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Das Symposium Kortizes 2024 beleuchtet Gehirn, Psyche und die Leistungen des Unbewussten

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Wir Menschen halten unsere Wahrnehmungen und Handlungen gern für durchweg bewusst und überlegt. Doch die Forschung der letzten Jahrzehnte hat diesen angenehmen Glauben gehörig ins Wanken gebracht. Wie wir heute wissen, sind unsere geistigen Leistungen eng mit unbewussten Prozessen verwoben. Diese Erkenntnisse haben weitreichende Auswirkungen auf unser Selbstverständnis und stellen althergebrachte Vorstellungen von Autonomie und Willensfreiheit infrage. In Neurowissenschaften, Psychologie und Philosophie sind sie Gegenstand lebhafter Debatten. Genau diesen spannenden Themen widmet sich das "Symposium Kortizes", das vom 4. bis 6. Oktober im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg stattfindet. "Im Keller des Geistes", unter diesem Titel erkundet die populärwissenschaftliche Wochenendveranstaltung das Zusammenspiel von Gehirn, Psyche und dem Unbewussten. Wie bereits in den Vorjahren konnten die Veranstalter auch diesmal eine Reihe von hochkarätigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für Vorträge gewinnen.

Freitag, 4. Oktober

In welchem Maße unbewusste Prozesse unser Erleben beeinflussen, zeigt das Beispiel Erinnerungen: Unser Gehirn speichert Erlebtes nicht wie eine Kamera, die alles objektiv aufzeichnet. Stattdessen ordnet und strukturiert es die Erinnerungen so, dass wir sie zur Vorhersage künftiger Ereignisse nutzbar machen können. Mit diesen Prozessen befasst sich Prof. Dr. Christian F. Doeller, Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft, Direktor am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und Honorarprofessor für kognitive Neurowissenschaften des Lernens und des Gedächtnisses an der Technischen Universität (TU) Dresden. Überraschenderweise zeigt seine Forschung, dass das Erinnern an Vergangenes und das Planen der Zukunft in derselben Hirnstruktur stattfinden, im Hippocampus. Wie diese Mechanismen im Gehirn unser Denken und Handeln steuern, erläutert Doeller in seinem Einführungsvortrag am Freitag.

Samstag, 5. Oktober

Nach diesem umfassenden Überblick über das breite Themenfeld geht es mit den Vorträgen am Samstag ins Detail. Den Anfang macht der prominente Psychologe und Hirnforscher Prof. Dr. John-Dylan Haynes, Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging (BCAN) und Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience (BCCN) der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Seine wegweisenden Experimente zur Willensfreiheit zeigen, dass Entscheidungsprozesse bereits im Gehirn vorbereitet werden, ehe sie uns bewusst werden. Dennoch hatten die Probanden auch zu einem späteren Zeitpunkt noch die Möglichkeit zur Umentscheidung – ein Befund, der das herkömmliche Verständnis von Willensfreiheit im neuen Licht erscheinen lässt.

Einen weiteren Aspekt betrachtet Prof. Dr. Gesa Hartwigsen, Professorin für kognitive einschließlich biologische Psychologie am Wilhelm-Wundt-Institut für Psychologie der Universität Leipzig und Leiterin der Forschungsgruppe Kognition und Plastizität am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Sie erforscht die unbewussten Mechanismen und Anpassungsleistungen in der sprachlichen Kommunikation. Ein weithin beachtetes Ergebnis ist die bislang größte Metaanalyse zur Sprachverarbeitung im Gehirn, die Hartwigsen gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern publiziert hat.

Mit einer anderen Form unbewusster Hirnaktivität befasst sich Prof. Dr. Uwe Mattler von der Georg-August-Universität Göttingen. Der Experimentalpsychologe untersucht, wie unser visuelles System unbewusst Reize wahrnimmt und bewusste Wahrnehmung moduliert. Einen wegweisenden Versuch erläutert er in seinem Vortrag: Den Versuchspersonen wurde auf dem Bildschirm ein geschlossener Ring gezeigt, der durch schnelle Drehung einer Reihe von Punkten entstand. Obwohl die Probanden nicht in der Lage waren, die Drehrichtung bewusst zu erkennen, erfasste ihr Sehsystem diese unbewusst. Diese Erkenntnis verdeutlicht, dass unser Gehirn auch Informationen verarbeitet, die dem bewussten Erleben entgehen.

Wie vielfältig unbewusste Wahrnehmungen unser Leben beeinflussen, zeigen auch die beiden folgenden Vorträge. So gewährt die Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. Jessica Freiherr von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Einblicke in ihr Forschungsgebiet, die physiologischen und neurowissenschaftlichen Grundlagen des Geruchssinns. Zudem gibt Prof. Dr. Ulrich Ansorge, Sehforscher von der Universität Wien, Einsichten in die Arbeitsteilung zwischen Bewusstsein und Unbewusstem. Ergänzend dazu erörtert Prof. Dr. Natalia Zaretskaya, Assistenzprofessorin für Visuelle Neurowissenschaften an der Universität Graz, welche Methoden in der Forschung angewandt werden, um das Zusammenspiel von Sinneswahrnehmung, Vorwissen und Erwartungen zu untersuchen.

Die Abrundung des facettenreichen Veranstaltungstages bilden zwei Beiträge aus philosophischer Perspektive: Prof. Dr. Katja Crone von der TU Dortmund spricht über die Grundlagen unseres Selbstverständnisses als Personen und über die Rolle, die unsere Erzählungen über uns selbst dabei spielen. Die Verbindung des subjektiven Erlebens von Freude, Trauer oder Schmerz mit objektiven Erkenntnissen über die elektrochemische Aktivität von Nervenzellen steht im Mittelpunkt des Vortrags von Prof. Dr. Michael Pauen von der Berliner Humboldt-Universität.

Sonntag, 6. Oktober

Den abschließenden Tag des Symposiums eröffnet Prof. Dr. Jan Born mit einer Betrachtung über das "Lernen im Schlaf". Was fast zu schön klingt, um wahr zu sein, funktioniert wirklich, so der Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie an der Universität Tübingen. Gelerntes Wissen bleibt besser im Gedächtnis, wenn wir danach ausreichend schlafen, erklärte Born bereits im Wissenschaftspodcast "Synapsen" von NDR Info.

In der breiten Öffentlichkeit wird der Begriff des Unbewussten oft mit Sigmund Freud in Verbindung gebracht. Der Pionier der Psychoanalyse ging davon aus, dass grundlegende psychische Prozesse, die auf bewusster Ebene irrational erscheinen, durch das Unbewusste gesteuert werden. Auch wenn Freuds Thesen bis heute Gegenstand engagierter Debatten sind, bieten sie dennoch wertvolle Ansätze zum Verständnis der Psyche, so Prof. Dr. Tamara Fischmann von der Internationalen Psychoanalytischen Universität (IPU) Berlin. In ihrem Vortrag erläutert sie, inwiefern neuropsychoanalytische Ansätze Freuds Theorien sinnvoll ergänzen und zu einem tieferen Verständnis der Psyche beitragen können.

Mit dem komplexen Zusammenspiel von Selbstkontrolle und unbewusster Handlungssteuerung befasst sich Prof. Dr. Thomas Goschke, Professor für Allgemeine Psychologie und Sprecher des Sonderforschungsbereichs "Volition und kognitive Kontrolle" an der TU Dresden. Einen Einblick in sein Themengebiet lieferte der Psychologe bereits in der 3sat-Dokumentation "Superkraft Motivation". Darin betrachtet er aus neurologischer Sicht, welches Ringen sich zwischen dem Überwachungs- und dem Kontrollsystem im Gehirn abspielt – etwa, wenn wir uns eigentlich gesund ernähren wollen, aber der Versuchung nachgeben und Fast Food kaufen. In seinem Symposiums-Beitrag diskutiert Goschke aktuelle Forschungserkenntnisse aus der Psychologie und den Neurowissenschaften. Dabei beleuchtet er auch die weitreichenden Implikationen für unser Verständnis von individueller Schuld und Verantwortung: Wie viel Kontrolle haben wir wirklich über unser Handeln, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für unser moralisches und rechtliches Verständnis von Verantwortung?

Sein Beitrag führt direkt zur abschließenden Podiumsdiskussion, in der er gemeinsam mit anderen namhaften Referentinnen und Referenten – Tamara Fischmann, John-Dylan Haynes und Michael Pauen – über die Grenzen des Bewusstseins und das wissenschaftliche Menschenbild diskutiert. Die Moderation übernimmt Helmut Fink.

Symposium Kortizes 2024

"Im Keller des Geistes – Gehirn, Psyche und die Leistungen des Unbewussten"

4. – 6. Oktober, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Aufseß-Saal

Programm

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Ticket (Livestream)

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