Israel hat gewählt, zum vierten Mal in zwei Jahren. Passiert ist das Undenkbare: Der nächste Premierminister heißt nicht Benjamin "Bibi" Netanyahu. Die neue Koalition vereint die unterschiedlichsten Weltanschauungen, zum ersten Mal ist eine unabhängige arabische Partei an der Regierung beteiligt. Was bedeutet die Wahl für die Privilegien der streng Orthodoxen?
Die neue Koalition in Jerusalem, bestehend aus acht Parteien, könnte ideologisch kaum diverser sein. Beteiligt sind zentristische (Blue and White; Yesh Atid) und sozialdemokratische (Labor; Meretz) Parteien, die national-liberale Partei New Hope, die säkular-nationalistische Partei Yisrael Beiteinu, die neurechte Allianz Yamina sowie die arabische Partei Ra'am, die allerdings kein Ministerium besetzt. Eine umfangreiche Erhebung im März zeigte unter anderem, dass die israelische Bevölkerung der Regierungsbeteiligung einer arabischen Partei deutlich zugeneigter ist als noch vor zwei Jahren.
Eine Mehrheit, dünn wie Papier
Die Vertreter:innen dieses politischen Potpourris vereint ein einziges Anliegen: Benjamin Netanyahu aus dem Amt zu drängen. Und das ist der Koalition gelungen, wenngleich mit hauchdünner Mehrheit. Von den 120 Sitzen der Knesset, des israelischen Parlaments, hält das selbsternannte "Change-Government" gerade einmal 61. Damit wird jede Abstimmung und jeder Gesetzesvorschlag unweigerlich zur Hängepartie, die Koalition steht ab Tag Eins auf der Kippe.
Zwei Männer, die sich im Amt des Premierministers abwechseln, müssen dieses Kartenhaus nun zusammenhalten: Naftali Bennett von der Partei Yamina (deutsch etwa: "nach rechts") und Yair Lapid, Vorsitzender von Yesh Atid (deutsch: "es gibt eine Zukunft"). Bennett hat das beeindruckende politische Kunststück vollbracht, die ersten zwei Jahre das Amt des Premierministers zu bekleiden, obwohl seine Partei lediglich sechs der 120 Sitze innehat.
Naftali Bennett und die Siedlungsbewegung
Eine Erklärung hierfür liefert Bennetts politische Karriere. Nachdem er Millionen in der Softwarebranche verdient hatte, führte Bennett von 2006 bis 2008 Netanyahus Wahlkampfteam. Er war federführend beteiligt an den Positionen, mit denen Netanyahus Partei Likud zu den Wahlen im Jahr 2007 antrat. 2010 wurde Bennett für zwei Jahre zum Generaldirektor des Yesha Council ernannt, einer Dachorganisation der kommunalen Verwaltungen der jüdischen Siedlungen im Westjordanland.
Zwischen 2013 und 2015 bekleidete Bennett erst das Amt des Wirtschaftsministers, dann das des Bildungsministers und war gleichzeitig Minister für Diaspora-Angelegenheiten. Nach dem Bruch mit Likud im Jahr 2018 gründete Bennett einige neurechte politische Initiativen, die schließlich in die jetzt mitregierende Parteienallianz Yamina übergingen.
In seiner Zeit als Minister unter Netanyahu stach Bennett immer wieder mit kontroversen Aussagen hervor. Zum Beispiel verkündete Bennett anno 2013: "Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, für immer, um einen Palästinenserstaat auf israelischem Boden zu verhindern." Im gleichen Jahr votierte Bennett gegen die Freilassung von 104 palästinensischen Gefangenen, darunter auch solche mit israelischer Staatsangehörigkeit. "Terroristen sollten getötet werden, nicht freigelassen", begründete er seine Entscheidung.
Vor diesem Hintergrund scheint es illusionär, dass sich die unter Netanyahu geführte Siedlungspolitik substantiell verändern wird. Bennett hat deutlich gemacht, dass es ihm primär um das geographische Israel geht, wie es in der Tora beschrieben ist. Diese Position lässt erfahrungsgemäß wenig Spielraum für Kompromisse.
Der politische Einfluss der Charedim
Was sich allerdings durchaus verändern könnte, sind manche politische Privilegien, welche die Charedim, die streng orthodoxen Jüd:innen, genießen. Da wäre zuvorderst der Militärdienst: Israel kennt die Wehrpflicht für Frauen, aber eben nicht für Charedim. Aufgrund eines im letzten Jahr ergangenen Gerichtsurteils steht dieses Privileg so oder so vor dem Aus. Bennett allerdings kündigte bereits an, den Charedim weiterhin die Befreiung vom Wehrdienst anzubieten, wenn sie sich in diesem Zeitraum einer Ausbildung oder einem Studium widmen. Männer müssen in Israel drei, Frauen zwei Jahre im Militär dienen.
Damit greift die neue Regierung substantiell in die bisherige Lebensrealität der Charedim ein. Da nämlich die charedischen Männer den überwältigenden Großteil ihrer Zeit mit dem Lesen heiliger Schriften verbringen, lastet auf den Schultern charedischer Frauen gleichzeitig die Erwirtschaftung des Lebensunterhalts und die Erziehung der meistens über vier Kinder. Ein Teil der charedischen Bevölkerung in Israel, die knapp eine Million Menschen umfasst, ist daher auf staatliche Zuschüsse angewiesen.
Dass sich, vom Wegfall kleiner und mittlerer Privilegien abgesehen, die Großwetterlage für die streng Orthodoxen nicht verändern wird, obwohl keine dezidiert charedische Partei mehr an der Regierung beteiligt ist, hat sich bereits gezeigt. Bei einem Flaggenmarsch in Jerusalem marschierten radikale Orthodoxe neben ultrarechten Natrionalist:innen und skandierten "Tod allen Araber:innen". Zwar kritisierte Yair Lapid die Sprechchöre im Nachgang auf Twitter, doch aufgehalten hat die Menschenmassen niemand.
Ähnlich wie im Kontext des Infektionsschutzes fehlt den israelischen Behörden leider die Ausstattung und Personalstärke, um den zu Tausenden protestierenden Strenggläubigen wirkungsvoll entgegenzutreten. Diese Diskrepanz wird weiterhin der bestimmende Faktor im Umgang mit den Charedim sein. Sachzwänge kümmern sich nicht um Regierungswechsel.