Massenproteste und Wasserwerfer: Israels Supreme Court verpflichtet die Haredim zum Wehrdienst

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Haredim demonstrieren für die Freilassung einiger Personen, die bei einer Anti-Wehrpflicht-Demonstration in Bnei Brak verhaftet wurden, 3. Mai 2024.
Ultraorthodoxer Protest

Der Supreme Court Israels urteilte kürzlich, dass die Befreiung streng orthodoxer Studierender vom allgemeinen Wehrdienst unzulässig sei. Das Gericht führte in seiner Entscheidung nicht nur den aktuellen Krieg, sondern auch die Tatsache, dass Studierende an sogenannten "yeshivot" nicht selten staatliche Finanzierung erhalten, als ausschlaggebende Gründe an. Teile der Haredi-Community reagierten mit einer groß angelegten Demonstration unter dem Banner "Wir werden uns nicht einziehen lassen".

Die Frage, ob streng orthodoxe junge Männer, die an talmudischen Schulen – sogenannten yeshivot, Singular: yeshiva – studieren, Militärdienst leisten sollen, beschäftigt den Staat Israel seit seiner Gründung. Der Supreme Court des Landes hatte in den vergangenen zehn Jahren mehrfach moniert, dass die aktuellen Ausnahmeregelungen zu weitreichend und schwammig seien. Die aktuelle gesetzliche Grundlage für die Befreiung streng orthodoxer Israelis war auf das Jahr 2023 befristet und wurde nur behelfsmäßig um neun Monate verlängert.

Ich habe an anderer Stelle bereits ausgeführt, welche historischen Aspekte diesem Sachverhalt zugrunde liegen und inwiefern die Wehrpflichtbefreiung für streng Orthodoxe nicht nur am Mythos der Israel Defence Forces (IDF) sondern auch an deren Einsatzbereitschaft sägt. Es sei an dieser Stelle also ausreichend, aus der Urteilsbegründung des Supreme Court zu zitieren: "Die Last der Ungleichheit ist in diesen Tagen, inmitten eines verheerenden Kriegs, erdrückender als je zuvor – und verlangt die Findung einer nachhaltigen Lösung für dieses Problem".

Momentan leben der Jewish Telegraphic Agency zufolge etwas mehr als 60.000 wehrfähige männliche Haredim in Israel, die dem verpflichtenden Militärdienst bisher durch ein Vollzeitstudium an einer yeshiva entgangen sind. Das Gericht spricht in diesem Zusammenhang von einer "graduellen Einziehung" dieser Studierenden. Darüber hinaus urteilte der Supreme Court, dass die Regierung künftig keine yeshivot mehr finanzieren darf, an denen Menschen studieren, die sich durch ihr Studium der Torah dem Wehrdienst entzogen haben.

Teile der Haredi-Community reagierten auf das Urteil mit einem Massenprotest im streng orthodoxen Jerusalemer Viertel Mea Shearim. Das Fahrzeug von Bau- und Wohnungsminister Yitzhak Goldknopf wurde durch Steinwürfe demoliert, die Polizei antwortete mit dem Einsatz von Wasserwerfern.

Auf ihren Protestschildern deklarierten die Demonstrierenden einen "Krieg" gegen die Entscheidung des Supreme Court, der ein "Schwert" ins "Haus der Erkenntnis"1 gerammt habe. Lieber wollten sie verhungern, verkündeten die Protestierenden angesichts des Finanzierungsverbots für yeshivot, die bei der Umgehung der Wehrpflicht mitwirken, als ihr Studium der Torah zu unterbrechen.

"Seit der Gründung dieses Staates wurden wir nicht eingezogen ... jetzt wollen sie uns mit Gewalt (zum Militärdienst) zwingen. Das wird niemals funktionieren. In einem demokratischen Staat können sie nichts tun, außer uns ins Gefängnis zu werfen. Wir haben keine Angst vor dem Gefängnis. Wir lachen über das Gefängnis ... und je mehr Menschen weggesperrt werden, desto mehr Demonstrationen werden wir in diesem Land haben", sagte ein junger Demonstrierender.

Hinweis-Plakat in streng orthodoxem Viertel
Warnhinweis vor dem Eingang zum streng orthodoxen Viertel Mea Shearim, 24. Mai 2005.
Foto: he:User:Magister via Wikimedia Commons

Dass dieses Sentiment unter Haredim nicht universell ist, zeigt ein Blick in die Lazarette, die der seit dem 7. Oktober laufende Krieg stetig befüllt. Ich zitiere die Mutter Laly Dery, die kürzlich ihren Sohn Saadia zu Grabe zu tragen hatte: "Saadia, mein wundervoller Sohn. Du hast bewiesen, dass es keinen Widerspruch gibt zwischen der Torah und dem Privileg, der IDF zu dienen. Wir teilen nicht die Last, wir teilen das Privileg."

Ich selbst habe genügend Haredim kennengelernt, die nicht nur den verpflichtenden Militärdienst abgeleistet, sondern sich auf mehrere Jahre in der IDF verpflichtet haben. Die Shoah hat das jüdische Volk über zwei Jahrtausende über den ganzen Erdball verstreut, Haredi oder nicht. Dieser mehrgenerationale kulturelle Unterbau verschwindet nicht einfach mit dem Prozess der Aliyah und der Aushändigung des blauen Reisepasses.

Um das an einem politischen Beispiel festzumachen: Die in der Regierungskoalition befindliche streng orthodoxe Partei Shas hatte bis 2010 eine nicht-zionistische Ausrichtung. Die Partei fokussiert sich seit ihrer Gründung auf die Interessen und Bedürfnisse sephardischer und mizrahischer jüdischer Menschen. Dadurch erhält sie ein anderes Profil als beispielsweise die ebenfalls regierende, streng orthodoxe und bis heute nicht-zionistische Partei United Torah Judaism, die sich auf die Interessen ashkenazischer jüdischer Menschen konzentriert.2 Während diese beiden Parteien firm hinter ihrer vollständigen Ablehnung jeglicher Einziehung von Haredim stehen, ist die regierende, streng orthodoxe Partei Mafdal-Religious Zionism von Finanzminister Bezalel Smotrich hier kompromissbereiter.

Kippa und Beret müssen also nicht zwingend im Widerspruch miteinander stehen. Selbst innerhalb des Kabinetts Netanyahu-6 regt sich angesichts des Kriegsverlaufs erster Widerstand. Die größte Frage allerdings wird sein, wie die IDF mit denjenigen umgeht, die nun qua Gerichtsbeschluss eingezogen werden müssen, sich aber beharrlich weigern. In einer Sache nämlich haben die Protestierenden in Jerusalem absolut recht: Der israelische Staat ist im Moment nicht in der Position, tausende Menschen in Beugehaft zu verfrachten.

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Hebräisch: בית מדרש  (Beit Midrash, wörtlich: Haus des Lernens), ein speziell für das Studium der Torah konzipierter Raum oder Gebäude. Nicht zu verwechseln mit der Synagoge (בית כנסת , Beit Knesset, wörtlich: Haus der Zusammenkunft).

Sephardim: Iberische Wurzeln; Mizrahim: Nahöstliche und nordafrikanische Wurzeln; Ashkenazim: Nord- und osteuropäische Wurzeln