für diese These überspringen möchte, lese am Anfang des nächsten Absatzes weiter.) Eine höhere Produktivität der Arbeit erfordert häufig teure Maschinen und Technologien. Der Anteil an Kapital, der für die Technik aufgewendet wird, nimmt zu. Der Anteil der Ausgaben für die lebendige Arbeit sinkt und damit verringert sich auch der Mehrwert, der allein aus der lebendigen Arbeit stammt. Den durch den geringeren Anteil von lebendiger Arbeit (an den Gesamtaufwendungen für die Produktion) verursachten Fall der Profitrate (als Verhältnis zwischen Mehrwert und insgesamt aufgewandtem Kapital) müssen Kapitale durch Zunahme der Profitmasse zu kompensieren versuchen. Die Nachfrage nach Arbeit muss absolut zunehmen, weil sie relativ sinkt. Das ist die primäre Ursache für Wachstum in der kapitalistischen Wirtschaft. "Gier" oder Bereicherungsstreben sind nicht die Ursachen der Kapitalakkumulation. Sie resultiert aus Widersprüchen, deren Bewegungsform sie bildet. "Der innere Widerspruch sucht sich auszugleichen durch Ausdehnung des äußern Feldes der Produktion" (Karl Marx: Das Kapital, Bd. 2. MEW 24, S. 255).

Eine Auseinandersetzung mit den immanenten Notwendigkeiten der kapitalistischen Ökonomie und mit der mit ihr einhergehenden Reproduktion ihrer Voraussetzungen findet bei Papst Franziskus nicht statt. Er skandalisiert vielmehr bestimmte negative Phänomene (z. B.: der alte Mann, der auf der Straße leben muss und erfriert). Unter der Hand wird die kapitalistische Ökonomie in eine Frage des Lebensstils und der Kultur verwandelt. Die Gleichgültigkeit gegenüber bestimmten negativen Phänomenen im Kapitalismus gilt Franziskus als dessen Ursache. Wenn nur mehr "Mitleid" empfunden werde und weniger "Egoismus" herrsche, könne alles gut werden.

Zentrale Strukturmerkmale des Kapitalismus sind: Konkurrenz, Privateigentum (inkl. Trennung der Lohnabhängigen vom Eigentum an Produktionsmitteln), Vernetzung der Wirtschaftsaktivitäten hinter dem Rücken der Akteure via Markt, Verwertung des Kapitals als zentrales Kriterium, Existenz starker negativer Sanktionen (bei unterdurchschnittlicher Profitabilität droht Ruin der Firma) usw. Einerseits existiert ein Unbehagen über Phänomene, die undeutlich mit dem Kapitalismus in Zusammenhang gebracht werden. Das bildet den Grund dafür, sich vage kapitalismuskritisch zu äußern. Andererseits weiß dasselbe Bewusstsein meistens keine Antwort auf die Frage, wie ohne die für den Kapitalismus charakteristischen Strukturmerkmale in einer modernen Gesellschaft gewirtschaftet werden kann. Zu solcher selbstwidersprüchlicher "Kapitalismuskritik" passt die Perspektive, unter Voraussetzung der weiter bestehenden Grundstrukturen des Kapitalismus kompensatorisch zu ihm sozialstaatlich oder durch private oder kirchliche Wohltätigkeit dafür zu sorgen, dass seine allerschlimmsten "Auswüchse" weniger schlimm ausfallen.

Nicht die Zugzwänge, die innerhalb einer entwickelten Marktwirtschaft das Geld zum allgemeinen Mittler machen, die Vermehrung des Geldbesitzes erfordern, die Verwertung des Kapitals durch Lohnarbeit als Mittel dafür notwendig werden lassen – nicht diese systemische Eigenlogik sind für Papst Franziskus das Problem. Nicht das Begreifen einer subjektlosen Struktur, sondern – wie bei vielen anderen auch – das Benennen eines Pseudosubjekts, das den Kapitalismus lenke und für ihn verantwortlich sei, und dessen Anklage steht im Zentrum. Christen präsentieren eine vergleichsweise fundamentale Variante dieses Vorgehens. Sie verorten den Sündenfall weit vor dem Kapitalismus. Franziskus verweist erwartbar auf "die Anbetung des antiken goldenen Kalbs (vgl. Ex 32,1–35)" (Evangelii Gaudium). "Die Menschen" hätten Geld zum "neuen Götzen" erhoben (bd.). Um Kapitalismuskritik als Begreifen der Ursachen und Gründe dafür, warum er als "alternativlos" gilt, und um die Darstellung einer Systemalternative geht es nicht. (Vgl. dazu Meinhard Creydt: Wie der Kapitalismus unnötig werden kann. Münster 2016 (2. Aufl.) und Ders.: 46 Fragen zur nachkapitalistischen Zukunft. Erfahrungen, Analysen, Vorschläge. Münster.)

"Der Papst liebt alle, Reiche und Arme, doch im Namen Christi hat er die Pflicht daran zu erinnern, dass die Reichen den Armen helfen, sie achten und fördern müssen" (Evangelii Gaudium). Der Therapievorschlag, den Papst Franziskus unterbreitet, passt zu den Beispielen, die er für negative Folgen der kapitalistischen Wirtschaft nennt. Für Franziskus handelt es sich nicht um notwendige Folgen der Logik dieser Wirtschaft, sondern um Folgen, die vermeidbar wären, wenn alle, die mehr haben als andere, sich an der Devise "Hilf den Armen" orientieren und für Wohltätigkeitszwecke spenden. So können "die Reichen" sich nützlich machen, indem sie den Armen Gutes tun. Die Armen allerdings müssen dafür arm bleiben. Nur unter dieser Voraussetzung kann die segensreiche Selbstüberwindung – der immer wieder jeweils neu zu erkämpfende und nie anhaltende Sieg des Mitleids über den Egoismus – stattfinden.

Denn darum geht es Papst Franziskus: Der Mensch ist als Mensch nur in Bezug auf das Gute gut. Das absolut Gute ist allein Gott. Allein die Beziehung auf ihn ermögliche den Weg des Individuums zum eigentlich Menschlichen. Ein Weg, der immer wieder bspw. durch den Rückfall in den "Egoismus" bedroht sei. "Die Finanzkrise, die wir durchmachen, lässt uns vergessen, dass an ihrem Ursprung eine tiefe anthropologische Krise steht: die Leugnung des Vorrangs des Menschen! … Hinter dieser Haltung verbergen sich die Ablehnung der Ethik und die Ablehnung Gottes." (Ebd.).

Auch hier bilden die Problemdiagnose und die Perspektive zwei Seiten einer Medaille. Kapitalismuskritik gilt Franziskus als Teilmenge einer allgemein menschlichen Verfehlung, die Menschen in ihrer Abkapselung gegen Gott naheliegt. Sie verabsolutieren etwas Irdisches – hier: das Geld – und begehen damit die allergrößte Sünde. Sie besteht darin, Gottes Bedeutung zu leugnen.

Franziskus plädiert nicht für grundlegende strukturelle Veränderungen der Gesellschaft, sondern für das Gebet und den Kampf gegen das Böse. Und beides sind für den Papst ein und dasselbe: "Das Gebet vermag alles. Nutzen wir es, um Frieden in den Nahen Osten und in die ganze Welt zu bringen." (via Twitter am 07.06.14) "Den einzigen Kampf, den wir alle kämpfen müssen, ist der Kampf gegen das Böse." (via Twitter am 10.09.13). "Der Kampf gegen das Böse ist hart und langwierig; dabei ist entscheidend, mit Ausdauer und Geduld zu beten." (via Twitter am 02.11.13) "Das ist die christliche Hoffnung: Die Zukunft liegt in Gottes Hand." (via Twitter am 14.12.13) Diejenigen, die die Moral an die erste Stelle setzen, verstehen das Böse als Ursache der Probleme und als Resultat der mangelhaften Ausbreitung des guten Willens. Christen stimmen damit überein, machen aber gegenüber einer "nur-moralischen" Perspektive geltend, die gute Beziehung zu Gott sei allererst die Voraussetzung des guten Willens. Wo das "religiöse Gefühl" "Übel sieht, schreibt es sie seiner Abwesenheit zu, denn wenn es das einzige Gut ist, so kann es auch einzig das Gute erzeugen" (Marx MEW 1, 394).

Im verhängnisvollen Mangel vieler Menschen, sich nicht auf diese Perspektive einzulassen, sieht Franziskus die Ursache für alle Probleme, die solch gottlose Menschen anrichten und haben. Und die kapitalistische Wirtschaft bildet diesem Verständnis zufolge nur ein Beispiel in einer langen Reihe von Problemen. Sie gelten insofern als gleich, als sie alle auf jeweils verschiedene Art Folgen der selben Ursache (der Gottlosigkeit moderner Menschen) zeigen. Der Egoismus im Kapitalismus bildet Franziskus zufolge ein schlimmes Beispiel für die Gottesferne von Menschen. Die Abtreibung aber – das zeigt die höhere Intensität des päpstlichen Zornes – repräsentiert die durch die Missachtung Gottes charakterisierte "anthropologische Krise" in stärkerem Maße: "Im vergangenen Jahrhundert war die ganze Welt schockiert davon, was die Nazis getan haben, um die Reinheit der Rasse sicherzustellen. Heute tun wir dasselbe, nur mit weißen Handschuhen." (Papst Franziskus laut der Nachrichtenagentur ANSA über die Legalisierung von Abtreibungen in seinem Heimatland Argentinien. Junge Welt, 18.6.2018). Kurz gefasst lautet die Botschaft: Abtreibung = "Kinder-Holocaust", wie es Johannes Dyba, der frühere Erzbischof von Fulda, formulierte (Der Tagesspiegel, 23.7.2000). Er galt als fundamentalistisches enfant terrible der katholischen Kirche, Franziskus genießt bei vielen ein progressives Image. Um daran zu glauben, ist es erforderlich, bei Franziskus erstens "progressive" und "reaktionäre" "Anteile" zu unterscheiden und zweitens nicht zu begreifen, wie ein und dieselbe Denkart Franziskus’ Statements zum Kapitalismus und zur Abtreibung hervorbringt.

Zum besonderen Stellenwert, den Papst Franziskus dem Kampf gegen die Abtreibung zumisst, passen auch seine intensiven Bemühungen um "ein familienpolitisches Kampfbündnis" (Die Welt 2.11.2015). Papst Franziskus rückt die katholische Kirche mit ihren 1,2 Milliarden Katholiken in die Nähe zu den 600 Millionen Evangelikalen. "Thomas Schirrmacher, Chef-Theologe der Weltweiten Evangelischen Allianz (WEA)" betonte, "in Sachen Familie sehe der Papst mit den theologisch konservativen Evangelikalen 'viel größere Gemeinsamkeiten als beispielsweise mit den evangelischen Landeskirchen in Deutschland'" (ebd.).

Die Überbietung aller anderen Probleme durch das des Seelenheils bildet ein Essential des Christenglaubens. Jesus sagt: "Wenn dich deine Hand oder dein Fuß ärgert (dazu verleitet, eine Vorschrift Gottes zu brechen – Verf.), dann hau ihn ab und wirf ihn weg. Es ist besser, du gehst als Krüppel durchs Leben, als körperlich gesund, aber als Sünder in die Hölle geworfen zu werden" (Mt 18,8). Die Probleme in der Welt werden in einen Vergleich eingestellt, der zeigt, dass sie nicht das eigentlich Wichtige betreffen. "Die Wölfe, das Meer und die Sterne, die Pest, die Hungersnöte und die Kriege sind weniger furchtbar als der Teufel und die Sünde und der Tod des Körpers weniger als jener der Seele" (Jean Delumeau: Angst im Abendland. Reinbek bei Hamburg, 1985, S. 39). Ökonomiekritik kommt beim Oberhirten der katholischen Kirche vor als eine Illustration dafür, was alles Negatives passiert, wenn Menschen sich von Gott abkehren. Und das daraus resultierende Verderben der Seele gilt Franziskus als verheerender und zerstörerischer, als alle Schädigungen durch die Ökonomie es jemals sein können. Der Papst bringt die zitierte Kritik am kapitalistischen Wirtschaften vor, um sie richtig einzuordnen. Kapitalismuskritik wird nicht frontal angegriffen, sondern aufgegriffen. Franziskus wendet sich auch an diejenigen Zeitgenossen, die Skepsis gegenüber dem Kapitalismus empfinden. Ihnen zeigt er, wie sie ihr eigenes Unbehagen besser verstehen können, als es ihnen im ungläubigen Zustand möglich ist. Das tiefe und wahrhafte christliche Verständnis des Kapitalismus versteht sich als fundamentaler als alle Fragen, die sich bei der Einrichtung einer bloß irdischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung stellen. Es richtet die Aufmerksamkeit auf das, was nicht von dieser Welt ist, von dem aber alles in der Welt abhänge. Die Argumentationskette von Papst Franziskus lautet: Wer von der Wirtschaft, die tötet, spricht, ohne sie als Resultat bzw. Teilmenge der Kultur, die tötet, zu verstehen, erweist sich als kurzsichtig. Wer nicht begreift, dass die Kultur des Lebens (im Gegensatz zur Kultur des Todes) nur eine Kultur des Glaubens an Gott sein kann, erweist sich nicht nur als oberflächlich. Sondern bleibt Tier, wie es der berühmte Theologieprofessor Dietrich Ritschl prägnant in seinem Aufsatz "Menschwerdung der Tiere durch das Reden mit Gott" formuliert (in: Michael Graf u. a. (Hg.): Was ist der Mensch. Stuttgart 2004 (Festschrift für Wolfgang Lienemann)).