Warum ein Verfassungsauftrag seit 1919 nicht umgesetzt ist

Schluss mit den Staatsleistungen

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Klamme Kommunen verschenken gern Steuergelder an die Kirchen.
Klamme Kommunen verschenken gern Steuergelder an die Kirchen.

Der erste Themenabend des AK Säkulare in Düsseldorf im Jahr 2023 hielt für die zahlreich zugeschalteten Interessierten wieder einen säkularen "Leckerbissen" bereit: Einer der profiliertesten Experten zum Thema Staatsleistungen, Johann-Albrecht Haupt, Verwaltungsjurist und Sprecher von BAStA (Bündnis altrechtliche Staatsleistungen abschaffen), referierte pointiert und auch für den juristischen Laien verständlich zu diesem komplexen Thema, dem just eine unerwartete Aktualität widerfährt.

Nach über 100 Jahren Stillstand erarbeitet seit August 2022 – so wird berichtet – eine Arbeitsgruppe mit Vertretern aus Bund, Ländern und den Kirchen unter Ausschluss der Öffentlichkeit und unter Hochdruck Eckpunkte für einen neuen Gesetzentwurf zur Ablösung der altrechtlichen Staatsleistungen. Dieses sogenannte "Grundsätze-Gesetz" soll noch in dieser Legislaturperiode vom Bundestag beschlossen werden.

Bevor es an diesem Abend thematisch in medias res ging, nutzte Sabine Smentek, Co-Sprecherin des 2022 gegründeten Bundesarbeitskreises Säkularität und Humanismus, die Gelegenheit für ein kurzes Grußwort aus Berlin.

Schlussstrich und Faktenlage

Der Referent begann seinen daran anschließenden Vortrag damit, dass es angesichts der Hartnäckigkeit, mit der die Kirchen und die Politik seit über 100 Jahren den Verfassungsauftrag zur Ablösung der Staatsleistungen nicht beachtet haben, tatsächlich an der Zeit sei, endlich einen Schlussstrich zu ziehen.

Der Untätigkeitsvorwurf ziele dabei auf den Staat, nicht die Kirchen, betonte Haupt: Seit 1919 besteht der Verfassungsauftrag zur Ablösung der Staatsleistungen und ist bis heute nicht erfüllt. Dieser Auftrag richtet sich an den Gesetzgeber und die Länderparlamente, die nacheinander tätig werden müssen.

Seit 1919 haben die Länder des Deutschen Reiches beziehungsweise der Bundesrepublik Deutschland Zahlungen geleistet. Im Jahre 1950 wurden zusammen 33 Millionen Euro pro Jahr gezahlt, 1985 waren es bereits 265 Millionen Euro und 2024 werden es wohl erstmals über 600 Millionen Euro sein.

Seit 1945 belaufen sich die bisher geleisteten Staatsleistungen auf mehr als 20 Milliarden Euro. Dazu kommen 630 Millionen Mark, die die DDR zwischen 1949 und 1989 gezahlt hat. Die meisten deutschen Länder haben nach 1949 Verträge mit den Kirchen geschlossen, inklusive einer Steigerung nach Maßgabe der Beamtenbesoldung.

Der Rückgang der Quote an Kirchenmitgliedern von einst rund 96 Prozent auf mittlerweile weniger als 50 Prozent sei ohne Auswirkungen auf die Zahlungen der Staatsleistungen in den Bundesländern – mit Ausnahme von Berlin – geblieben.

Was gehört nicht zu den Staatsleistungen?

Nicht dazu gehören Einnahmen über die Kirchensteuer, die Zuwendungen für kirchliche Schulen, Hochschulen, Kindergärten, Krankenhäuser, Pflegeheime, Beratungsstellen, für den Denkmalschutz, auch nicht die Ausgaben des Staates und der Länder für den Religionsunterricht, die theologischen Fakultäten und die Militärseelsorge.

Argumente zur Zahlung und Ablösung

Den Behauptungen der Kirchen, der Staatspraxis und der überwiegenden Mehrheit der Rechtswissenschaft ("Staatskirchenrecht"), aus Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung ergäbe sich zwingend, dass Kirchen noch heute einen historisch und verfassungsrechtlich begründeten Anspruch auf die weitere Zahlung von Staatsleistungen hätten sowie dass die Ablösung der Staatsleistungen, die zwingend vorgeschrieben ist, nur möglich sei, wenn sie mit einer weiteren hohen Entschädigung verbunden ist, widersprach der Referent energisch.

Unterschiedliche Beurteilungen – "Experteninterpretationen"

Dies sei zwar herrschende Meinung, aber beide Behauptungen zur Rechtslage seien schlichtweg falsch, so Haupt. Als besonders bemerkenswert erachtete der Experte, dass im Jahre 2023 Rechtsansprüche aus Vorgängen abgeleitet werden, die über 200 Jahre zurückliegen oder gar aus Zeiten der Reformation stammen.

Auch andere gesellschaftliche Gruppen hätten in diesem Zeitraum gewaltige Verluste erlitten und Umwälzungen, Kriege, Vertreibung, staatliches Unrecht erlebt, ohne dass der Staat in fürsorglicher Art diesen Gruppen stets anwachsende Leistungen hätte zukommen lassen.

Aus dem Wortlaut unseres Grundgesetzes ergibt sich nach Auffassung des Juristen Haupt dies alles nicht, sondern genau das Gegenteil: Es werde gerade nicht von der Weiterzahlung der Staatsleistungen gesprochen und schon gar nicht über einen Zeitraum von über 100 Jahren, sondern ausschließlich von ihrer Ablösung. Auch von einer abschließenden Entschädigungszahlung sei in diesem Verfassungsartikel nicht die Rede.

Wer sich an dieser Stelle auf die Verfassung berufe, ernte häufig nur ein "müdes Lächeln" seitens sogenannter Experten, konstatierte der Jurist. Man müsse – so werde dann von diesen "Experten" gefordert – die Verfassungsbestimmungen natürlich "richtig" interpretieren und auch berücksichtigen, was der Verfassungsgeber sich dabei gedacht und was er im Sinn gehabt habe.

Doch auch die oftmals ins Feld geführte Verbindung von Artikel 138 WRV mit einer – auch im säkularen Spektrum wenig bekannten Bestimmung (Übergangsvorschrift Artikel 173 WRV) – sei als Begründung der Weiterzahlung nicht zulässig, da sie eben nicht in das Grundgesetz übernommen wurde. (Artikel 173: "Bis zum Erlass eines Reichsgesetzes gemäß Artikel 138 bleiben die bisherigen auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften bestehen.")

Mit der Verfassung von 1919 wurde die Trennung von Staat und Kirche eingeleitet, fuhr der Referent fort, auch und gerade im finanziellen Bereich. Die Kirchen sollten sich künftig durch ihre Mitglieder und über Kirchensteuern finanzieren. Ein entsprechendes System musste erst etabliert werden und nur übergangsweise sollten die Staatsleistungen weiterfließen.

Rechtsgrundlage entfallen

Die Rechtsgrundlage für die Weiterzahlung der Staatsleistungen sei durch Zeitablauf und durch das seitdem geschaffene und wirksame Kirchensteuersystem längst entfallen, so Haupt. Ein stabiles System zur Eigenfinanzierung der Kirchen ist seit langem etabliert: Die Kirchen sind seit Jahrzehnten in der Lage, ihren eigenen Finanzbedarf zu erwirtschaften durch die Kirchensteuer (pro Kirche aktuell ca. 6 Milliarden Euro p.a.) und durch Erträge aus eigenem Vermögen.

Einen Zeitraum von über 100 Jahren als Übergangregelung konnten die Verfassungsgeber entgegen der "Experteninterpretationen" nicht im Sinn gehabt haben.

Allerdings sind die Experten für Staatskirchenrecht in den kirchlichen Verwaltungen und Gremien sowie an staatlichen Hochschulen in der Regel nicht nur Mitglieder der Amtskirchen, so der Referent, sondern sind den Kirchen des Weiteren sehr häufig durch Gutachteraufträge, Beratungs- und Vertretungsmandate, Mitwirkung in kirchlichen Gerichten nicht nur weltanschaulich, sondern auch finanziell verbunden. Bedingt durch diese Abhängigkeit seien neutrale Gutachten in der Regel nicht zu erwarten.

Ihm sei aus dem Bereich des Religions- und Staatskirchenrechts kein Hochschullehrer bekannt, der keine – mehr oder weniger – enge Verbindung zu den Kirchen pflegte, so der Referent.

Anspruch auf Staatsleistungen ist erloschen

Die Forderung nach einer Beendigung der Staatsleistungen gegen Zahlung einer Entschädigung steht im Raum. Ein großes Aber ist dagegen zu halten: Wer eine Entschädigung beansprucht, müsse zunächst darlegen, welche Rechtstitel 1919 existierten und wie dies heute zu bewerten sei. Es sei völlig unbekannt, von welchen Rechtstiteln aus der Zeit vor 1919 überhaupt gesprochen wird. Stattdessen wird in der Diskussion auf die Staatskirchenverträge der Länder mit dem Heiligen Stuhl und den Evangelische Landeskirchen und auf die Höhe der dort vereinbarten Beiträge und deren Fortschreibung rekurriert. Diese Verträge sind sämtlich nach 1919 – zum Teil zu Weimarer, zum Teil zu bundesrepublikanischen Zeiten – geschlossen worden. Die Verfassung sagt aber nicht, dass die Staatsleistungen wie in den Staatskirchenverträgen vereinbart abzulösen sind, sondern dass die Staatsleistungen, die 1919 existierten, in ihrem damaligen Bestand abzulösen sind.

Der Bestand der Staatsleistungen vor 1919 ist heute kaum noch feststellbar. Man konnte sich lediglich bemühen, so dicht wie möglich an den Zustand von 1919 heranzukommen. Alte Rechtstitel wurden dann konkretisiert, erneuert, der Höhe nach festgeschrieben und mit Steigerungsvorschriften versehen.

Kann man der Behauptung der weitgehenden Identität von alten Rechtstiteln und Bestimmungen in den späteren Verträgen glauben? Es werde – so der Referent – noch nicht einmal nach Belegen gefragt. Außerdem wurden die Zahlungen der Länder dynamisiert, jedoch ohne Rücksicht auf die Mitgliederzahlen der Kirchen und unabhängig von ihren realen wirtschaftlichen Bedürfnissen.

Ohne Klärung der Dynamisierungsfrage könne man für die Berechnung einer Ablösungsentschädigung nicht einfach von den Staatskirchenverträgen ausgehen, führte Johann-Albrecht Haupt weiter aus, sondern man müsse auf die Rechtstitel von 1919 zurückgehen.

Die heutigen Zahlungen sind des Weiteren in den 14 betroffenen Bundesländern (nur Hamburg und Bremen zahlen keine Staatsleistungen) sehr unterschiedlich. Für das Jahr 2022 liegen folgende Zahlen vor:

Das Saarland zahlte 75 Cent pro Kopf der Bevölkerung pro Jahr, Nordrhein-Westfalen 1,34 Euro pro Jahr, Sachsen-Anhalt aber 18,18 Euro pro Einwohner, Rheinland-Pfalz 16,15 Euro und Baden-Württemberg 12,35 Euro.

Der Bundesdurchschnitt liegt bei 7,14 Euro pro Einwohner pro Jahr, Bayern liegt mit 7,85 Euro nur wenig darüber. Pro Kirchenmitglied in Nordrhein-Westfalen zahlt das Land 2,26 Euro, Baden-Württemberg 21,04 Euro, Sachsen-Anhalt sage und schreibe 123,90 Euro pro Jahr.

Keine Plausibilität – Keine Nachweise

Wenn behauptet wird, dass die Staatsleistungen ihren Ursprung in den Vermögensverlusten der Kirchen nach der Reformation oder als Folge der Säkularisierung nach 1801 hatten, dann müsse es doch verblüffen, dass ausgerechnet in Sachsen-Anhalt die Staatsleistungen besonders hoch sind, vor allem da dort die Vermögensverluste eher gering waren im Vergleich zum Rheinland. Auch die Unterschiede in den heutigen – aus dem Land Preußen hervorgegangenen – betroffenen Bundesländern erscheinen dann nicht nachvollziehbar. Es fehlt an Plausibilität und zudem an Nachweisen durch die Ansprüche stellenden Kirchen, dabei liegt die Beweislast bei den Anspruchstellern.

Thesen des Referenten

  1. Etwaige Entschädigungsansprüche sind durch die über hundertjährige Zahlung längst erfüllt, sogar übererfüllt worden und damit erloschen. Die Anrechnung der bereits geleisteten Zahlungen sei allerdings bislang von politischer Seite empört als verfassungswidrig zurückgewiesen worden, so Johann-Albrecht Haupt. In letzter Zeit gebe es aber wohl Stimmen aus dem Bereich der Staatskirchenrechtslehre, die eine Anrechnung der bisherigen Zahlungen auf die Höhe der Ablöse-Entschädigungen für immerhin "denkbar" und durchaus auch wünschenswert halten.
  2. Eines Ablösungsgesetzes bedarf es nach Ansicht des Referenten nicht. Der Gesetzgeber müsse feststellen, dass die Zahlung der Staatsleistungen sofort einzustellen ist. Eine Ablösungsentschädigung sei nicht erforderlich. Leider entspricht dies nicht der Auffassung der handelnden politischen Akteure.

Was kann man erwarten?

Beim zu erwartenden Gesetzentwurf seien verschiedene Varianten denkbar:

  1. Zum Beispiel ein Entwurf des Grundsätzegesetzes des Bundes mit einer Ablöse-Entschädigung, die ein Vielfaches der derzeitigen Zahlung beträgt (600 Mio. € p.a.). Quotient könnte das 15-, 18,6-, 20-, 25-fache sein.
  2. Die Möglichkeit eines Gesetzes, das sich generell auf wenige Punkte beschränkt: Zeitplan, Ratenzahlung, Übergangszeitraum.

Die nähere Ausgestaltung zur Höhe der Entschädigung würde dann den Ländern überlassen.

Screenshot
Screenshot der Online-Veranstaltung

Eine intensive Frage- und Diskussionsrunde schloss sich dem Vortrag an.

Die Befürchtung wurde laut, dass am Ende nur noch Schadensbegrenzung betrieben werden kann, um den Quotienten für die Steuerzahler nicht bis ins Unendliche anwachsen zu lassen.

Ernüchterung machte sich breit auch über die Intransparenz der aktuell stattfindenden Gespräche: Nicht nur über die Inhalte, auch über die Namen der Kommissionsteilnehmer aus BMI, Justizministerium, Kirchen und kirchlichen Sachverständigen wurde bislang Stillschweigen bewahrt.

Eine offene Frage bleibt zudem, inwieweit und wie viele der Parlamentarier zum jetzigen Zeitpunkt über die Vorgänge und den Diskussionsstand zur Thematik informiert sind. Über die Teilnahme von säkularen Interessenvertretern in der Arbeitsgruppe ist bislang nichts bekannt.

Nachdem über hundert Jahre Stillstand herrschte, drängt die Arbeitskommission jetzt zur Eile. Noch im Januar 2023 sollen erste Ergebnisse vorgelegt werden als Vorschlag zur Gesetzgebung.

Auch die Säkularen dürfen gespannt sein. Zu einer positiven Überraschung für den deutschen Steuerzahler wird es aller Voraussicht nach aber eher nicht kommen.

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