Das Symposium Kortizes 2022

"Gehirne zwischen Genie und Wahnsinn"

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Auch das gehört zum Symposium Kortizes: Gespräche bei Wein und Musik von Claus Gebert.

Allgegenwärtig sind die Versuche, ungewöhliche Geistesleistungen als "kreativ" oder "krank" einzuordnen – manchmal auch beides. Vincent van Gogh wird als genialer Künstler hoch geschätzt. In einer Studie sprachen Versuchspersonen seinem Gemälde "Sonnenblumen" eine besonders hohe künstlerische Qualität zu, wenn man ihnen mitteilte, dass sich der Künstler infolge einer psychischen Erkrankung selbst ein Ohrläppchen abgeschnitten hatte. Genie und Wahnsinn liegen eben eng beisammen, heißt es. Nicht von ungefähr griff der Titel des diesjährigen Symposiums Kortizes dieses geflügelte Wort auf. Die Veranstaltung, die fünfte ihrer Art, versammelte am vergangenen Wochenende (7. bis 9. Oktober) rund 250 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Nürnberg.

Erster Tag: Freitag, 7. Oktober

Welche Kriterien markieren den Übergang von Begabung und Kreativität zum Pathologischen? Was bedeutet dies für den Umgang mit Phänomenen wie Autismus oder Hochbegabung in der Gesellschaft? Können wir unsere Geistesleistung durch Drogen oder Hirnstimulation optimieren – und sollten wir das überhaupt? Dies sind nur einige Fragen, die Mitorganisator Dr. Rainer Rosenzweig zur Einleitung anschnitt.

Künstlerinnen und Künstler mit psychischen Auffälligkeiten stehen häufig im Lichte der Öffentlichkeit. Man denke an den Maler Vincent van Gogh oder die zeitgenössische Installationskünstlerin Yayoi Kusama, die in einer psychiatrischen Klinik lebt. Möglicherweise habe dieser Umstand zu ihrem Erfolg beigetragen, so Prof. Dr. Johannes Kornhuber, Leiter der Psychiatrischen und Psychotherapeutischen Universitätsklinik Erlangen, in seinem Eröffnungsvortrag am Freitagabend. Denn künstlerische Schaffenskraft und psychische Erkrankung sind laut einer verbreiteten Vorstellung eng miteinander verbunden.

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Prof. Dr. Hendrik Walter: "Leichte Formen psychischer Krankheit können erwünscht sein."
(Foto: © Karin Becker)

Zweiter Tag: Samstag, 8. Oktober

Doch was ist mit Merkmalen wie Autismus, der teilweise besondere Fähigkeiten, aber auch Bedürfnisse mit sich bringt? Diesem viel beachteten Thema widmeten sich zwei Referentinnen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Den Anfang machte zu Beginn des zweiten Symposiumstages Hannelore Ehrenreich, Professorin für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Göttingen, die am Mausmodell Grundlagenforschung betreibt, um neue Behandlungsmethoden bei Autismus zu explorieren. Anhand von Beispielen schilderte sie, wie sich genetische Merkmale und Symptome bei Menschen und Nagern gleichen. Die Tiere zeigen geringeres Interesse für ihre Artgenossen und kommunizieren weniger, einige wippen ständig auf und ab.

Bei Mäusen wie beim Menschen treten autistische Züge als Verhaltenskontinuum auf, weshalb man auch von einer Autismus-Spektrum-Störung spricht. Die Schwelle zur klinischen Diagnose beim Menschen variiert je nach kulturellem Umfeld. Mitunter würden sich leichte autistische Merkmale sogar als vorteilhaft erweisen, betonte Ehrenreich. So könnten einige Betroffene sich besonders gut auf Aufgaben fokussieren.

Eine wertvolle zweite Perspektive steuerte die Ärztin und Psychotherapeutin Dr. Christine Preißmann bei, die sowohl die therapeutische Seite als auch das Leben als Betroffene von Asperger-Autismus aus eigener Anschauung kennt. Dieses unterscheide sich meist erheblich von den Storys in verbreiteten Magazinen. "Medienwirksame Beschreibungen skurriler Eigenarten oder extremer isolierter Begabungen zeigen oft nicht die wirkliche Realität dessen, was das Leben mit Autismus bedeutet", kritisierte sie. Deshalb sei ihr neben der Information über das Syndrom auch die Unterstützung von Menschen mit Autismus ein Anliegen. So bedeuteten unvorhergesehene Veränderungen im Schul- und Berufsalltag für viele Autisten Stress und Angst. Abhilfe schaffe das Entwickeln eigener Routinen und Rituale, doch auch seitens der Schulen sei hier Initiative gefragt, etwa indem Veränderungen frühzeitig angekündigt und Rückzugsräume zur Verfügung gestellt werden, so Preißmann.

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Dr. Christine Preißmann, Ärztin und Psychotherapeutin sowie Betroffene von Asperger-Autismus.
(Foto: © Karin Becker)

Weitere Beiträge des Tages befassten sich mit unterschiedlichen Themen: Prof. Andreas Draguhn, Neurowissenschaftler an der Universität Heidelberg, betrachtete die Entwicklung der Kreativität aus stammesgeschichtlicher Perspektive. Demnach habe sich das Gehirn bei frühen Tierformen entwickelt, die weder auf dem Meeresgrund festsaßen noch in der Strömung schwebten, sondern mit Hilfe dieses Organs eigenständige Bewegungen koordinierten. Auch bei uns Menschen werden Hirnareale für Bewegung aktiv, wenn wir uns einen Bewegungsablauf nur vorstellen.

Mit dem Zusammenhang von Persönlichkeitsentwicklung und schulischem beziehungsweise beruflichem Erfolg hat sich die Psychologin Prof. Dr. Ilka Wolter von der Otto-Friedrich-Universität Bamberg beschäftigt. In ihrem Vortrag wies sie auf Studien hin, die das bekannte Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit "Big Five" zugrundelegten. So wirkt sich das Merkmal "Offenheit" für neue Erfahrungen positiv auf Erfolg in Schule und Beruf aus. Extrovertierte Personen tendieren zu schlechteren Schulnoten, sind jedoch später beruflich erfolgreicher. Neurotizismus beeinflusst beide Bereiche negativ; während verträgliche Menschen in der Schule gut abschneiden, aber im Beruf nur selten zu hohem Status und Einkommen gelangen.

Als kulturhistorischer Aspekt war der Beitrag von Dr. Julia B. Köhne (Humboldt-Universität Berlin) zu verstehen, die zum Geniekult in den Geisteswissenschaften um 1900 forscht. Unter einem Genie verstand man damals in der Regel einen – in der Regel bereits verstorbenen – Mann, der als Hervorbringer von Wissen und Erkenntnis aus der Masse hervorstach, aber gleichzeitig an physischen und mentalen Gebrechen litt.

Männlich und weiß, christlich, kränklich und doch wegweisend, so stellte man sich zeitweise im deutschen Raum ein Genie vor. Es fällt auf, dass hier der Ruhm – anders als in der angelsächsischen Tradition – kein Merkmal des Genies ist. Darauf machte der Düsseldorfer Philosoph Prof. Dr. Gottfried Vosgerau aufmerksam. Einig seien sich die verschiedenen Genie-Entwürfe jedoch darin, dass Genialität aus der Norm fällt. "Nach einer gängigen Vorstellung sind Krankheiten Abweichungen von einer Norm. Versteht man diese Norm als rein statistische Norm, müssten Genies und Wahnsinnige gleichermaßen krank sein", fasste Vosgerau zusammen. Dennoch würden Normabweichungen je nach kulturellem Kontext positiv (als Gabe) oder negativ (als Störung) gewertet. Abschließend plädierte der Philosoph dafür, den Krankheitsbegriff mehrdimensional zu denken.

Den komplexen und vieldimensionalen Charakter der Kreativität unterstrich der letzte Redner des Tages, Prof. Dr. Henrik Walter von der Berliner Charité. "Die Grenzen zwischen Krankheit, Normalität und Kreativität sind breit und unscharf", resümierte der Psychiater, Psychotherapeut und Hirnforscher. Während schwere psychische Erkrankungen die Kreativität in der Regel behinderten, könnten sich weniger gravierende Persönlichkeitsvarianten und -störungen in besonderen Situationen vorteilhaft auswirken und zu kreativer Produktivität führen. Dies gelte etwa für das Persönlichkeitsmerkmal "Offenheit für Erfahrungen", ebenso für Narzissmus sowie histrionische und psychopathische Persönlichkeiten. Auch Depressionen und bipolare Störungen träten oft gemeinsam mit Kreativität auf.

Psychische Erkrankung oder skurrile Persönlichkeit? Diese Frage wird seit einiger Zeit auch in der Debatte über Verschwörungstheorien und ihre Anhänger diskutiert – ein weiterer Punkt, dem sich Walter in seinem Vortrag widmete. Tatsächlich spricht die Forschung von einer "Verschwörungsmentalität", also der individuellen Tendenz, die Welt als Ort voller Verschwörungen wahrzunehmen. Trotzdem verneint Walter die verbreitete Vermutung, dass alle Verschwörungsgläubigen krank seien, und verwies dazu auf eine Übersichtsstudie von Robert Imhoff und Pia Lamberty. Demnach zeichnen sich Verschwörungsüberzeugungen durch einen politischen Charakter aus und die imaginierten Verschwörer sind deutlicher umrissen. Paranoide Personen dagegen sehen vornehmlich sich selbst als Ziel der Verfolgung – durch jede und jeden.

Dritter Tag: Sonntag, 9. Oktober

Der Abschlusstag vermittelte weitere aufschlussreiche Aspekte der Wechselwirkungen von Begabung, Kreativität und Therapie. Wie eigene künstlerische Tätigkeit das Befinden von Schlaganfallpatienten verbessert, erläuterte zu Beginn Prof. Dr. Christian Maihöfner, Chefarzt der Neurologischen Klinik am Klinikum Fürth. Dabei habe sich gezeigt, das kreatives Schaffen das Belohnungszentrum im Gehirn erheblich stärker aktiviere als das bloße Anschauen von Kunst. Positive Effekte verzeichnete Maihöfner auch auf das Depressions- und Angsterleben.

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Podiumsdiskussion mit Pof. Dr. Aljoscha Neubauer, Prof. Dr. Ilka Wolter, Helmut Fink und Prof. Dr. Dr. Henrik Walter (v. l.).
(Foto: © Karin Becker)

Einen Höhepunkt des Symposiums bildete die Podiumsdiskussion, moderiert von Helmut Fink, der die Gesamtveranstaltung auch mitorganisiert hatte. Am Mikrofon war neben Henrik Walter auch Prof. Dr. Ilka Wolter, die bereits am Vortag einen Überblick über die Aussagekraft von Persönlichkeitstests über den Bildungserfolg beigetragen hatte. Der dritte Teilnehmer, Aljoscha Neubauer, Professor für Differentielle Psychologie an der Uni Graz, hatte zuvor im Vortrag einen Überblick über die Möglichkeiten und Grenzen des Neuro-Enhancements vermittelt. Ziel solcher Interventionen ist meist eine Intelligenzsteigerung, den Nutzen bezeichnete Neubauer jedoch als "bestenfalls moderat". Alle Teilnehmenden unterstrichen auch einen zweiten Kritikpunkt, nämlich das Missverhältnis zwischen der kostspieligen Forschung zur künstlicher Intelligenzsteigerung und der mangelhaften Förderung von natürlich Hochbegabten in der Schule.

Die wirklichen Potenziale einer neurowissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Gehirn verortete Ilka Wolter auf dem Gebiet der Diagnostik, wo sie ergänzend zu Verfahren der klassischen Psychologie angewandt werden könne. Beides trage gemeinsam dazu bei, den Zusammenhang von Hirnfunktion und Kompetenzen zu verstehen.

Und die Neuro-Enhancer? Sie seien nicht nur ineffizient, einige Methoden brächten auch Gefahren irreversibler Schädigungen mit sich, warnte Neubauer. Gelassener beurteilte Henrik Walter die Situation. Er plädierte dafür, die Betrachtungsperspektive umzukehren und sich auf die Abwägung von Chancen und Risiken zu fokussieren, ähnlich wie bei der Debatte um die therapeutische Anwendung von illegalen Drogen. Leitgedanke müsse sein, "das Gute zu fördern, das Schlechte zu verhindern".

Einig waren sich die Diskutierenden indes darin, dass wir alle unsere natürliche Intelligenz pflegen und fördern sollten. Ilka Wolter betonte, dass sich geringere Begabung durch Lernen kompensieren lasse. Das Ziel sei jedem und jeder selbst überlassen – sich auf ein Gebiet zu fokussieren oder unterschiedliche Interessen abzudecken. Aljoscha Neubauer riet, jungen Menschen vieles anzubieten und auszutesten, in welchen Bereichen Begabung vorliege. "Je mehr Wissen, Bildung, Expertise ich habe, desto kreativer kann ich sein." Auf einen weiteren Aspekt wies Henrik Walter hin: "Wir brauchen Struktur, damit wir nicht ständig Entscheidungen treffen müssen. Und auch etwas, was uns Spaß macht."

Das Thema für das Symposium im nächsten Jahr steht bereits fest: "Naturgewalt und Geisteskraft – Menschwerdung in der Evolution".

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