Die christlichen Kirchen verlieren massiv an Mitgliedern und damit auch an gesellschaftlicher Bedeutung. Dieser Tatsache muss auch die Politik Rechnung tragen und die Privilegien überdenken, die den christlichen Großkirchen noch immer gewährt werden, so die Bundesarbeitsgemeinschaft "Säkulare Grüne".
Weniger als die Hälfte der deutschen Bevölkerung gehört noch der römisch-katholischen oder der evangelischen Kirche an. Im vergangenen Jahr verzeichneten allein die 27 katholischen Bistümer 359.338 Austritte. Zum Stichtag am 31. Dezember 2021 hatten sie nur noch rund 21,6 Millionen Mitglieder. Das entspricht einem Bevölkerungsanteil von 26 Prozent. Zeitgleich schrumpfte die Zahl der Mitglieder der evangelischen Kirche um ca. 280.000 auf 19,7 Millionen Menschen; das sind nur noch 23,7 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Nach vielen Jahrhunderten christlicher Vorherrschaft markiert das faktische Ende der Volkskirchen eine tiefgreifende historische Zäsur in der deutschen Geschichte. Die nach dem Ende des römischen Reichs vor mehr als 1.500 Jahren zunächst noch ohne Zwangsmittel betriebene "Christianisierung" wurde im Mittelalter als "Schwertmission" mit zunehmender Brutalität vorangetrieben. Bis zur Reformation dominierte die römisch-katholische Kirche im Bündnis und auch im Konflikt mit der weltlichen Obrigkeit. Abweichungen von der katholischen Lehre wurde mit drakonischen Mitteln und schwerer Verfolgung ganzer Bevölkerungsgruppen bestraft. Schwersten Repressalien bis hin zu Massenmorden waren Jüdinnen und Juden ausgesetzt. Die Spaltung der Kirche durch die Reformation führte in Deutschland zum landesherrlichen Kirchenregiment, das bis zum Ende des Kaiserreichs 1918 Bestand hatte.
Erst mit der Gründung der Weimarer Republik fand diese Allianz von Thron und Altar mit ihrem Staatskirchentum ein Ende. Allerdings waren trotz der Entfremdung von der Kirche, die schon damals stark zugenommen hatte, noch über 96 Prozent der Menschen formal Mitglieder einer der beiden großen Kirchen. Die in der Weimarer Verfassung 1919 festgeschriebenen und vom Grundgesetz 1949 übernommenen Privilegien und Bestandsgarantien sind das Überbleibsel der althergebrachten Mehrheits- und Machtverhältnisse – mit tiefgreifenden Auswirkungen.
Bis zum heutigen Tag
- treiben die beiden großen christlichen Kirchen als Körperschaften öffentlichen Rechts von ihren Mitgliedern Steuern über das Finanzamt ein. Sie beziehen Jahr für Jahr aus öffentlichen Kassen rund 600 Millionen Euro "historische Staatsleistungen" als Entschädigungszahlungen für Vermögensverluste vergangener Jahrhunderte. Sie zahlen darüber hinaus weder Erbschafts- noch Grundsteuer und auch Gerichtsgebühren sind ihnen erlassen. Steht ein Kirchentag an, sind üppige öffentliche Subventionen garantiert;
- dürfen die Kirchen in ihren riesigen Unternehmen mit rund 1,4 Millionen Beschäftigten Gewerkschaften benachteiligen und von ihren Beschäftigten sogar im Privatleben neben der Kirchenmitgliedschaft auch eine Unterwerfung unter kirchliche Normen verlangen. Die Einrichtungen insbesondere von Caritas und Diakonie haben vielerorts Monopolcharakter;
- erteilen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften an den öffentlichen Schulen der meisten Bundesländer ihren Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach. In acht der 16 Bundesländer haben demgegenüber weltanschaulich neutrale Unterrichtfächer lediglich den Charakter eines Ersatzfachs. Von einer Gleichberechtigung von Ethik, praktischer Philosophie und einer konfessionell nicht gebundenen Religionskunde kann nicht die Rede sein;
- gilt das 1933 zwischen Hitler und dem Papst geschlossene "Reichskonkordat". Dieser völkerrechtliche Vertrag (Konkordat) regelt die Beziehungen zwischen Deutschland und der katholischen Kirche. Daneben gelten eine Reihe weiterer Konkordate der Bundesländer mit dem "Heiligen Stuhl" sowie Verträge mit der evangelischen Kirche. Ferner wurden zahlreiche weitere Vereinbarungen zwischen Staat und Kirchen zu verschiedenen Bereichen abgeschlossen.
Die "Geschäftsgrundlage" dieser quasi-staatlichen Sonderstellung der Kirchen hat sich grundlegend verändert. Die vielfache sexualisierte Gewalt in hermetisch abgeschlossenen Räumen hat den Prozess des Niedergangs beschleunigt und immer mehr Mitglieder zum Austritt veranlasst. Für die katholische Kirche kommt die Abwertung der Frauen, die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaft und ein archaisches Familienbild hinzu. Paradoxerweise hat der dramatische Mitglieder- und Bedeutungsverlust der kirchlichen Kassenlage keineswegs geschadet. Dank der Kirchensteuer mit zwölf Milliarden Euro im Jahr, vielfältigen Zuwendungen von Bund, Ländern und Gemeinden sowie durch die erhebliche Wertsteigerung des gewaltigen Immobilienbesitzes nimmt der Reichtum beider großer Kirchen nach wie vor zu. So stärkt der Staat verkrustete Strukturen und immunisiert sie gegen die Reformkräfte.
Es ist daher höchste Zeit für die Bundesregierung, ihre im Koalitionsvertrag zugesagte Arbeit an einem modernen Religionsverfassungsrecht endlich auf den Weg zu bringen. Eine Streichung der "historischen Staatsleistungen" und die grundlegende Reform des kirchlichen Arbeitsrechts sind als erste Schritte unerlässlich, reichen aber nicht aus. Leider hat der enorme Einfluss der kirchlichen Lobby in der Politik bis jetzt jede wirksame Reform immer wieder blockiert. Ein zukunftsfähiges Religionsverfassungsrecht muss der wachsenden religiösen und weltanschaulichen Vielfalt im Land Rechnung tragen, zugleich aber auch klare Grenzen setzen. Die Glaubensfreiheit ist kein oberstes Grundrecht, das wie eine Drohne über den Rechten von Kindern, Frauen und sexuellen Minderheiten schwebt und diese nach Bedarf ausschaltet. Nicht die Institutionen, sondern der Mensch und seine individuelle Glaubensfreiheit stehen im Mittelpunkt. Bürokratische Apparate verwechseln die individuelle Glaubensfreiheit mit der einer Bestandsgarantie eigener Privilegien.
Nahmen die großen Kirchen in früheren Zeiten noch für sich in Anspruch, Staat und Gesellschaft eine christlich-abendländische Werteordnung zu vermitteln, sind ihre Positionen heute nur noch partikulare Meinungsäußerungen. Angesichts der wachsenden religiösen und kulturellen Vielfalt kann es erst recht keine "christlich"-abendländische Leitkultur geben. Jede Religionsgemeinschaft befindet sich in einer gesellschaftlichen Minderheit. Sie kann die Verbindlichkeit ihrer Lehren allenfalls gegenüber den eigenen Mitgliedern beanspruchen, nicht aber gegenüber einer Mehrheit der Bevölkerung.
Die vom Grundgesetz garantierte Glaubensfreiheit sowie die Pflicht zur religiösen Neutralität verbieten dem Staat eine Garantie kirchlicher Hegemonie in zentralen gesellschaftlichen Bereichen wie der Besetzung von Ethikräten, Rundfunkräten und Beratungsgremien auf allen Ebenen. Eine derartige Vorrangstellung gegenüber den über 40 Prozent Konfessionsfreien missachtet auch den Gleichstellungsanspruch von Angehörigen der Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften, die nicht als öffentlich-rechtliche Körperschaft anerkannt sind. Kirchen haben wie alle anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ihren Platz in der Zivilgesellschaft. Sie müssen aber endlich finanziell und organisatorisch unabhängig werden vom Staat. Ihre gesellschaftliche Bedeutung und ihr Einfluss dürfen nicht länger von ihrer Verflechtung mit dem Staat abhängen, sondern vom Engagement ihrer Mitglieder und der Überzeugungskraft ihrer Argumente.
Erklärung der Bundesarbeitsgemeinschaft Säkulare Grüne, Beschlussfassung BAG-Sprecher/innen vom 18.08.2022: Hannah Wettig (Sprecherin), Walter Otte (Sprecher).