Netanjahu greift nach jedem Strohhalm

Rechtsreligiöse Regierung in Israel vereidigt

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Präsident Isaac Herzog empfängt Abgesandte von Likud, darunter der künftige Justizminister Yariv Levin – Beit HaNassi, Jerusalem, 9. November 2022
Präsident Isaac Herzog empfängt Abgesandte von Likud

Seit Anfang des Jahres ist Benjamin "Bibi" Netanjahu wieder einmal Premierminister Israels. Seine Koalition ist eine streng religiöse Allianz, die einen Großteil des Landes – darunter Säkulare, Frauen und arabischstämmige Israelis – in helle Aufregung versetzt hat. Neben der Einschränkung elementarer Grundrechte zielt die Regierung mit dem politischen Äquivalent einer Atomrakete auf die angesehenste politische Institution des Landes: das Verfassungsgericht. Ein Kommentar.

Justizminister Yariv Levin, der Netanjahus Partei Likud angehört, stellte jüngst die Eckpunkte der vorangetriebenen Justizreform vor. "Justizerosion" allerdings träfe den Charakter des Gesetzesentwurfs weitaus besser. Levin will einer einfachen Mehrheit der Knesset – sprich, 61 der 120 Mitglieder – die Möglichkeit zubilligen, ein vom Verfassungsgericht annulliertes Gesetz wiedereinzusetzen. Faktisch bedeutet das die vollständige Entmachtung der israelischen Justiz. Wenn Levins Plan Erfolg hat, haben künftige Regierungen einen Freifahrtschein für verfassungswidrige Gesetze in der Hand.

Yair Lapid äußerte sich höchst besorgt über Levins Plan: "Was Yariv Levin heute vorgestellt hat, ist kein Gesetz, sondern eine Drohung. Sie [Netanjahus Kabinett] drohen uns damit, die verfassungsgemäße Ordnung des Staates Israels vollständig zu zerstören", so der vorige Premierminister.

Faktische Legalisierung von Diskriminierung auf religiöser Basis

Wie versprochen und von seinen streng orthodoxen Koalitionspartnern eingefordert, gewährt Netanjahus Kabinett den Haredim, den ultraorthodoxen Juden, weitreichende Sonderrechte. Eine der alarmierendsten Konzessionen ist zweifellos die faktische Legalisierung von Diskriminierung auf religiöser Basis. Geschäftsinhaber*innen und Unternehmen sollen künftig ihre Dienstleistungen jenen Menschen verweigern dürfen, deren Existenz gegen ihre religiösen Überzeugungen verstößt – das beinhaltet beispielsweise Hotels und Ärzt*innen. Gegen das Vorhaben regt sich breiter Widerstand in der Bevölkerung. Selbst Netanjahu sah sich genötigt, seinen Koalitionspartnern ins Narrativ zu grätschen und klarzustellen, dass – natürlich – niemand wegen seiner sexuellen oder geschlechtlichen Identität diskriminiert werden wird.

Im Rahmen der kompletten Überarbeitung des Antidiskriminierungsgesetzes könnte den Haredim außerdem erlaubt werden, geschlechtliche Segregation bei öffentlichen Veranstaltungen und vielleicht sogar in Schulen einzuführen. "Die Maske ist gefallen: Geschlechtertrennung, eine konstante Erinnerung an die ungleichen Machtverhältnisse zwischen besagten Geschlechtern, wird zu einem einschränkungslosen Grundrecht", kommentiert Journalist Or Kashti. Dass Netanjahus Regierung diese Machtverhältnisse zu zementieren wünscht, beweist nicht zuletzt die Ankündigung, die Istanbul-Konvention – ein internationales Abkommen zum Schutz von Frauen vor Gewalt – entgegen anders lautender Bekundungen doch nicht ratifizieren zu wollen.

Das Studium der Torah soll derweil, indem ein entsprechendes Grundsatzgesetz verabschiedet wird, aufgewertet werden. Religiöse Studien seien "grundlegender Wertebestandteil des Erbes des jüdischen Volkes" – ein genauerer Blick auf die Pläne der Regierung zeigt, dass es eher um den Schutz der Ausnahmen vom verpflichtenden Wehrdienst zu gehen scheint, den die Haredim genießen. Außerdem sollen staatliche Fördergelder für streng orthodoxe und andere religiöse Schulen erhöht und von verschiedenen Auflagen entkoppelt werden.

Premier mit dem Rücken zur Wand

Netanjahu darf in dieser Koalition lediglich als Premierminister auf dem Papier gelten, die Hoheit über tatsächliche politische Entscheidungen hat er an streng religiöse Parteien verschachert. Netanjahu tat dies in seinem besten eigenen Interesse. Der umstrittene Premierminister sieht sich mit mehreren strafrechtlichen Ermittlungen konfrontiert, unter anderem wird er der Bestechlichkeit und des Betrugs verdächtigt.

Zum einen versucht Netanjahu, sich qua Amt vor weiteren Ermittlungen zu schützen, zum anderen ist der Versuch, das Verfassungsgericht zu entmachten, als Präventivschlag zu verstehen: Sollte Netanjahu beispielsweise wegen Korruption verurteilt werden und das Verfassungsgericht noch Zähne haben, könnte sich Israels oberstes Gericht dann womöglich gezwungen sehen, einen solch unzuverlässigen Premier seines Amtes zu entheben? Wie nützlich wäre es dann, ein Gesetz zur Hand zu haben, das der Regierung, die in Israel in beinahe allen Fällen auch die parlamentarische Mehrheit hält, erlaubt, ein Urteil des Verfassungsgerichts per parlamentarischem Votum zu annullieren?

Das Kartenhaus wackelt seit Tag eins

Selbst Israels – wenngleich symbolischer – Präsident Isaac Herzog warnte vor der Richtung, die die neue Regierung eingeschlagen hat. Auch die Zivilgesellschaft wird nach mehr als einer Dekade immer noch nicht müde, gegen Bibis Spiel mit dem Feuer zu protestieren. Andererseits: Darauf wetten, dass Netanjahu heute in einem Jahr noch immer Premierminister ist, würde sich nach den letzten fünf Jahren wohl auch kaum jemand mehr trauen.

Der Todesstoß für Netanjahus insgesamt sechstes Kabinett könnte schließlich auch aus ganz anderer Ecke kommen: Das erratische und radikale Gebahren der Regierung bringe Israels Kreditwürdigkeit in Gefahr, so Maxim Rybnikov, Chefanalyst für Israel der Ratingagentur S&P. Man muss die israelische Bevölkerung wahrlich dafür bewundern, noch immer so lautstark gegen ein politisches System zu protestieren, das von einer überwältigenden Mehrheit als völlig dysfunktional empfunden wird – sie hätte auch längst in politischer Apathie versinken können.

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