67. Berlinale

Religionskritik, Rassismus und politische Debatte im Kinosaal

Eine junge algerische Journalistin taucht mit der Kamera ein in die Welt des slawistischen Islam, zwei junge Filmemacher erkunden den Kosmos einer jungen schwarzen Frau im rassistischen Amerika und eine französische Nachwuchsfilmerin begleitet zwei Schwestern aus der Minderheit der Jenischen in ihrem Alltag. Außerdem präsentiert die Berlinale Filme zu den politischen Folgen der Wirtschaftskrise in Südeuropa und zum Krieg in der Ukraine sowie einen hochbrisanten friedenspolitischen Appell.

Unsere Top-5-Filme zum Themenkomplex RELIGIONSKRITIK / RASSISMUS

Tahqiq fel djenna / Investigating Paradise von Merzak Allouache

Die junge algerische Journalistin Nedjma stellt Recherchen zum Bild vom Paradies im Islam an. Besonders interessiert sie sich für die plastischen Schilderungen des Paradieses, das salafistische Prediger entwerfen, um junge Männer in Algerien für den Dschihad anzuwerben. Zusammen mit ihrem Kollegen Mustapha findet sie verstörend blumig ausgeschmückte Videopredigten und entscheidet sich, das Phänomen genauer zu untersuchen. Sie reist durchs Land und führt Gespräche mit einer Vielzahl von Menschen, darunter scharfsinnige Intellektuelle, naive junge Männer, aufgeklärte religiöse Gelehrte und politische Aktivist*innen. Es wird deutlich, dass die Globalisierung zur Entwicklung eines entfesselten Marktes der Religionen beigetragen hat. Das Paradies wird zum begehrten Konsumprodukt, mit viel Geld beworben von Wahhabiten in einem Machtkampf um die Deutungshoheit über den Koran: Auf Erden sind Sex und Drogen verboten, aber im Himmel gibt es Frauen und Wein. Regisseur Merzak Allouache, selbst Algerier, verknüpft inszenierte Szenen in Schwarz-Weiß mit dokumentarischen Interviews. So entsteht eine vielschichtige Analyse der Gefahren, die vom Salafismus und seinem Koranverständnis ausgehen.

Menashe von Joshua Z. Weinstein

Im jüdisch orthodoxen Borough Park in Brooklyn bestimmen Religion und Tradition immer noch Alltag und Leben. Schon durch sein Aussehen fällt der Titelheld auf. Warum er nicht den hohen Hut und den schwarzen Mantel wie die anderen Männer trägt, will sein etwa zehnjähriger Sohn Rieven wissen. Auch die Schläfenlocken klemmt sich Menashe hinter die Ohren, so dass sie kaum mehr zu sehen sind. Permanent weicht der junge Witwer vom vorgeschriebenen Weg ab. Die Gemeinde will ihn so schnell wie möglich wieder verheiraten. Er kann sich aber keine Zukunft mit einer anderen Frau vorstellen und brüskiert die ihm zugeführten Kandidatinnen. Da er nicht genug Geld verdient und seinen Haushalt nicht allein führen kann, beansprucht ein Onkel die Erziehung von Menashes Sohn. Der tolpatschige Held kommt als orthodoxe Variante von diversen Woody-Allen-Figuren daher oder als unorthodoxe Ausgabe eines Hiob. Er entwickelt seine eigenen Lebensweisheiten, zieht aber gleichzeitig stets das Unglück an. Sein Drama wie auch seine Komik entwickelt dieser Film aus präzise beobachteten Details des chassidischen Regelwerks. So kann das falsch zubereitete traditionelle Kugelgericht in ein wahres Desaster münden.

I Am Not Your Negro von Raoul Peck

Im Juni 1979 beginnt der bedeutende US-Autor James Baldwin seinen letzten, unvollendet gebliebenen Text "Remember This House". Mit persönlichen Erinnerungen an seine drei ermordeten Bürgerrechtler-Freunde Malcolm X, Medgar Evers und Martin Luther King und Reflexionen der eigenen, schmerzhaften Lebenserfahrung als Schwarzer schreibt er die Geschichte Amerikas neu. Raoul Peck inszeniert die 30 bislang unveröffentlichten Manuskriptseiten mit einer fulminanten Collage von Archivfotos, Filmausschnitten und Nachrichten-Clips: die Boykottinitiativen und den Widerstand gegen die Rassentrennung in den 1950er- und 60er-Jahren, die Unsichtbarkeit von Schwarzen in den Kinomythen Hollywoods, afroamerikanische Proteste gegen weiße Polizeigewalt bis in die jüngste Gegenwart, Baldwins kompliziertes Verhältnis zur Black-Power-Bewegung, den paranoiden Blick eines FBI-Berichts auf dessen Homosexualität. Ein prägnanter und verstörender Essay über die bis heute vom Mainstream weitgehend ausgeblendete Wirklichkeit schwarzer Amerikaner. Samuel L. Jacksons Stimme verleiht der poetisch-meditativen Sprache Baldwins einen angemessenen Ausdruck.

Strong Island von Yance Ford

Strong Island

Sie werde keine weiteren Aussagen zum Mord an William Ford machen und stehe auch für den Dokumentarfilm nicht zur Verfügung, sagt eine Beamtin der Staatsanwaltschaft zu Beginn des Films am Telefon zu Yance Ford. William war Yance Fords Bruder; seine Ermordung 1992 hat die Familie in eine Schockstarre versetzt. Nicht nur weil der junge Afro-Amerikaner von einem weißen Automechaniker aus offenbar nichtigem Anlass erschossen wurde, sondern auch wegen dem, was folgte. Mit subjektiver Kamera schildert Ford die Geschichte einer schwarzen Mittelschichtfamilie in einem Amerika, das nach wie vor von Ungerechtigkeit und Rassismus bestimmt ist. Er legt ein filmisches Puzzle an, bei dem sich die einzelnen Teile nicht zusammenfügen können. In einer Verbindung aus persönlichem Essay, detektivischer Suche und dokumentarischen Interviews mit Angehörigen und Freunden zeigt er das private und politische Stimmungsbild eines Landes von Ungleichen zu Zeiten Obamas. Konzentriert und oft in minimalistischer Formensprache erzählt Ford von der schwelenden Wut, der Trauerarbeit, von seinem eigenen Coming-out als Transgender – und von der Relativität von Chancengleichheit.

For Ahkeem von Jeremy S. Levine, Landon Van Soest

Daje ist 17 Jahre alt, so widerspenstig und verträumt wie ihre Altersgenossinnen anderswo auf der Welt. Wie ernst es um ihre Zukunft steht, das ahnt man zwar, als Daje mit ihrer Mutter zum Jugendrichter muss, weil sie wegen Aufsässigkeit von der Schule geflogen ist und nur noch eine Chance bekommt. Doch wirklich begreifen lässt sich ihre Situation erst allmählich: wenn man auf ihrem Schulheft die vielen Namen von ihren Freunden sieht, mit dem Kuli gekritzelt – dahinter ein R.I.P. und ein frisches Datum. Wenn Daje mit ihrem Freund darüber redet, dass sie – oder er – vielleicht auch so jung sterben werden? "For Ahkeem" erforscht den Kosmos einer jungen schwarzen Frau in St. Louis, Missouri, unweit von Ferguson, wo im August 2014 Michael Brown erschossen wurde. Aus einer strikt persönlichen Sicht erzählt der Film von ihrem Aufwachsen im heutigen US-Amerika, von den für sie vorgezeichneten Wegen, den verrammelte Backsteinhäuser säumen. Aber auch von Dajes Talent, weder als Opfer noch als "Musterschülerin" zur beeindruckenden Protagonistin in einem Dokumentarfilm zu avancieren, der ihr kompliziertes Leben eher wie ein bewegender Spielfilm denn als Sozialreportage zeigt.