Vom Sieg des Katholizismus und dem Verlust an Menschlichkeit

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Katholizismus: Ein graues "memento mori" ersetzte das bunte "carpe diem".

Im Jahre 385 rollen die Köpfe. Priscillian, Bischof von Faro (Portugal), ein Christ, wenngleich nicht katholischer Art, und weitere sechs Männer seiner Umgebung werden in Trier öffentlich hingerichtet. Ihr Verbrechen: Sie fordern unter Verweis auf die Briefe des Paulus Ehelosigkeit und Verzicht auf Fleisch und Wein, ein Ende der Sklaverei und die Gleichstellung von Frauen. Das ist zu viel. Gerade ist der Katholizismus zur Staatsreligion erhoben worden, gerade wurde die unsterbliche Wahrheit per Dekret verkündet, und immer noch erheben die Schlangen der Häresie ihre Köpfe.

Das Todesurteil, Enthauptung mit dem Schwert, ist die einsame Entscheidung eines römischen Kaisers, der sich auf ein Gesetz beruft, kaum ein Dutzend Zeilen lang, das das Weltgeschehen neu ordnen wird. Cunctos populos heißt das Gesetz, das den Katholizismus zur alles beherrschenden Religion macht: "Alle Völker, über die wir ein mildes und maßvolles Regiment führen, sollen sich zu der Religion bekehren, die der göttliche Apostel Petrus den Römern überliefert hat. Nur diejenigen, die diesem Gesetz folgen, sollen katholische Christen heißen dürfen; die anderen, die wir für wahrhaft toll und wahnsinnig erklären, haben die Schande ketzerischer Lehre zu tragen." Der Erlass wird das Schicksal Europas entscheiden und die größte Landschaftsveränderung seit Beginn des römischen Imperiums einleiten. Er wird tiefgreifende Spaltungen und Zerwürfnisse provozieren, Religionskriege entfesseln, Kreuzzüge heiligen, Kulturen vernichten und Mitteleuropa klerikalisieren, enturbanisieren und feudalisieren. Er ist ein Sieg des Katholizismus und der Verlust an Menschlichkeit.

Staatskirche

So wird der Katholizismus zur Staatsreligion: Kein Petrus, auf dessen Felsen die Kirche erbaut wurde, lässt sie zur Weltmacht aufwachsen, kein Papst, der im entfernten Rom residiert, keine Mehrheit aufgebrachter Katholiken, sondern ein selbst ermächtigter Kaiser, Theodosius I., gibt anno 380 dem Katholizismus Namen und Macht. Ohne Not unterwerfen sich die Kaiser fortan den katholischen Dogmen und leiten ihr Handeln nicht mehr vom römischen Geist der Verantwortung gegenüber den Vorfahren und der Gemeinschaft ab, sondern von kirchlichen Befindlichkeiten. Nicht mehr jene kleine griechische Polis dient als Vorbild politischen Handelns, die sich im Jahre 490 v. u. Z. gegen ein asiatisches Weltreich aufopfert, um der Gemeinschaft das Überleben zu sichern (und "nebenbei" die Idee der politischen Freiheit weiterreicht), sondern eine selbstbewusst auftretende Kirche, die verlangt, man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen, die von "Gemeinschaft" spricht, aber diese als eine Gemeinschaft unter Führung der Bischöfe versteht, als eine Herde von Schafen, die von Hirten geführt werden muss. Schließlich fordert Papst Gregor VII. im Dictatus Papae in unüberbietbarer Weise die völlige Unterwerfung: "Dass er [der Papst] allein die kaiserlichen Herrschaftszeichen verwenden kann, dass alle Fürsten nur des Papstes Füße küssen, dass es ihm erlaubt ist, Kaiser abzusetzen". Von diesem schwersten aller Schläge gegen jeden Gesellschaftsvertrag, gegen den demokratischen Gedanken, gegen die griechische Polis, gegen die römische res publica, gegen die Mündigkeit der Bürger wird sich die westliche Welt bis 1789 nicht mehr erholen.

Feudalismus

Der Wandel geht voll zulasten der Bevölkerung. Ein Jahrtausend lang versinkt das katholische Mitteleuropa in eine geistes- und naturwissenschaftliche Finsternis. Katholische Bischöfe und von Gott eingesetzte Fürsten, die die überragende Bedeutung von Städten als Motor der Innovationen nicht erkennen, werden Mitteleuropa bis zur Renaissance wirtschaftlich lahmlegen.

Aus der Synthese von Thron und Altar, aus Bildungsfinsternis und Herr­schaftsanspruch, aus Kriegsgewinnen und Akkumulation eroberter Immobilien in den Händen der obersten Schicht wächst eine der abträglichsten Wirtschaftsformen der Menschheitsgeschichte auf: der Feudalismus mit Grundherrschaft, Leibeigenschaft und Schollenpflicht. Friedrich Engels charakterisiert ihn wie folgt: "Der Feudalherr bezog von seinen Leib­eignen alles, was er brauchte; entweder in der Form von Arbeit oder in der von fertigem Produkt; die Weiber spannen und woben den Flachs und die Wolle und machten die Kleider; die Männer bestellten das Feld; die Kinder hüteten das Vieh des Herrn, sammelten ihm Waldfrüchte, Vogelnester, Streu; die ganze Familie hatte außerdem noch Korn, Obst, Eier, Butter, Käse, Geflügel, Jungvieh und was nicht alles noch einzuliefern. Jede Feudalherrschaft genügte sich selbst; Europa war auf eine niedrige Stufe herabgedrückt."

Ein stetig wachsender Anteil des Grundbesitzes wandert in die Hände der katholischen Kirche, fränkischer Könige und in die Taschen großer Gutsbesitzer. Der unterste Stand, im wesentlichen "Zins"-Bauern, Unfreie bzw. Leibeigene ("Hörige"), besorgt die täglichen Arbeiten auf dem Hof und den Feldern. Unfreie repräsentieren etwa neunzig Prozent der Bevölkerung, leisten die Kärrnerarbeit und erbringen fast sämtliche Dienstleistungen. Von ihnen wird neben Naturalien- und Fiskalienabgaben regelmäßig eine dreitägige Fronarbeit pro Woche für den Gutsherrn verlangt, zusätzlich einige Wochen Fronarbeit bei der Herbst- und Frühjahrsbestellung. Sie müssen angesichts der dauerhaften Verpflichtung zum Kriegsdienst froh sein, ausreichend Getreide für den eigenen Gebrauch und als Futtermittel für wenige Tiere zu erwirtschaften. Die Belastungen sind so groß, dass viele Bauern kaum noch den Unterhalt der eigenen Familie bestreiten können und in Armut und in die Arme der Wohlhabenden getrieben werden. Dort tauschen die verarmten Bauern ihren Besitz gegen Knechtschaft, später gegen den Status von Hörigen ein und werden im Regelfall wie Immobilien gehandelt und bei Verkauf eines verliehenen Gutes gemeinsam mit dem Gut verkauft. Dieser Feudalismus drückt das Land in eine tiefe Depression.

Diese nahezu bedingungslose Unter­ordnung Halbfreier und Leibeigener unter einem Grundherrn und deren Ausbeutung wird von der Kirche "als von Gott in seiner vergeltenden Gerechtigkeit" begründet und in den eigenen Liegenschaften angewendet. Nach Gregor von Nazianz, Bischof von Konstantinopel, ist die Ständeordnung vorbestimmt. Gott selbst habe gewollt, dass, "die einen, für die es so nützlich ist, geweidet und regiert und durch Wort und Tat zur Pflicht angehalten werden, die anderen aber, welche sich vor dem Volke durch Tugend und durch innige Beziehung zu Gott auszeichnen, Hirten und Lehrer seien". Bischof Burchard von Worms bestätigt die für Kirche und weltliche Herrscher angenehme Interpretation: "Um der Sünde willen, vom Menschen ausgegangen, hat der gerechte Gott das Leben der Menschen unterschiedlich gestaltet, indem er die einen zu Knechten, die anderen zu Herren bestimmt hat, auf dass durch die Gewalt der Herrschenden den Knechten die Freiheit, übel zu tun, beschränkt wird". Verweigerern wird eingeschärft: "Ihr sollt den Priestern gehorsam sein, bereitwillig auf sie hören und den Zehnten Gott getreulich erstatten. Denn wer den Zehnten zurückhält, begeht Raub am Eigentum Gottes". Wer sich dennoch gegen die Zinszahlungen aufbäumt, wird exkommuniziert und sonntags unter Glockengeläut und in aller Öffentlichkeit durch namentliche Benennung diskriminiert oder geht nach dreimaliger Ermahnung in das Eigentum des Klosters über.

So bedienen sich beide, weltliche und kirchliche Machtträger, ohne Hemmungen der Arbeitskraft der Bevölkerung. Zwar zwingen die durch ständige Kriegszüge verursachten Hungersnöte (793), Zinswucher, Getreidespekulationen und überhöhte Preise Karl I. zum Handeln, aber letztlich ist die Macht der kirchlichen und weltlichen Gutsherren zu groß und der von den Kanzeln gepredigte Aufruf, das Schicksal der Armen sei von Gott vorherbestimmt, für einen organisierten Aufstand zu mächtig. Die Menschen fühlen sich nicht mehr als "Volk", eher als "Zubehör der Herrschenden" (Matthias Springer). Zudem hilft eine starke Armee, die von den Bischöfen und Äbten durch Gestellung kircheneigener Regimenter unterstützt und mit einem Schwur an die Feudalherrscher gebunden wird, die soziale Struktur militärisch abzusichern.

Reichtum der Kirche

Gewinner ist vor allem die katholische Kirche. Die schiere Masse an Kirchen und Klöstern – zwischen 1050 und 1350 werden alleine in Frankreich 80 Kathedralen, 500 Kirchen und Zehntausende von Gemeindekirchen gebaut – ist ein Hinweis, warum sich das Mittelalter auf dem Weg in die wirtschaftliche Not befindet: Geld kann man nur einmal ausgeben. Was oben "verprasst" und in Kirchenanlagen verbaut wird, fehlt unten. Ein arabischer Gesandter berichtet über das im Jahre 774 gegründete Kloster Fulda: "Nie sah ich in allen Ländern der Christen eine größere [Kirche] als sie, noch eine reichere an Gold und Silber. Die meisten ihrer Gefäße sind von Gold und Silber. Ferner ist dort ein Götzenbild aus Gold, dessen Gewicht 300 [Pfund] beträgt, mit Hyazinthen und Smaragden besetzt."

Einen Vermögenssprung erwartet die Kirche unter den Karolingern. Pippin, seit 751 König der Franken und Vater Karls des Großen, schenkt dem Papst halb Italien und unter Karl I. wächst das Kirchenvermögen durch Überschreibung von Grundstücken mitsamt Dörfern und Einwohnern zum größten Grundbesitz im Franken­reich auf. Die Abtei Prüm hat im 9. Jahrhundert Grundbesitz vom Rhein bis zur Bretagne und ein ganzer geografischer Landstrich entlang des linken Rheinufers, von Basel bis Köln, geht in den Besitz der katholischen Bistümer über und erwirbt sich den Namen "Pfaffengasse". Und wer den Starnberger See besucht, stellt nach kurzer Recherche fest, dass der See fast vollständig einem halben Dutzend Klöstern gehört hat, mit Ländereien, Fisch- und Marktrechten. Bistümer und Klöster vermehren ihren Güterbestand enorm, wohl auch durch Ausmalung der Höllenqualen und himmlischen Strafen.

Zur Bewirtschaftung der Klöster wird auf die Schaffenskraft externer und abhängiger Menschen zurückgegriffen. Ohne eine Heerschar von Abhängigen und Hörigen sind die Kloster-Latifundien gar nicht zu bewirtschaften. Einer der Spitzenreiter dürfte dabei das Kloster von Saint-Germain-des-Prés sein, dessen Polyptychon, ein mehrteiliges Bestands- und Leistungs­verzeichnis, um 825 mehr als 10.000 Hörige verzeichnet. Den klösterlichen Großgrundbesitzern stehen die Verlierer der mittelalterlichen Gesell­schaft gegenüber, die Masse der "kleinen Leute", die meist froh sind, über den Winter zu kommen. Sie sind es, die die großartigen Anlagen mit ihrer Arbeitskraft bezahlen.

Der Verfall der Städte

Innerhalb eines Jahrhunderts verwahrlosen fast alle Erbstücke, die die Römer hinterlassen haben. Öffentliche Bibliotheken und Theater werden geschlossen, "die Wunderbauten der Wasserleitungen" verfallen, Tempel werden zu Steinbrüchen und Bibliotheken dienen als Lieferanten für preiswertes Pergament. Öffentliche Schulen, die im römischen Reich zur Sicherung der durchorganisierten Bürokratie und des bis in viele Einzelheiten geordneten Rechtswesen unverzichtbar gewesen sind, laufen aus, und an ihre Stelle treten nicht-öffentliche Schulen mit einem auf den Klerus ausgerichteten Ausbildungssystem. Das bisher bestens gewartete Verkehrswegesystem, unverzichtbar für Kommunikation und den Fernverkehr von Militär, Post und Handel, bricht mit dem Ende des 6. Jahrhunderts zusammen. Es bleiben wenige Teilstücke und Regionalstraßen, die sich ihre eigenen Wege suchen, wenn die bisherigen Straßen durch allzu viele Schlaglöcher unpassierbar geworden sind.

Ohne Kultureinrichtungen, ohne Garnisonen und Beamtenschaft bricht in Mitteleuropa die gesamte nicht-klerikale Stadtkultur zusammen. Während die Römer einen ganzen Kontinent mit einer berauschenden Stadtkultur überziehen, die Araber, wo immer sie sich ansiedeln, scheinbar aus dem Nichts blühende Städte zaubern, schaffen es Kirche und fränkische Herrscher, das urbane Erbe in eine städtelose Agrarlandschaft mit eingesprengelten Bischofssitzen zu verwandeln. Karl "der Große" residiert nicht mehr in einer Hauptstadt, sondern aus dem Sattel. Begleitet von seiner Hofequipage auf Ochsenkarren, zieht er mit Sack und Pack von einer Pfalz in die nächste und verbringt seinen Lebensabend in einem Eifel-Kaff, rund tausend Kilometer vom Mittelmeer entfernt, auf den Resten einer von den Römern verlassenen Therme, unter dem Namen "Aachen" bekannt. Sein Königshof wäre im römischen Reich bestenfalls den Ansprüchen eines Provinzgouverneurs gerecht geworden.

Die Wasserleitungen verfallen, so dass die Bürger sich wie in archaischen Zeiten aus Brunnen versorgen und die Notdurft auf die Straße entleeren. Statt in Steinhäusern, in Rom teilweise mit fünf bis sechs Stockwerken, leben die Menschen in armseligen Holzbaracken, vergessen das Schreiben, verstehen die Amtssprache nicht mehr und brauchen Übersetzer, wenn sie kommunale Verordnungen lesen wollen. Sie sind Fremde im eigenen Land, das von zwei mächtigen Kräften beherrscht wird, die sich gegenseitig die Bälle zuwerfen. Von "Demokratie" oder res publica spricht ohnehin niemand mehr. Keiner, der stolz erklärt "ich bin ein römischer Bürger". Dieser Verlust an Gemeinsinn dürfte, neben dem Untergang der Städte, ganz wesentlich zum Verfall des Staates beigetragen haben.

Wunderheiler und Bader ziehen über das Land und bieten ihre Dienste feil. Ärzte mit fundierter Ausbildung gibt es nicht mehr, Krankenhäuser wie in Persien oder in den römischen Legionärsstädten ohnehin nicht. Die stattdessen in Mitteleuropa angebotene Klostermedizin beschränkt sich bis in das 13. Jahrhundert auf die Verab­reichung von Kräutern, auf Quack­salberei mit Steinen und Empfehlungen, Heilige anzurufen und Buße zu tun. Leichenöffnungen stoßen auf großen Widerstand und werden unter der Allmacht der Kirche fast tausend Jahre lang nur heimlich praktiziert.

Der Verfall der Schriftsprache als konstituierendes Element der National­bildung und als Voraussetzung zur Erschließung eines breiten Reservoirs an Intelligenz und Begabung ist durch nichts zu kompensieren. Nur noch Angehörige des Klerus können im Westen lesen und schreiben. Selbst Kaiser und Könige brauchen Hand­reichungen, um wenigstens Kürzel als gekritzelte Unterschriften zu Papier zu bringen. Karlmann unterschreibt mit einem Kreuz, Pippin der Jüngere mit einem Vollziehungsstrich, und Karl I. kann bestenfalls nur rudimentär lesen und schreiben. Latein wandelt sich zu einer Verkündungs-, Propaganda- und Herrschaftssprache, an deren Gebrauch das Volk nicht mehr teilnimmt. Ohne Zugang zu Texten und Dokumenten, ohne gemeinsame Sprache und ohne öffentliche Schulen wird das Volk zur Spielmasse der feudaler Herrschaften. Die Kirche aber gewinnt als Herrin der lateinischen Amtssprache eine ungeheure Macht.

Über allem liegt bleiern ein düsteres Gemenge aus Diesseitsdiskriminierung, Aufruf zur Askese, Buße und Ablass. Pfarrer mahnen zur Einkehr und lösen einen Tsunami der Gefühle aus, wenn sie über Brandungen und Gezeiten sprechen, die nicht von dieser Welt sind. Ein Jüngstes Gericht, so drohen sie, werde das Weltengebäude zersplittern und ewige Strafen verhängen. Sex am Freitag könne Gott nicht leiden und Naturkatastrophen seien als Vorboten der erwarteten Apokalypse umzudeuten. Ein graues memento mori ersetzt das bunte carpe diem. Asketen sind hoch angesehen, ein Leben hinter Mauern führt zur Heiligkeit. Die Suche nach der Wahrheit, das Fragen nach dem Glück des Menschen und der Gedanke von der Freiheit als dem höchsten Ziel allen politischen Handelns sind keine Vokabeln des Mittelalters. Ohne von äußeren Kräften getrieben zu werden, versinkt eine vielfältige, beneidete Hochkultur in einem von Jenseitserzählungen geprägten monothematischen Kulturkreis, der der Religion völlig erlegen ist. Eine Riege frommer Männer wirft den nicht für Bibelexegesen und Predigten nutzbaren Großteil der antiken Kultur auf die Müllkippe. Dort rotten die Reste dahin, bis sich die Renaissance, die Wiedergeburt der Antike, an sie erinnert.

Der Abfall des Katholizismus vom Christentum

Jeder Laie kann es erkennen: Der mittelalterliche feudale, hoch angriffslustige Katholizismus hat mit dem idealistisch-utopischen Neuen Testament in Gestalt der Lukas- und Matthäus-Evangelien nichts mehr gemein. Heinrich Heine erzählt in seiner Geschichte der Religion und Philosophie, "wie das Christentum zum römischen Katholizismus geworden" sei und wiederholt damit Luthers Thesen, dass der institutionelle Katholizismus nicht das eigentliche Christentum widerspiegele. Eine Religion, schreibt Max Weber, die den Ungläubigen und Ketzern nur die Wahl zwischen Konversion und ausgerottet werden lässt und die grausamste Instrumente zur Folterung und Tötung nicht genehmer Glaubensrichtungen erfindet, kann unmöglich mit der Religion der Nächstenliebe identisch sein. Friedrich Nietzsche spricht vom Sterbebett des Christentums, das Christentum Jesu sei "unter die Mörder gefallen" und selbst theologisch argumentierende Kirchenkritiker (Erich Seeberg, Peter Meinhold, Ernst Benz) meinen einen Verfallsprozess des Christentums zu sehen. Erich Kästner schreibt, der liebe Gott sei aus der Kirche ausgetreten, und auch Goethe, wahrlich kein Atheist, drückt seine Abneigung gegenüber der Kirche und dem "Marterholz" unverblümt aus.

Deutlich und unmissverständlich wird der russische Schriftsteller Fjodor M. Dostojewski (1821–1881), der den Abstand der katholischen Kirche zum Ursprünglichen in seiner Novelle Die Brüder Karamasow beschreibt: Der Großinquisitor, oberster Glaubenshüter der Kirche, macht Jesus, der auf die Erde zurückgekehrt ist, klar, dass man ihn nicht mehr brauche: "Wir haben deine Tat verbessert, und sie auf das Wunder, auf das Geheimnis und auf die Autorität gegründet. Und die Menschen freuten sich, dass sie wieder wie eine Herde geleitet wurden. Warum bist du denn jetzt gekommen, uns zu stören? Wir sind schon seit langer Zeit nicht mehr mit dir im Bunde."

Eine Entscheidung, die die Welt bewegt

So ist der Katholizismus eine Religion sui generis, die sich unter Auslassung einer ganzen Epoche schlimmster Menschenfeindlichkeiten mit fremden Federn schmückt. Er wächst nicht aus der Gesellschaft heraus, ist kein Konstrukt seiner Zeit, sondern wird verordnet. In einer einsamen Entscheidung, an der weder der Senat noch das Volk beteiligt sind. Durch einen Erlass vom 28. Februar 380, der Europa fast 1500 Jahre lang beherrscht und dessen Wirkung bis in die Spitzen Südamerikas reicht. Ohne dieses Gesetz wäre die Geschichte anders verlaufen, nicht zwangsläufig friedlicher, aber wohl weniger erbarmungslos, ohne Kreuzzüge, die bis heute die Beziehungen zwischen Orient und Okzident auf traumatische Weise prägen, ohne Zwangstaufen und Indices verbotener Bücher, ohne Inquisition, Hexenverbrennung, Judenverfolgung, ohne Religionskriege und ohne religiös begründete Einschränkung des Wissenschaftsbetriebes.

Die Mesalliance von Staat und Kirche hat den Feudalismus befördert, in dem die weltlichen und kirchlichen Herrscher ihre Untertanen eine kleine Ewigkeit lang im Status von Halbsklaven dirigieren. Der Arme ist unterster Teil der Gesellschaftsordnung, und dort gehöre er durch Gottes Willen auch hin. Niemals in der Menschheitsgeschichte wurde eine derart niederschmetternde Inszenierung von der Verworfenheit des Menschen auf die Bühne gebracht. Niemals wurden Kleinstkindern eine nicht tilgbare Schuld für Vergehen ihrer Ur-Ahnen angelastet. Niemals in der Geschichte der Religionen wurde ein Gott gezeichnet, der eifersüchtig darauf achtet, dass man ihn tagtäglich lobt, und der in grotesker Maßlosigkeit selbst kleinste Vergehen mit ewigen Strafen vergilt. Niemals wurde eine Ethikbilanz durch Pogrome, Zwangsbekehrungen, Bücherverbote, Ketzervertreibungen, Diskriminierungen, Religionskriege, Inquisitionen und die paranoide Überzeugung, Frauen seien unter satanischer Führung darauf versessen, weitere Opfer zu umzingeln und müssten daher verbrannt werden, derart verhagelt wie im Falle der katholischen Lehre. Niemals geschah so viel Unrecht. Tausend Jahre lang. Kann man sich das überhaupt vorstellen?

Der Text erschien ursprünglich in MIZ: Materialien und Informationen zur Zeit, Ausgabe 2/18. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Alibri Verlags.