Treffen Schimpansen klüger Entscheidungen als Menschen? Diese provokante Frage stellt hpd-Autor Clemens Lintschinger. Sind einige Elemente des rationalen Denkens möglicherweise nicht erst mit unserer Spezies entstanden?
Ein Großteil der Menschen, einschließlich vieler Humanist*innen, betont die Sonderstellung des Menschen. Dieses anthropozentristische Denken dient oft als Rechtfertigung für die brutale Ausübung der Vorherrschaft über empathische und leidensfähige Lebewesen – eine Haltung, die jedoch nicht alle Humanist*innen teilen. Es ist auch sehr schwer zu verstehen: Menschen und ihre nächsten Verwandten, die der Mensch für sein Vergnügen in Gefangenschaft hält, die Schimpansen, teilen sich bis zu 99 Prozent ihrer DNA-Sequenz. Fast 100 Prozent ist eine faszinierend hohe Prozentzahl, welche die vermeintliche Einzigartigkeit des Menschen stark relativiert.
Oder vielleicht doch nicht, denn möglicherweise ist der Bauplan DNA überbewertet? Dieser Gedanke kommt mir, einem Laien in der Welt der Gene und der DNA, manchmal in den Sinn. Denn wenn man bedenkt, dass sich die DNA-Sequenz (unser ganzer Code) des Menschen von jener der Schimpansen um nur etwa 1 Prozent unterscheidet, wie ist es dann einzuschätzen, dass andererseits wir 99,9 Prozent unserer DNA-Sequenz mit allen anderen Menschen auf diesem Planeten teilen? Wir sehen unbestreitbare, riesige Unterschiede zwischen Schimpansen und uns bei nur 1 Prozent Code-Differenz – also, wie viel Erklärungs- oder Sprengkraft steckt dann in den 0,1 Prozent Variabilität zwischen zwei Menschen? Und um dem Gen-Treppenwitz die Krone aufzusetzen: Was soll man mit der Information anfangen, dass der Mensch etwa 60 Prozent seiner Gene, also mehr als die Hälfte, mit der Banane teilt?
Trotz dieser enormen genetischen Übereinstimmungen zwischen Menschen, Schimpansen und Bananen gibt es offenbar noch immer genug einzigartige Gene und wesentliche Unterschiede in der Genregulation, die entscheidend für die spezifischen biologischen und kognitiven Eigenschaften des Menschen gegenüber Schimpansen und Bananen sind. Diese führen dazu, dass nur Menschen das Werk Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant lesen können. Andererseits nur die Wenigsten (mich eingeschlossen), die Immanuel Kant lesen, verstehen ihn auch wirklich.
Der nachfolgende Beitrag ist ein weiterer Beleg dafür, dass der Mensch auch im kognitiven Bereich wieder ein Stück seiner behaupteten Sonderstellung aufgeben muss. Die Kränkung der Menschheit setzt sich fort. Es wird im Folgenden eine Studie vorgestellt, die in der renommierten Wissenschaftszeitschrift Science1 im Oktober 2025 veröffentlicht wurde und welche die kognitiven Fähigkeiten von Schimpansen beleuchtet. Doch geht es nicht um kognitive Fähigkeiten der Schimpansen im Allgemeinen, sondern um eine sehr spezielle kognitive Leistung, nämlich eine, die bis zu dieser Studie bisher nur dem Menschen zugeschrieben wurde.
Über die Revision von Überzeugungen aufgrund neuer Beweise
Die selektive Überarbeitung von Überzeugungen im Lichte neuer Beweise gilt als eines der Kennzeichen menschlicher Rationalität. Allein der Mensch sei vernünftig genug, durch Abwägen von neuen Beweisen seine Entscheidungen zu revidieren. Doch eine Forschergruppe um Hanna Schleihauf, eine Entwicklungspsychologin an der Universität Utrecht, hat herausgefunden, dass auch Schimpansen rational ihre Überzeugungen bei neuen Beweisen überdenken.
Die Forscher untersuchten, ob und wie Schimpansen ihre anfängliche Überzeugung über den Ort einer Belohnung als Reaktion auf widersprüchliche Beweise anpassen. Und sie stellten fest, dass Schimpansen auf Gegenbeweise reagieren. Sie blieben ihrer anfänglichen Überzeugung treu, wenn die Beweise für die Alternative schwächer waren, aber sie revidierten ihre anfängliche Überzeugung, wenn die unterstützenden Beweise stärker waren.
Schleihauf arbeitete in einem Schimpansenreservat für Wildwaisen in Uganda. Sie präsentierte den Affen jeweils zwei Kisten. Nur eine der Kisten enthielt Futter, aber versteckt. Die Forscher gaben den Schimpansen starke oder schwache Hinweise auf die Anwesenheit von Futter. Starke Hinweise bestanden beispielsweise darin, ihnen den Inhalt der Kiste zu zeigen, schwache Hinweise bestanden darin, die Kiste zu schütteln, sodass der Schimpanse nur hören konnte, dass sich etwas darin befand.
Der Schimpanse zeigte an, wo er das Futter versteckt vermutete. Der Forscher präsentierte daraufhin neue Hinweise auf die andere Box: Hinweise, die entweder stärker oder schwächer waren als die ursprünglichen. Schleihauf: "Wenn der erste Hinweis überzeugender war, blieben die Schimpansen tendenziell bei ihrer ersten Wahl. Doch wenn sich der erste Hinweis als schwächer erwies, änderten sie ihre Wahl. Das deutet darauf hin, dass sie verschiedene Hinweise abwogen und ihre Überzeugungen je nach Beweiskraft anpassten."2
Interessant, aber noch kein Wow-Effekt. Die Forscher gingen jedoch noch einen Schritt weiter. Sie testeten, ob Schimpansen sich der Gründe für ihre Überzeugungen bewusst sind. Sie wollten herausfinden, ob Schimpansen ihre Meinung ändern können, wenn sie feststellen, dass ein Beweisstück, auf dem ihre Überzeugung beruhte, sich als ungültig erweist. Beispielsweise zeigten sie Schimpansen, dass das Futter in der Box kein echtes Futter, sondern nur ein Bild war. Auf diese Weise machten sie den Affen deutlich, dass ein Beweisstück ungültig sein kann. Und die klugen Tiere verstanden, dass sie in die Irre geführt worden waren und dass der ursprüngliche Beweis nicht mehr gültig war. Und hier haben wir den Wow-Effekt, denn was die Forscher hier aufzeigen, ist die Fähigkeit zur Metakognition, also zum Denken über das eigene Denken.
Fazit
Die Studie hat ergeben, dass Schimpansen vernunftbegabte Wesen sind, die weder stur an einmal getroffenen Überzeugungen festhalten noch diese blindlings ändern, sondern dies erst dann tun, nachdem sie die Stärke oder Schwäche neuer Beweise abgewogen haben. Schimpansen bewerten widersprüchliche Beweise innerhalb eines metakognitiven Prozesses.
Wenn sich diese Studien reproduzieren lassen, dann ist die These bekräftigt, dass rationales, abwägendes, Beweise gewichtendes Denken kein Alleinstellungsmerkmal des Menschen ist. Der Kern des Befundes ist, dass die Schimpansen metakognitiv handeln. Sie wogen nicht nur die neuen Informationen ab, sondern bewerteten auch die Zuverlässigkeit der ursprünglichen Informationsquelle. Nur der Mensch war bisher in der Lage, so reflektiert vorzugehen, indem er fragt: "Wie sicher bin ich mir überhaupt, dass meine bisherige Information stimmt?" Die Schimpansen können diese Frage offenbar auch beantworten.
Mehr noch: Schimpansen handeln zuweilen klüger als Menschen, die an religiösen oder emotionalen Überzeugungen festhalten, auch wenn starke Beweise dagegen sprechen. Man denke nur an Kreationisten, die wegen der Bibel unbedingt daran glauben wollen, dass ein Mann namens Noah mit Dinosauriern in der Arche saß und Gott bloß falsche Fossilien von Dinosauriern legte, um Wissenschaftler zu verwirren. Einem Schimpansen kann so ein Unsinn nicht einfallen, dieser geht reflektierend vor und passt seine Überzeugung an Beweise an.
Der letzte Absatz dient nicht zur Polemik gegen Ultra-Religiöse. Es verhält sich wirklich so, dass Schimpansen klüger als Menschen entscheiden können. Die Forscher haben das Verhalten der Schimpansen nämlich nicht nur beobachtet, sondern auch mathematisch modelliert. Dabei zeigte sich: Die Entscheidungen der Schimpansen folgten einem Bayesianischen Modell der rationalen Überzeugungsrevision. Das bedeutet, sie verhielten sich im Prinzip wie statistisch perfekte Bayesianische Ideal-Beobachter.3 Die Affen bewerteten die Beweise also nicht nur, sondern taten dies nach den strengsten Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Vereinfacht gesagt: Die Schimpansen verhielten sich optimal vernünftig, während sie die Stärke der Beweise beurteilten. Eine Leistung, die Menschen im Alltag schwerfällt.
Die bahnbrechende Forschung der Utrechter Wissenschaftlerin lässt aber auch den Schluss vermuten, dass einige Elemente des rationalen Denkens möglicherweise nicht erst mit unserer Spezies entstanden sind.
Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Blog des Autors.
1 Chimpanzees rationally revise their beliefs. Hanna Schleihauf et al., Science 390, 521 (2025). DOI: 10.1126/science.adq5229.
2 Entnommen von der Website der Utrecht Universität. Link: https://www.uu.nl/en/news/not-only-humans-but-chimpanzees-too-are-rational. Abgerufen am 25.11.2025.
3 Der "Bayesianische Ideal-Beobachter" (BIO) ist ein mathematisches Modell für optimale Rationalität. Es nutzt die Bayes-Statistik, um neue Beweise optimal mit vorhandenem Wissen abzuwägen. Die Studie zeigte, dass die Schimpansen ihre Überzeugungen nach denselben rationalen und statistisch stringenten Regeln revidierten wie dieses theoretisch perfekte Denkmodell.






