Das Symposium Kortizes 2020

Wo sitzt der Geist?

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Hier das Gehirn, dort der Geist: Die meisten Menschen im Westen glauben, dass hinter Erleben und Empfinden mehr stecken muss als die grauen Masse in unserem Schädel. Dennoch: "Wenn man nicht weiß, wie man seine Kinder erziehen soll oder ob ein Straftäter ins Gefängnis gehört, fragt man einen Hirnforscher." Einen wie Prof. Dr. John-Dylan Haynes , den Eröffnungsredner des diesjährigen Symposiums Kortizes. Die Kolleginnen und Kollegen aus seinem Fach sehen sich ebenso wie die Forschenden in benachbarten Disziplinen von der Öffentlichkeit mit hohen Erwartungen und ebenso großen Sorgen konfrontiert.

Hirnscans machen die Arbeit unseres Denkorgans sichtbar. Wir beobachten, welche Areale bei bestimmten Reizen und Emotionen aktiv sind. Doch wissen wir auch, wo das beheimatet ist, was wir "Geist" nennen? Was ist das überhaupt, dieser Geist, und finden wir ihn tatsächlich unter der Schädeldecke oder vielleicht anderswo? Solche Fragen rühren an die Grenzen des menschlichen Selbstverständnisses, und sie beschäftigen die Forschung bis heute, wie die zwölf Referierenden eindrucksvoll verdeutlichten. Es liegt in der Natur der Sache, dass die 220 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des virtuellen Symposiums eher Denkanstöße und Ausblicke mitnahmen als endgültige Antworten.

Die Schwierigkeiten verdeutlichte Haynes am Beispiel von Hirnscans, die Aktivitätsmuster im Gehirn abbilden. Könnten wir daraus die Absichten einer Person ablesen, hätten wir beispielsweise einen Kanal zur Kommunikation mit Wachkomapatientinnen und -patienten eröffnet, und Forensiker wüssten sofort, ob ein Verdächtiger bei der Vernehmung lügt. Doch so weit seien wir längst noch nicht.

Das hat vielfältige Gründe. Zwar wissen wir heute, wie das Gehirn aufgrund von Vorerfahrungen Erwartungen generiert und Vorhersagefehler nutzt, um zukünftig realistischere Erfahrungen zu bilden (Prof. Lars Muckli). Doch vieles ist uns noch unbekannt, wie der Hirnforscher Prof. Dr. Wolf Singer erläuterte.

Noch ist die räumliche Darstellung der Hirnscans zu grob, außerdem haben wir den "Code" der Hirnerregungen längst noch nicht geknackt. Erst allmählich eröffnen uns innovative Analysen Connectomics – genauere Einblicke in die Netzwerke des Gehirns (Hirnforscher Prof. Moritz Helmstaedter). Außerdem sind unsere Gehirne so verschieden wie die individuellen Erfahrungen. Ein einfaches Beispiel: Beim Begriff "Hund" denken manche an einen treuen Gefährten, andere an einen gefährlicher Beißer. Dementsprechend unterscheiden sich die Aktivitätsmuster im Gehirn.

Hinzukommt, dass Denken, Handeln und Selbsterleben nicht ausschließlich im Gehirn entstehen. Der "Geist" hat seinen Sitz nicht an einem neuronalen Ort, sondern bildet sich dort, wo Menschen miteinander kommunizieren und handeln, erklärte dazu der Psychotherapeut und Neurowissenschaftler Prof. Joachim Bauer. Ein neuer Ansatz, die These des erweiterten Geistes (TEG) geht sogar davon aus, dass sich der Geist über die soziale Umwelt, also unsere Mitmenschen, und auf semantisch aufgeladene, erinnerungsträchtige Gegenstände erstreckt, wie der führende Vertreter dieser These in Deutschland, der Philosoph Prof. Holger Lyre erläuterte.

Während die TEG für heftige Debatten in der Fachwelt sorgt und sich Philosophinnen und Philosophen wie Prof. Achim Stephan und Prof. Beate Krickel um begriffliche Klärung bemühen, stützen immer mehr aktuelle Forschungen die Annahme, dass eine Trennung von Leib und Seele unsinnig ist. Nachdem sich die Psychologie in den letzten Jahrzehnten vermehrt dem Thema des Emotionalen zuwandte, förderte sie vielfältige Wechselwirkungen mit Kognition und Körperbewegungen zutage. Das ist etwa bei Testpersonen der Fall, die einen unterhaltsamen Trickfilm anschauten. Wie der Psychologe Prof. Claus-Christian Carbon berichtete, machten er und sein Team die folgende Feststellung: Hielten die Probandinnen und Probanden dabei einen Stift zwischen den Zähnen und spannten damit die Gesichtsmuskeln ähnlich an wie beim Lachen, fanden sie den Film lustiger als andere Personen, die beim Anschauen desselben Clips den Stift zwischen den Lippen hielten, sodass sie ihre Gesichtsmuskulatur ähnlich bewegten wie bei emotionaler Anspannung.

Untersuchungen an Patientinnen und Patienten mit Phantomschmerz zeigen eine weitere Facette der engen Verbindung zwischen Körper und Selbst-Erleben. Die Betroffenen klagen über Beschwerden in amputierten, objektiv nicht mehr vorhandenen Körpergliedern, jedoch können Trainings mit Spiegeln und im virtuellen Raum diese Leiden abmildern (Neuropsychologin Prof. Herta Flor). Virtuelle Tricks erzeugen sogar die Illusion, sich in einem fremden Körper zu befinden, wie Prof. Bigna Lenggenhager anhand eindrucksvoller Experimente erläuterte. Der Effekt stellt sich immer dann ein, wenn die Versuchsperson einen Körper sieht, der synchron mit dem eigenen stimuliert wird, so die Neurowissenschaftlerin. Bekannt ist auch die Gummihand-Illusion, bei der die Probandinnen und Probanden eine Attrappe für die eigene Hand halten. Das funktioniert auch, wenn die Hand eine andere Hautfarbe hat. Lenggenhager berichtet sogar von Studien, in denen Weiße nach einer solchen Erfahrung weniger Vorurteile gegenüber Schwarzen Menschen zeigen. Andere Experimente vermitteln den Eindruck, ein Mensch befinde sich außerhalb des eigenen Körpers – anschließend berichteten Probandinnen und Probanden, dass ihre Angst vor dem Tod abgenommen habe. Gewiss, viele dieser Studien sind noch nicht repliziert, die zugrunde liegenden neuronalen Prozesse teils noch unklar. Dennoch weist alles darauf hin, dass sensomotorische Prozesse eng mit dem subjektivem Körpererleben und kognitiven Prozessen verbunden sind und dass sich das Körpererleben verändern kann.

Kurzfristig verändertes Körpererleben lässt sich auch praktisch nutzen, so Lenggenhager weiter. In einem sogenannte Altersanzug mit eingeschränkten Wahrnehmungs- und Bewegungsmöglichkeiten können jüngere Menschen das Körpergefühl von Älteren nachvollziehen, und beispielsweise Seniorenheime bewohnergerechter gestalten.

Neue Wege bei der Unterstützung von Menschen mit Beeinträchtigung könnte in Zukunft das "Gedankenlesen" eröffnen, indem man etwa die neuronalen Aktivitäten von gelähmten Patienten ausliest, die zu sich selbst gesprochene Sätze formulieren. Bislang verfügen wir jedoch über keine nicht-invasiven Methoden dafür. Und selbst wenn wir sie hätten, brächte eine solche Technik erheblichen ethischen und juristischen Klärungsbedarf mit sich.

Letzterer gehört zum Fachgebiet der Strafrechtlerin Prof. Grischa Merkel. Sie wies darauf hin, dass die mentale Integrität in der EU-Grundrechtecharta festgeschrieben ist. Erzwungene Eingriffe in den Körper und damit ins Gehirn sind demnach grundsätzlich strafbewehrt, selbst EEGs unterliegen im Rahmen der Forschung bestimmten Reglementierungen.

Wenn wir eines Tages einer ausgereiften Technik gegenüberstehen, werden wir um ethische Fragen nicht herumkommen. Vielleicht können wir in Zukunft einmal zweifelsfrei vorhersagen, dass jemand bald einen Mord begeht. Droht uns dann ein Gesinnungsstrafrecht, wie im SciFi-Streifen "Minority Report"? Ist eine Bestrafung von "Gedankenverbrechen" überhaupt ethisch vertretbar?

Selbst, wenn einmal alle juristischen Fragen geklärt sein sollten, wird vieles noch offen bleiben, so Merkel in ihrem Ausblick. Kriminalität sei als soziales Konstrukt nicht im Gehirn erkennbar, ebenso wenig wie Intentionen und Motive. Angesichts dieser vielfältigen Herausforderungen wäre es wünschenswert, wenn der Appell von John-Dylan Haynes auf offene Ohren trifft: "Wir sollten uns schon jetzt auf die ethischen Probleme vorbereiten, auch wenn sie noch nicht aktuell sind."

Das Symposium Kortizes 2021 steht unter dem Motto "Zeit · Geist · Gehirn: Neurowissenschaft und Zeiterleben". Ort: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Termin voraussichtlich 1.–3. Oktober 2021.